Kapitel 17
Finola saß gemütlich in ihrem Zimmer auf ihrem Bett, den Rücken mit Kissen gepolstert an der Wand, den Laptop auf dem Schoß. Sie bearbeitete ein paar Fotos, die sie am Vortag in Oban aufgenommen hatte. Schade, dass sie dort so wenig Zeit gehabt hatte. Und noch bedauerlicher, dass sie Uncle Ernie nicht gefunden hatte.
War dies womöglich der Grund, warum Anne so betrübt war? Hatte Amanda Erskine ihr Vorwürfe gemacht? Vielleicht hätte sie gestern doch noch weiter nachforschen müssen, wenn sie schon an dem Ort war, wo Uncle Ernie zuletzt gesehen worden war. In den Pubs der Gegend zum Beispiel. In Invertingle war ihr kein Pub aufgefallen, von dort aus musste man wohl nach Oban fahren, um sein Pint zu genießen. Sie hätte sich bei Dave am Green Shack erkundigen können, welche Pubs am ehesten infrage kamen.
Das Diensthandy summte – ein Anruf. Amanda Erskines Nummer erschien auf dem Display. Mist. Finola hatte keinerlei Lust, mit der echten Nichte zu sprechen und sich am Ende Vorwürfe machen zu lassen, dass sie nicht gründlich genug nach Uncle Ernie gesucht hatte. Und wenn sie einfach nicht dranging?
Das Handy summte weiter. Nach einem tiefen Seufzer antwortete sie schließlich doch.
»Ms MacTavish, gut, dass ich Sie erreiche. Ich habe es schon bei Anne versucht, aber sie geht nicht ans Telefon.«
Gut. Dann hatten Grannys Tropfen Nummer eins gewirkt, und sie schlief.
»Mrs Erskine, hallo. Wie kann ich Ihnen helfen? Unsere Ermittlungsergebnisse zu ihrem Onkel kann ich Ihnen leider noch nicht mitteilen, aber …«
»Es geht nicht um meinen Onkel«, unterbrach sie Amanda Erskine. »Craig ist verschwunden. Können Sie herkommen? Jetzt gleich?«
Wenige Minuten später war Finola in Malcolm Scotts Wagen auf dem Weg nach Fairmilehead. Gut, dass sie nun wusste, wo die Autoschlüssel hingen. Aus Annes Schlafzimmer war kein Geräusch gedrungen, also hatte Finola auf eine Absprache verzichtet.
Allzu viel hatte sie aus Amanda Erskine am Telefon nicht herausbekommen. Nur dass ihr Mann plötzlich nach dem Abendessen angekündigt hatte, er müsse schnell noch einmal weg. Wohin, hatte er nicht gesagt.
Wenn sie ehrlich war, hatte Finola keine Ahnung, was nun von ihr erwartet wurde. Wenn Amanda nicht wusste, wo Craig war, konnte sie ihn schlecht beschatten. War sie also einbestellt worden, um die betrogene Ehefrau zu trösten?
Es sah ganz danach aus, denn Amanda Erskine empfing sie mit verweinten Augen und einem verkniffenen Mund. Sie führte sie ins Wohnzimmer und bot ihr einen Platz auf einem der beiden Sofas an. Der schmale, niedrige Tisch mit einer unordentlich zusammengefalteten Tageszeitung The Scotsman und einem halbleeren Glas Rotwein sowie ein nachlässig über die Lehne geworfener Cardigan zeigte, dass Amanda Erskines Platz auf dem Sofa gegenüber war.
»Zuerst habe ich gedacht, er holt nur schnell noch eine Flasche Wein im off licence , weil die Flasche heute Abend die letzte von der Sorte war. Und wir saßen gerade so gemütlich zusammen. Aber jetzt ist er schon seit über einer Stunde weg …«
Amanda Erskine schluckte und sah sie auffordernd an.
Um ein wenig Zeit zu gewinnen, zog Finola einen kleinen Block und einen Stift aus ihrer Tasche.
»Ist dies das erste Mal, dass Ihr Mann so plötzlich das Haus verlässt?«, fragte sie.
Amanda nickte. »Er sagt sonst auch immer, wohin er geht.«
»Und ist dem irgendetwas vorausgegangen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Gab es irgendwelche Hinweise in Ihrem Gespräch? Hatten Sie vielleicht eine Auseinandersetzung?«
»Nein, so etwas gibt es bei uns nicht«, behauptete Amanda.
»Nun, das kommt aber in den besten Familien vor«, konnte sich Finola nicht verkneifen zu sagen.
»Wir haben nicht gestritten!«, stellte Amanda noch einmal klar.
»Und Sie waren die ganze Zeit zusammen? Oder könnte es zum Beispiel sein, dass Ihr Mann eine Nachricht bekommen hat? Die ihn dann veranlasst hat …«
»Ja! Das muss es sein! Ich bin aus dem Esszimmer schon hierher vorgegangen, während Craig das letzte Geschirr in die Küche brachte. Das waren zwar höchstens zwei Minuten, aber um eine kurze Nachricht von seiner Tussi zu lesen, reichen ja Sekunden!«
Puh! Die Frau klang ganz schön aggressiv.
»Sie müssen also nur schauen, wer das war. Gegen halb neun. Das können Sie doch sicher von den Überwachungsprotokollen des Handys leicht ablesen.« Eine gewisse Befriedigung in ihrem Blick war nicht zu verkennen.
Doch gab es tatsächlich solch genaue Überwachungsprotokolle für Craig Erskines Handy? Hätte Anne ihr nicht im Rahmen der Fallbesprechung davon berichten müssen? Lachie hatte gesagt, dass er nichts Verdächtiges gefunden hatte, also musste er zumindest an einige Daten gekommen sein.
Ein Handy zu überprüfen war sicher viel einfacher als den Mann tagelang zu beschatten, äh, zu observieren. Aber vielleicht gab es ja keine verfänglichen Botschaften, sondern nur so was wie »Viele Grüße von meiner Tante. Sie hat das Buch, das du empfohlen hast, für sieben Pfund bekommen«, was dann hieß, dass der nächste Treffpunkt an einem bestimmten Ort um sieben Uhr war.
»Was sagen Sie denn dazu?« Amandas Erskines ungeduldige Worte rissen Finola aus ihren Gedanken um einen versteckten Liebescode.
»Im Augenblick kann ich dazu gar nichts sagen. Von hier aus komme ich natürlich an keine Daten heran. Aber ich werde morgen früh mit Anne sprechen, und wir werden uns darum kümmern«, versprach Finola.
Amanda Erskine wirkte nicht besonders zufrieden, und Finola setzte schnell ihre Befragung fort: »Vielleicht gibt es noch etwas, was Ihnen heute Abend aufgefallen ist? Ist Ihr Mann zu Fuß unterwegs oder mit dem Auto?«
»Er hat den Wagen genommen.«
Finola kritzelte ein kleines Auto auf ihren Block, schließlich erwartete ihre Kundin bestimmt, dass sie sich Notizen machte.
»Und haben Sie eine Vermutung, wohin er gefahren sein könnte?«
»Zu seiner … zu seiner …« Amanda Erskine deutete eine unerwartet obszöne Handbewegung an.
»Ich meine, könnte er auch woanders hingefahren sein? Aus einem anderen Grund? Zu einem Freund, zum Beispiel?«
»Und warum hat er dann nichts gesagt?« Tränen standen in Amanda Erskines Augen. Allerdings las Finola keine Traurigkeit in ihrem Gesicht, sondern Wut. Sie wollte nicht in Craigs Haut stecken, wenn er nach Hause kam!
Das Licht von Autoscheinwerfern streifte die Fenster.
»Da ist er!«, zischte Amanda.
Finola sprang auf und steckte Block und Stift hastig in ihre Tasche. »Gibt es einen Hinterausgang?«, fragte sie. »Ihr Mann darf mich hier nicht sehen.«
»Ja, kommen Sie schnell. Hier raus.«
Amanda Erskine zeigte zu einer Glastür, die in den Garten führte, und ließ sie hinaus. Kurz bevor die Tür leise hinter ihr schloss, hörte Finola Schlüssel in der Eingangstür. Das war knapp gewesen!
Nun musste sie irgendwie ungesehen durch den Garten wieder auf die Straße zu ihrem Auto – Malcolms Auto, korrigierte sie sich – gelangen, das sie in einer Seitengasse abgestellt hatte. Zum Glück gab es hier ein paar schützende Rhododendren und einen Pfad zu einem kleinen Törchen, an dem sie sich vorsichtig umsah, bevor sie hinausschlüpfte. Eine Minute später saß sie im Auto.
Unwillkürlich musste sie kichern. Was für eine schöne Theaterszene: »Gibt es einen Hinterausgang?«, fragte die Heldin. »Ihr Mann darf mich hier nicht sehen.«
Finola steckte den Schlüssel ins Zündschloss und wollte den Motor anlassen, als eine neue Nachricht auf ihrem Handy eintraf. Amanda Erskine.
Untersuchen Sie den Wagen. Der Schlüssel liegt auf dem Fenstersims vor der Küche.
Na, darauf hatte sie nun wirklich gar keine Lust.