Kapitel 9
Nun endlich packte Finola auch den zweiten Karton aus, der bisher noch in der Zimmerecke gestanden hatte. Die warmen Klamotten daraus stapelte sie in den Schrank, die handgewebte Decke in Grüntönen, die sie auf einem Kirchenbasar in Portree erstanden hatte, legte sie nach kurzem Zögern ebenfalls in ein Schrankfach. Sie hatte sie als Bettüberwurf vorgesehen gehabt, um mögliche Scheußlichkeiten zu überdecken, aber das war zum Glück ja nicht notwendig. Die kleine Truhe mit Grannys Tropfen schob sie am Fußende unters Bett, die wenigen Bücher, die sie nicht dem Charity Shop gespendet hatte, fanden ihren Platz im Regal neben dem Schreibtisch.
Das stille Räumen gab ihr die Gelegenheit, erste Bilanz zu ziehen, soweit das nach zwei Arbeitstagen möglich war. Sie war mit sich zufrieden. Ganz doof hatte sie sich beim Observieren nicht angestellt, und Anne hatte ihren Vorschlag, direkt mit der Ehefrau zu kooperieren, positiv aufgenommen.
Wenn man sich Craig und Amanda Erskine so zusammen vorstellte, waren die beiden ein schönes Paar. Aber natürlich konnte Finola nicht wissen, was die Beziehung letztlich ausmachte. Und Männer dachten nun einmal häufig mit dem falschen Körperteil. Und schliefen lieber ihren Rausch aus, statt der besorgten Ehefrau zur Seite zu stehen, fügte sie in Gedanken hinzu.
Was wohl zu tun war, wenn Amanda Erskines Onkel tatsächlich verschwunden war? Arme Amanda! Ihr Vater war gestorben, ihre Mutter weggezogen, ihr Onkel unauffindbar, und ihr Mann ging fremd.
Halt, die letzten beiden Dinge kannst du nicht wissen, wies sich Finola zurecht. Den ungetreuen Craig hast du noch nicht erwischt, und der Onkel könnte einfach verreist sein. Vielleicht hatte er sich sogar gemeldet, aber die Mail, SMS oder WhatsApp war nicht angekommen? Oder der AB hatte den Anruf nicht registriert. So was passierte selten, aber völlig unmöglich war es nicht.
Mit einem letzten Blick auf ihr fertig eingerichtetes neues Zuhause verließ Finola das Zimmer und ging hinunter. Die Bürotür stand offen, und einen kleinen Moment lang war sie versucht, hineinzugehen und sich genauer umzuschauen. Allerdings wäre es unglaublich peinlich, wenn ihre Chefin zurückkam und sie beim Schnüffeln erwischte.
Schon ein paar Minuten später, als sie sich gerade in der Küche einen Becher Kaffee eingoss, war Finola äußerst dankbar für ihre Entscheidung – Anne und Amanda Erskine waren zurück, sie konnte ihre Stimmen hören, allerdings nicht verstehen, was sie sagten. Mit dem Kaffeebecher in der Hand trat sie hinaus in den Flur.
»Ach, Finola, Sie sind hier?« Anne schien überrascht. »Wollten Sie nicht die Umgebung erkunden?«
»Ich hatte noch in meinem Zimmer zu räumen. Möchten Sie auch einen Kaffee?« Finola sah von ihrer Chefin zu ihrer Klientin.
Beide schüttelten den Kopf.
»Wir holen nur Amandas Jacke, die hatte sie hier vergessen, dann fahr ich sie nach Hause«, erklärte Anne. Sie wandte sich an Amanda: »Steig schon mal ein, Sweetie. Ich komme sofort.«
Amanda nickte, hauchte ein »Bye« in Richtung Finola und ging zur Haustür.
»Soll ich hier warten?«, fragte Finola.
»Nein, nein.« Anne fasste sich an die Stirn und kniff kurz die Augen zusammen. Hatte sie Kopfschmerzen? »Wir machen alles wie besprochen. Ich melde mich, falls ich Sie brauche.«
Sie wartete, bis Amanda durch die Haustür nach draußen gegangen war, dann fügte sie leise hinzu: »Es sieht tatsächlich nicht gut aus, Lachie durchsucht gerade Ernies Computer nach Hinweisen. Wir reden später, ich ruf Sie an. Und jetzt gehen Sie los, und bewundern Sie Morningside!«
Erst nachdem Anne die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, fiel Finola ein, dass sie ihr gegen ihre Kopfschmerzen Grannys Tropfen Nummer sieben hätte anbieten können.
Ihre neue Wohngegend zeigte sich im Sonnenschein, als Finola eine gute halbe Stunde später in die Morningside Road einbog. Hinter den blau, rot oder beige gestrichenen Shop-Fassaden gleich rechts, die wohl noch aus viktorianischer Zeit stammten, verbargen sich nicht nur ein Inneneinrichter und ein Geschäft für Bilderrahmen, sondern auch ein nepalesisches Restaurant und ein chinesischer Takeaway. Wie praktisch!
Der überwiegende Teil der Straße war jedoch von mehrstöckigen Häusern aus beige-grauem Sandstein gesäumt. Auf ihrem Weg bergab entdeckte Finola einen Supermarkt, mehrere Charity Shops, ein weiteres Restaurant, ein Ärztehaus und ein Gebäude mit der Aufschrift Morningside Library  – die Bibliothek.
Eine Mutter mit einem kleinen Mädchen neben sich und einem Kinderwagen steuerte auf die Eingangstür zu, und Finola beeilte sich, ihnen die Tür aufzuhalten. Das Mädchen rannte sofort voraus in die Bibliothek, und die Frau bedankte sich lächelnd.
Finola war versucht, ihr zu folgen, entschied sich aber nach kurzem Zögern dagegen. Zu groß war die Gefahr, dass sie mit einem Stapel Bücher wieder herauskommen würde. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, zuerst einmal den historischen Roman fertig zu lesen, den ihr eine kanadische Freundin empfohlen hatte. Außerdem hatte sie gar keine Tasche bei sich, um Lesestoff zu transportieren.
So schlenderte sie weiter die Straße entlang und entdeckte schließlich Laurie’s Café. Neugierig blickte sie durch das Fenster hinein. Der winzige Laden wies nur drei kleine, runde Tische auf und dazu eine gläserne Verkaufstheke, in der allerlei bunte Cupcakes zu erkennen waren. Alle drei Tischchen waren besetzt. Eine Frau bezahlte an der Kasse neben der Eingangstür und nahm eine der weißen Schachteln, mit denen Finola schon Bekanntschaft gemacht hatte, entgegen. Laurie trat hinter der Kasse hervor und öffnete ihrer Kundin die Tür. Dabei fiel ihr Blick auf Finola, und sie lächelte erfreut.
»Hiya«, rief sie. »Schön, dass du mich endlich besuchst!« Sie blieb erwartungsvoll an der offenen Tür stehen. »Ich hab mich schon gefragt, ob du Albert Terrace gefunden hast oder noch immer durch Morningside irrst.«
»Bei mir ist alles klar, danke. Und bei dir ist es ja ziemlich voll.« Finola wies in das kleine Café und trat näher.
»Och, ich hab noch ein paar Klappstühle, davon kann ich dir einfach einen dazustellen. Das mach ich immer so.« Laurie grinste und wandte sich an das Paar, das in unmittelbarer Nähe zur Tür saß. »Bei Ihnen ist doch noch Platz, nicht wahr?«
Sie strich ihre üppigen roten Locken aus dem Gesicht und lächelte die beiden gewinnend an. Der Mann, der Mitte fünfzig sein mochte, stieß eilig ein »Selbstverständlich« aus und rückte ein wenig näher zu seiner Begleiterin, die sich über seine Beflissenheit zu amüsieren schien.
»Ja, kommen Sie ruhig zu uns«, sagte sie zu Finola. »Laurie lässt uns sonst ohnehin keine Ruhe.«
»Ich bringe eben gerne Menschen zusammen«, erklärte Laurie. »Vor allem, wenn sie neu hier sind.« Sie ließ Finola eintreten und holte aus der Ecke hinter der Theke einen Klappstuhl.
»Da wir schon ewig in Morningside wohnen, müssen Sie diejenige sein, die neu ist«, stellte die Frau fest, als Finola sich setzte. »Ich bin Trisha, und das ist mein Mann Rob.«
»Finola. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich bin tatsächlich neu in Edinburgh.«
»Aus Glasgow?«, fragte Rob. »Sie klingen so.«
»Ähm, ja, ich bin zum Teil in Glasgow aufgewachsen, habe aber zuletzt auf der Isle of Skye gelebt.«
»Sei doch nicht so neugierig«, warf Trisha ein. »Am Ende fragst du gleich noch, was sie beruflich macht.«
»Zuerst aber will ich wissen, was du trinken möchtest«, mischte sich Laurie ein. »Kaffee oder Tee – einfach oder mit Trallala?«
»Gibt es Latte macchiato?«
»Klar. Also einmal Latte, und welcher Cupcake soll es sein?«
Finola warf einen Blick auf die kunstvoll verzierten Gebäckstücke hinter dem Thekenglas. »Der weiße mit den Schoko-Punkten. Die anderen finde ich zum Essen viel zu schade.«
Laurie lachte und begann, Finolas Bestellung zu richten.
»Sie haben also Albert Terrace gesucht und dabei unsere Laurie kennengelernt?« Rob schien wild entschlossen, mehr über Finola herauszufinden. »Sind Sie zu Besuch hier?«
Trisha schüttelte missbilligend den Kopf, schwieg jedoch.
Finola beschloss, mehr oder weniger die Wahrheit zu sagen. »Ich bin wegen eines neuen Jobs in Edinburgh. Ich bin Physiotherapeutin.«
»Oh, wie praktisch. Wissen Sie, ich habe da manchmal an der Schulter …«
»Rob, mein Lieber, ich denke, das reicht.« Trisha legte die Hand auf die ihres Mannes, der daraufhin tatsächlich verstummte.
»Hier einmal Latte und einmal das Pünktchen.« Laurie servierte Finolas Bestellung und blieb neben ihr am Tisch stehen. »Das geht übrigens auf mich, als Entschuldigung für unseren Zusammenstoß.«
Rob und Trisha sahen sie interessiert an, doch Laurie gab keine weitere Erklärung ab.
Nach einigen Minuten Small Talk verabschiedeten sich Trisha und Rob. Auch die drei jungen Leute am Nebentisch brachen auf, und Laurie ergriff die Gelegenheit, sich nach dem Kassieren zu Finola zu setzen.
»Also, ich muss zugeben, ich bin eigentlich genauso neugierig wie der gute Rob«, erklärte sie. »Aber natürlich musst du nicht unbedingt antworten, wenn ich dich jetzt frage, ob du im B&B in Albert Terrace wohnst.« Sie sah Finola erwartungsvoll an.
Die grinste. »Nein, ich habe privat ein Zimmer.«
»In Albert Terrace? Wer vermietet denn da privat?«
»Mrs Scott in Nummer …«
»Die mit dem Detektivbüro?«, unterbrach Laurie sofort.
»Du kennst sie?«
»Ist ’ne Kundin von mir. Ich hab zur Neueröffnung das Catering gemacht. Partyservice biete ich gelegentlich als kleinen Nebenerwerb an. Man kann ja nicht immer nur Süßkram essen.« Sie zuckte mit den Achseln.
»Neueröffnung? Ich dachte, die Detektei gibt’s schon seit dreißig Jahren oder so.«
»Ja, aber früher war die in der New Town . Erst als der Mann von Mrs Scott starb, hat sie das Büro hierher in ihr Wohnhaus geholt. So spart sie die teure Miete, und es ist ja eigentlich auch viel praktischer.« Laurie sah Finola neugierig an. »Jetzt vermietet sie auch noch Zimmer? Hätte nicht gedacht, dass sie sich als so geschäftstüchtig erweist.«
»Nicht grundsätzlich«, beeilte sich Finola zu sagen. Nicht dass Laurie nun alle möglichen Leute auf Zimmersuche zu Anne schickte! »Und es ist auch erst mal nur für drei Monate.«
»Na, in der Zeit kannst du sicher was Dauerhaftes finden. Ich hör mich mal für dich um«, versprach Laurie. »Willst du hier in der Ecke bleiben?«
Bevor Finola antworten konnte, klingelte ihr Handy.
»Können Sie bitte jetzt gleich ins Büro kommen?«, fragte Anne. Ihre Stimme klang dringlich. »Lachie hat etwas gefunden. Haben Sie eigentlich einen Führerschein?«