Kapitel 8
»Mach dir nicht so viel Sorgen, Kleines.« Anne legte ihren Arm um Amandas Schultern und drückte sie an sich. »Ernie ist wie der sprichwörtliche schlechte Penny – der taucht immer wieder auf.«
Sie bemühte sich, ihre Stimme tröstlich klingen zu lassen. Doch ihr Magen fühlte sich flau an, und sie musste Amanda recht geben – das hier war beunruhigend.
Nach dem Tee mit Amanda im Büro hatte Anne noch schnell Lachie angerufen und ihn gebeten, sich um ein Diensthandy für ihre neue Ermittlerin zu kümmern, bevor sie mit ihrem Kleinwagen hierher zu Ernies Reihenhaus in Portobello aufgebrochen waren. Auf ihr Klingeln hatte sich nichts geregt, doch glücklicherweise besaß Amanda ja die Ersatzschlüssel ihres Onkels.
Sie hatten alles sehr ordentlich vorgefunden, der Müll war geleert, das Geschirr bis auf einen Kaffeebecher im Becken gespült und auf ein Trockengestell gestülpt. Die Steckdosen waren überall ausgeschaltet, das Haus wirkte, als hätte Ernie es durchaus freiwillig und vorbereitet verlassen. Einen großen Koffer entdeckten sie in der Nische neben seinem Kleiderschrank, was eher dafür sprach, dass er keine lange Reise geplant hatte. Oder hatte er einen zweiten großen Koffer? Amanda wusste nichts davon, aber ganz ausschließen konnten sie das nicht.
Was Anne aber letztlich in Unruhe versetzte, war der Zustand von Ernies Zimmerpflanzen. Seine geliebten Orchideen oben im Schlafzimmer schienen noch ganz okay, aber hier im Wohnzimmer ließen die Pflanzen völlig schlapp die Köpfe hängen. Hätte der leidenschaftliche Pflanzenliebhaber nicht Amanda angerufen und sie wie sonst oft zum Blumengießen geschickt, wenn sein Trip aus unvorhergesehenen Gründen länger dauerte?
»Come on, Sweetie, wir wässern jetzt erst mal das Grünzeug.« Anne erhob sich und ging in die Küche, wo sie neben den Töpfen mit schlapp herunterhängenden Kräutern auf der Fensterbank die Gießkanne gesehen hatte. Sie füllte Wasser hinein und begann, Basilikum, Minze und Petersilie zu gießen.
Amanda war ihr nicht gefolgt, sie saß wohl noch auf Ernies Sofa und rang die Hände. Die Kleine neigte ein wenig zur Melodramatik. War sicher nicht immer einfach für Craig, der mit den Beinen fest auf der Erde stand. Waren am Ende Amandas theatralische Gefühlsausbrüche ein Grund für ihn, sich anderweitig umzusehen? Aber das war hier und jetzt nicht das Thema, wies Anne sich zurecht.
Was war zu tun? Während sie von Zimmer zu Zimmer ging, um Ernies Unmenge an schlappem Grün hoffentlich wieder zu Saft und Kraft zu verhelfen, rasten ihre Gedanken hin und her. Wie ging man in diesem Fall vor? Bisher hatte MWS Investigators in der kurzen Zeit unter ihrer Leitung keinen Vermisstenfall gelöst, ja, noch nicht einmal einen solchen Auftrag gehabt. Malcolm hätte natürlich gewusst, was zu tun war. Auch Lachie würde es wahrscheinlich wissen, aber sie konnte ihn im Moment schlecht anrufen und um Rat fragen. Wenn Amanda mitbekam, dass Anne keine Ahnung hatte, was sie tun sollte, würde sie am Ende ihr Vertrauen verlieren.
»Meinst du, wir finden einen Hinweis auf seinem Computer?«, fragte Amanda plötzlich direkt hinter ihr.
Anne zuckte zusammen. »Ähm, ja. Das wollte ich gleich versuchen, sobald ich hiermit fertig bin«, behauptete sie und schwenkte die leere Gießkanne. »Du kannst ihn ja schon mal hochfahren.«
Ernies PC stand auf einem dreieckigen Computertisch in einer Ecke des Wohnzimmers. Als Anne die x-te Kanne Wasser verteilt hatte und so weit war, Amanda über die Schulter zu sehen, zeigte der Bildschirm eine tropische Insellandschaft und das Feld zur Eingabe des Passworts.
»Weißt du Uncle Ernies Passwort?«, fragte Amanda.
»Nein, wieso sollte ich?«
»Dann kommen wir nicht weiter.« Amanda ließ die Schultern hängen.
»Wir vielleicht«, sagte Anne. »Aber weißt du was, Sweetie, ich hol jetzt mein Handy, rufe Lachie an und bitte ihn, hierherzukommen. Der schafft das.«
Amandas Gesicht leuchtete auf. »Ja, klar! Lachie!«
Erleichtert verließ Anne das Zimmer. Für Lachies Hilfe an einem Samstag würde sie ihn natürlich extra bezahlen müssen, aber Amanda war ja durchaus wohlhabend und normalerweise nicht kleinlich. Außerdem hatte sie, wenn sie deren Worte hoffentlich richtig verstanden hatte, vorhin im Büro MWS Investigators professionell engagiert. Also konnte Anne ihr eine Rechnung stellen.
Anne seufzte. Sie musste ihre Finanzprobleme bald in den Griff kriegen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Lachie kam. In der Wartezeit schickte Anne Amanda zum nächstgelegenen Supermarkt, um Sandwiches für alle drei zu kaufen, aber vor allem, um sie ein bisschen zu beschäftigen. Es war Anne lieber, ihre Durchsuchung nicht unter den kritischen Augen von Ernies Nichte durchzuführen.
Kaum war also die Tür hinter Amanda ins Schloss gefallen, eilte Anne hinauf in Ernies Schlafzimmer, atmete einmal tief durch und öffnete die oberste Nachttischschublade. Ein Blister Panadol, in dem eine der Schmerztabletten fehlte, ein Nasenspray, ein Buch über Wildkräuter im eigenen Garten, eine Lesebrille, ein Sudokublock, ein Bleistift.
Die Schublade darunter bot Utensilien für eine andere Art der Beschäftigung. Säuberlich in eine flache Schachtel verpackt, bewahrte der alte Schwerenöter eine erstaunliche Auswahl an Kondomen und Sexspielzeug auf. Anne war nicht besonders überrascht, Ernie hatte schließlich immer gern mit seinen Eroberungen geprahlt. Und er galt auch tatsächlich im Freundeskreis durchaus als Frauenheld, was er wohl eher seinem Charme als seinem Aussehen verdankte.
Neben der Schachtel fand sie einen leeren Blister, dessen vier Tabletten herausgedrückt waren. Die Rückseite verriet in blauer Schrift, um welches Medikament es sich gehandelt hatte. Nun, auch Ernie wurde älter.
In der dritten Schublade fand sie alte Fotoalben. Auf dem obersten stand in Großbuchstaben SCHWARZWALD 1997 . Unwillkürlich schlug Anne die erste Seite auf. Ja – da waren sie alle: Amandas Eltern John und Liv, Ernie mit seiner französischen Freundin Giselle, Malcolm und sie selbst. Wie jung, entspannt und glücklich sie auf dem Foto aussahen, das ein freundlicher Deutscher von ihnen vor dem Schwarzwaldhof aufgenommen hatte. Anne erinnerte sich an das Freilichtmuseum und den letzten guten Tag, den sie in jenem Urlaub gehabt hatten. Noch am Abend waren sich Ernie und John in die Haare geraten – worüber, hatte sie längst vergessen –, und als Giselle sich gegen ihren Freund auf Johns Seite geschlagen hatte, war die Stimmung in den Keller gerutscht. Malcolm hatte versucht zu vermitteln, war aber gnadenlos gescheitert. Was wohl aus Giselle geworden war, die sich am nächsten Tag für immer verabschiedet hatte?
Gedankenverloren blätterte Anne weiter, sah ein wenig melancholisch, wie schlank sie in dem bunten Kleid vor dem Freiburger Münster aussah und wie Malcolm grinsend mit einem großen Eis in der Hand und mit nackten Füßen in einem der kleinen Wasserläufe stand, die die Stadt durchzogen. Bächle , sie erinnerte sich plötzlich, wie die Leute sie genannt hatten.
Es war Malcolms Idee gewesen, in den Schwarzwald zu fahren und nicht wieder nach Teneriffa wie in all den Jahren zuvor. Malcolm hatte solche Einfälle, und sie liebte ihn dafür. Ach, Mal. Ein dumpfer Schmerz hüllte Annes Herz ein, und sie schlug das Album zu. Er fehlte ihr so sehr.
Manchmal, vor allem, wenn sie nachts wach lag, versuchte sie sich vorzustellen, dass er nicht tot war, dass ihn kein LKW erfasst hatte, als er in York eine Straße überqueren wollte. Dass er einfach nur einen Auftrag erledigte, einen möglichen Versicherungsbetrüger observierte, einen verschwundenen Teenager suchte. Doch dann wachte sie morgens auf ohne Mals Morgengruß auf dem Handy, und die Wirklichkeit holte sie ein. Zurück blieb die Verpflichtung, die Detektei in seinem Namen weiterzuführen, statt sich in ihr Atelier zurückzuziehen und ihren Schmerz in Farbe zu ertränken.
Anne seufzte, legte das Album zurück und schob die Nachttischschublade zu. Was nun?
Sie warf einen oberflächlichen Blick in den Kleiderschrank, schaute kurz in Ernies Wäscheschublade, verspürte aber keine Lust, seine Unterhosen nach Hinweisen auf einen möglichen Aufenthaltsort zu durchforsten. Wieso sollte er schließlich dort etwas verstecken? Er lebte seit der Scheidung vor über zehn Jahren allein. Und wenn es eine Frau in seinem Leben gab, die mehr war als ein One-Night-Stand, hätte er ein Foto von ihr wohl höchstens im Nachttisch aufbewahrt. Oder natürlich auf dem Handy. Das aber hatte er zweifellos mitgenommen.
Das Klingeln an der Haustür ließ Anne zusammenzucken. Hoffentlich war das Lachie! Sie beschloss, Amanda so bald wie möglich nach Hause zu fahren, damit er in Ruhe den PC durchsuchen konnte. Vielleicht war nicht alles, was Lachie fand, das Richtige für Ernies liebende Nichte. Danach würde sie zurückkommen und mit ihm besprechen, was zu tun war, und ob und wie sie Finola MacTavish einsetzen sollten.