Kapitel 18
Nach drei Flüchen und einem kräftigen Seufzer stieg Finola wieder aus dem Auto und bemühte sich, die Tür möglichst leise zuzudrücken. Dies war eine ruhige Wohnstraße, und sie konnte sich durchaus vorstellen, dass die Nachbarn aufeinander aufpassten. Immerhin hatte sie kein Neighbourhood-watch -Schild gesehen, also war sie wohl einigermaßen sicher vor patrouillierenden Anwohnern.
Der Autoschlüssel lag auf dem Sims vor dem Küchenfenster. Zu dumm, dass Finola keine Ahnung hatte, wo sich die Küche befand. Im schlimmsten Fall musste sie also einmal ganz ums Haus schleichen. Sie beschloss, dies gegen den Uhrzeigersinn zu tun und schwenkte nach rechts.
Leider stellte sich dies als die falsche Richtung heraus, als sie an der hinteren Hausecke ankam. Auf keinem der beiden Fenstersimse hatte sie in der Dunkelheit einen Schlüssel ertasten können. Sie zögerte und betrachtete die Rückseite des Hauses. Ein Stück weiter vorn drang Licht in den Garten. Dort war das Wohnzimmer, wo Craig und Amanda Erskine wohl noch zusammensaßen. Sollte sie es wagen, daran vorbeizuschleichen? War es nicht besser, das Küchenfenster von der anderen Seite her zu suchen?
Letztlich siegte Finolas Neugier. Oder ihr professionelles Interesse, wie sie es lieber nannte. Schließlich hatte sie Craig und Amanda Erskine noch nie zusammen gesehen. Und vielleicht konnte sie, wenn sie einem Teil der Unterhaltung lauschte, daraus hilfreiche Schlüsse ziehen.
Die Tür zum Garten stand einen Spaltbreit offen, sodass das Gemurmel, je näher Finola kam, deutlicher wurde.
»Bitte beruhige dich, Mandy«, hörte sie Craigs Stimme.
»Ich bin ganz ruhig«, antwortete Amanda wirklich recht leise. »Und ich sage dir noch mal ganz ruhig: So kannst du mit mir nicht umgehen. Ich bin deine Frau.«
»Das bezweifelt niemand. Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst. Schließlich habe ich nur einem Freund geholfen.«
»Ha! Einem Freund!« Amandas Stimme wurde lauter, dann fuhr sie leise fort: »Wohl eher einer Freundin. Und ich kann mir auch denken, wobei.«
»So ein Quatsch. Wenn du mir nicht glaubst, ruf Roger an!«
»Der steckt doch ohnehin mit dir unter einer Decke!«
Finola warf vorsichtig einen Blick ins Wohnzimmer hinein. Amanda Erskine saß aufrecht und wie ein lebender Vorwurf auf dem Sofa. Ihr Mann stand in der Mitte des Zimmers, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah genervt aus.
»Meine Güte, Mandy, du solltest mal was gegen deine Eifersucht tun!«
»Das ist gut – jetzt machst du mir Vorwürfe, weil ich etwas bemerkt habe? Das ist wirklich gut!« Amanda stand auf und marschierte aus dem Zimmer.
Craig Erskine seufzte, ging zum Schrank und holte eine Flasche Whisky und ein Glas heraus. Er goss sich ein, nahm einen kräftigen Schluck und goss sich noch ein wenig der goldbraunen Flüssigkeit nach. Dann stellte er das Glas auf den Tisch, setzte sich auf das Sofa, auf dem Finola vorhin Platz genommen hatte, griff nach The Scotsman und begann, die Zeitung zu lesen.
Finola zählte langsam bis dreißig. Craig Erskine bewegte sich nicht, nicht einmal eine Seite blätterte er um. Sollte sie es wagen vorbeizuhuschen?
Nein, das Risiko war zu groß.
Mit einem letzten Blick auf das Objekt ihrer Observierung begann Finola den Rückzug. Ein kühler Wind war aufgekommen, und sie fröstelte. Neidisch dachte sie an Craig Erskines Glas. Ob Anne auch Whisky im Haus hatte? Einen schönen Schluck Single Malt vor dem Zubettgehen würde Finola nach diesem Einsatz durchaus zu schätzen wissen.
Tatsächlich fand sie auf der anderen Seite des Hauses das gesuchte Fenstersims und den Autoschlüssel. Nun also schnell noch einen Blick in den Wagen, und dann konnte sie den Abend endlich abhaken.
Sie drückte auf die Fernbedienung. Es piepste leise, und die Lichter des Autos, das direkt vor dem Haus stand, leuchteten kurz auf. Hm, warum parkte der Mann nicht irgendwo, wo es nicht so gut einsehbar war?
Finola atmete tief durch und fing mit dem Kofferraum an, der bis auf Ersatzrad, Warndreieck und Verbandstasche an einer Seitenwand völlig leer war. Gut, dann war sie umso schneller fertig.
Bevor sie die Fahrertür öffnete, sah sie sich noch einmal auf der Straße um. Alles ruhig. Das Licht im Innenraum ging an und zeigte ihr ein ähnlich übersichtliches Bild wie im Kofferraum. Sitze und Fußraum vorn wie hinten waren leer. Na ja, was hatte sie erwartet? Einen BH auf den Rücksitzen?
Der Inhalt des Handschuhfachs war auch nicht gerade ergiebig: das Serviceheft des Wagens, eine Parkscheibe, ein zerlesener kleiner Reiseführer mit dem Titel Lovely Argyll , ein Päckchen Taschentücher. Als Finola alles wieder ordentlich zurücklegte, fiel eine Visitenkarte in den Fußraum. Finola griff danach.
»Was machen Sie denn da?«, rief eine Männerstimme.
Finola zuckte zusammen und steckte die Karte unwillkürlich in ihre Jackentasche. Sie fluchte leise und schob sich ganz langsam rückwärts aus dem Auto. Ihr Herz raste.
»Alles in Ordnung«, rief sie. »Ich habe nur etwas gesucht.«
»Ich rufe jetzt die Polizei!«, erklärte die Männerstimme.
»Nein, nein. Es ist wirklich alles in Ordnung.«
Finola drehte sich um. Ein alter Herr mit einem weißen Scotch Terrier stand in einigen Schritten Entfernung. Er hielt ein Handy anrufbereit in der Hand und beäugte sie misstrauisch.
»Das ist aber nicht Ihr Auto.«
»Nein, das gehört den Erskines. Aber meine Freundin Amanda hat mir den Schlüssel gegeben, weil ich mein Handy darin verloren hatte. Jetzt hab ich es wieder. Sehen Sie?«
Finola zog den Schlüssel und ihr Handy aus der Jackentasche und hielt sie dem Mann wie eine Opfergabe entgegen.
Der legte den Kopf schief und murmelte etwas zu seinem Hund. Der Scottie begann, mit dem Schwanz zu wedeln.
»Ich bin auch gleich wieder weg.«
Finola schlug möglichst geräuschlos die Fahrertür zu – es war nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Craig den Klang seiner Autotür hörte und nachsehen kam. Sie drückte auf die Fernbedienung. Ein leises Piepsen und Blinken bestätigte, dass der Wagen wieder verschlossen war.
»Werfen Sie den Schlüssel in den Briefkasten!«, befahl der aufmerksame Nachbar.
»Aber ich hatte mit Amanda ausgemacht …«
»Jetzt, sofort!«
Nun, wer war sie, dass sie sich zu später Abendstunde mit einem alten Mann mit Hund anlegte? Auch wenn der Hund eher Taschenformat hatte und äußerst freundlich aussah. Finola warf also gehorsam den Autoschlüssel in den Briefkasten.
»Dann fahr ich jetzt mal nach Hause. Mein Handy hab ich ja wieder«, sagte Finola und bemühte sich um einen unschuldigen Plauderton. »Schön zu wissen, dass hier die Nachbarn aufeinander achten.«
Der Mann nickte und wartete, bis Finola in ihren Wagen gestiegen war. Im Rückspiegel konnte sie sehen, dass er ihr nachblickte, ohne von der Stelle zu weichen. Dann bog sie um die Ecke und atmete auf.
An der nächsten günstigen Einfahrt hielt sie links am Straßenrand und zückte das Handy. Ihre Hände zitterten immer noch leicht, als sie Amanda Erskine die Nachricht schrieb, wo sie den Autoschlüssel finden würde, und dass sie, falls ein alter Herr mit Scotch Terrier fragte, bitte bestätigen sollte, dass sie einer Freundin den Schlüssel geliehen hatte, damit diese ihr Handy wiederfand.
So, nun war aber Feierabend!
Als Finola das Handy zurück in die Jackentasche steckte, stieß ihre Hand an die Visitenkarte, die sie gefunden hatte. Sie zog sie heraus und las: Barrett & Browning – Rechtsanwälte. Invertingle.