Kapitel 16
Der Duft von gebratenem Speck und Zwiebeln empfing Finola, als sie das Haus betrat. Laute Musik tönte aus der Richtung der Küche, irgendwas, was nach altem Hardrock klang. Finolas Magen knurrte. Kein Wunder, wenn man vom Sport kam! Selbst das Zusehen machte hungrig.
Sie zog Jacke und Schuhe aus, stellte ihre Sporttasche auf die Treppe und folgte dem Duft in die Küche.
»Hi, Anne, das riecht ja fantastisch!«
Anne zuckte zusammen. Der Holzlöffel fiel ihr aus der Hand und zu Boden.
»Oh, ich wollte Sie nicht erschrecken!« Schnell bückte sich Finola und hob den Löffel auf. Sie sah ihn zweifelnd an, als sie ein paar Katzenhaare daran entdeckte, und legte ihn auf das Holzbrett neben der Spüle.
Anne hatte bereits einen neuen Kochlöffel in der Hand, mit dem sie Speck und Zwiebeln in Bewegung hielt, damit sie nicht anbrannten. »Schon okay, ich war so vertieft, dass ich Sie nicht gehört habe. Wollen Sie mitessen? Gemüsesuppe. Und ein bisschen Speck für obendrauf. Ist gleich fertig.«
Annes Stimme klang ein wenig belegt, und sie wandte Finola weiter den Rücken zu. War sie erkältet oder – hatte sie geweint?
»Gerne. Ich komm grad aus dem Fitnessstudio!«
»Und – sind Sie nun fit?«
»Äh, na ja, ich war nur da, um Craig Erskine zu beobachten.«
»Moment.« Anne stellte das Gas unter der Pfanne aus und ging hinüber zu dem altmodischen Kassettenradio, das auf der Fensterbank stand. Sie drehte die Musik leiser.
»So, jetzt hör ich Sie besser«, sagte sie, ohne Finola anzusehen. »Holen Sie sich eine Schüssel und nehmen Sie sich etwas. Mögen Sie auch ein Glas Wein?«
»Gerne.«
Finola nahm zwei Suppenschüsseln aus dem Schrank und stellte sie neben den Herd, dann deckte sie zwei Löffel und zwei Weingläser auf den Tisch. Was war mit Anne los?
Als sie schließlich zusammen am Tisch saßen, sah Finola ihre Vermutung bestätigt: Annes Augen waren verschwollen, sie hatte offenkundig mehr als nur ein Tränchen verdrückt. Der Tod eines geliebten Menschen nach so vielen Jahren Ehe musste schwer zu verkraften sein.
Jetzt aber lächelte sie. »Dann berichten Sie mal!«
Und Finola berichtete. Fast alles. Nur dass sie tatsächlich mit Craig Erskine gesprochen hatte, ließ sie lieber weg. Das hätte Anne sicher als unprofessionell angesehen.
»Ich bin dann zu Fuß nach Hause gegangen – ist ja nur ein Viertelstündchen – und hab unterwegs noch eingekauft«, kam sie zum Ende. »Kurz bevor ich hier war, kam eine Nachricht von Amanda Erskine aufs Handy, dass ihr Mann inzwischen daheim eingetroffen sei. Also bisher seh ich keinen Hinweis darauf, dass er fremdgeht.«
Anne nickte. »Bleiben Sie trotzdem noch ein paar Tage dran.«
»Klar, vielleicht trifft er sich ja nur einmal in der Woche mit seiner Affäre und das ausgerechnet am Mittwoch. Ich hab erst Donnerstag mit der Observierung angefangen«, fügte sie erklärend hinzu.
Die Küchentür ging langsam auf, und ein pechschwarzes Katzengesicht schaute herein.
»Ah, Freddie. Bist du hungrig?«, fragte Anne und erhob sich.
Der Kater maunzte und betrat die Küche, dicht gefolgt von Lachie.
»Du solltest nicht so lecker kochen, Annie«, erklärte der. »Ich bin nur noch mal hergekommen, um was aus meinem Büro zu holen, aber bei dem Duft …«
»Nimm dir was«, sagte Anne, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Stattdessen streichelte sie Freddie, der eng um ihre Beine strich und murmelte: »Ja, mein Lieber, wir haben uns ja schon seit Tagen nicht mehr gesehen.« Dann öffnete sie einen der Küchenschränke, holte eine Dose Katzenfutter heraus, deren Inhalt
sie in einen der Fressnäpfe gab, und versorgte den Kater mit frischem Wasser.
Was war hier los? Wollte Anne nicht, dass Lachie ihre verweinten Augen sah? Oder hatten die beiden am Ende gestritten? Nein, Lachie wirkte ganz wie immer. Und Finola traute ihm nicht zu, sich derart zu verstellen.
»Ich lass euch jetzt allein«, sagte Anne unvermittelt. »Muss noch telefonieren.«
»Achtung, falls Sie raufgehen, meine Tasche steht auf der Treppe!«, warnte Finola.
»Ach ja, Sie haben ja gesagt, dass Sie eingekauft haben. Muss was davon in den Kühlschrank?«
Finola schüttelte den Kopf. »Keine Lebensmittel. Ich hab im Fenster der kleinen Buchhandlung unterwegs die Neuerscheinung einer Autorin gesehen, die meine Großmutter sehr gerne liest, und gleich zugeschlagen. So kann ich ihr morgen ein Päckchen schicken.«
Anne nickte ihr zu und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort.
»Wissen Sie, was mit Anne los ist, Lachie?«, fragte Finola.
Der schaute sie erstaunt an. »Ist was mit Anne?«
»Genau das frage ich ja. Sie kennen sie doch viel länger.«
»Mir ist nichts aufgefallen.«
Finola seufzte. Immerhin durfte sie nun davon ausgehen, dass die beiden nicht miteinander gestritten hatten. So gedankenabwesend, dass er einen Streit nicht bemerkte, konnte nicht einmal Lachie sein.
»Was machen Ihre Ermittlungen?«, fragte Lachie zwischen zwei Löffeln Suppe.
»Sie laufen im Moment ausgesprochen zäh. Und Ihre? Was tun Sie gerade?«
»Ich überprüfe für eine Firma die Leute, die sich um eine Führungsposition bewerben.«
»Puh – machen das viele Firmen? Hätt ich nicht gedacht.«
»Kommt schon ab und zu vor.« Lachie wischte sich über die Stirn, auf der sich kleine Schweißperlen zeigten.
»Ist Ihnen nicht zu warm in dem Pullover?«, fragte Finola.
Lachie sah an sich hinunter. »Doch, ich wollte ja auch eigentlich nur …« Er legte den Löffel beiseite, zog den Pullover aus und öffnete den obersten Hemdenknopf. »Stimmt, so ist es besser.«
»Der ist sehr schön. Ich mag die Blautöne.«
»Danke.« Lachie wirkte ein wenig verlegen. Er bekam wohl nicht oft Komplimente.
»Sieht handgestrickt aus. Wo kriegt man so was hier in Edinburgh?«
»Der ist selbst gestrickt.«
»Von wem?«
Ein zartes Rosé breitete sich in Lachies Gesicht aus.
Finola verstand plötzlich. »Oh, von Ihnen?«
Lachie nickte verlegen. »Stricken ist sehr entspannend. Gut für die Feinmotorik. Und es verbindet die beiden Gehirnhälften. Ich kann am besten nachdenken, wenn ich stricke. Hab ich von meiner Großmutter gelernt.«
»Meine Großmutter strickt nicht, sie beschäftigt sich allerdings mit Heilpflanzen.«
»Auch schön.«
»Ich lese eher zur Entspannung.«
»Was denn?«
»Eigentlich alles.«
Lachie nickte und stand auf. Er öffnete die Spülmaschine und räumte das herumstehende Geschirr ein. Dann verabschiedete er sich. Freddie folgte ihm aus der Küche, ohne Finola beachtet zu haben.
Die blieb noch einen Augenblick sitzen. Schließlich aber beschloss auch sie, in ihr Zimmer zu gehen und zu schauen, ob ihr jemand gemailt hatte. Auf der Treppe begegnete sie Anne, die fürchterlich blass aussah.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie.
»Ach, es ist nichts weiter. Ich habe letzte Nacht so schlecht geschlafen und bin heute einfach müde«, behauptete Anne.
»Wenn Sie Schlafprobleme haben, empfehle ich Ihnen Grannys Tropfen Nummer eins. Ich kann gleich ein Fläschchen holen. Drei Tropfen davon in ein Glas Wasser und vor dem Zubettgehen langsam trinken.«
Anne sah aus, als ob sie das Angebot ablehnen wollte, sagte aber dann: »Es schadet wohl nicht, die Tropfen Ihrer Granny auszuprobieren, oder?«
»Nein, ganz bestimmt nicht!«
Grannys Tropfen Nummer eins waren gewiss das Richtige – sie wirkten beruhigend und schlaffördernd bei Kummer und Sorgen.