Kapitel 19
Anne starrte auf die Visitenkarte. Invertingle. Wie kamen Craig und Amanda zu einer Karte von Anwälten in Invertingle?
»Und Sie haben die einfach so im Handschuhfach gefunden?«, fragte sie Finola.
»Ja«, antwortete die. »Obwohl, schauen Sie mal hier«, sie deutete auf das obere Ende des Kärtchens, »das sieht doch aus, als wären das Abdrücke einer Büroklammer, oder? Vielleicht war die Karte auch nicht einfach so im Handschuhfach, sondern irgendwo drangeheftet. Am wahrscheinlichsten an den Reiseführer für Argyll. Invertingle liegt doch in Argyll …«
Anne nickte mechanisch. In ihrem Kopf rasten die Gedanken: Craig hatte eine Visitenkarte von Anwälten in Invertingle. Wie konnte das zusammenhängen? Wusste Craig am Ende mehr über Ernies Verschwinden, als er zugab? Halt, sie hatte Craig bisher überhaupt noch nicht gefragt, ob er etwas wusste. Wie unprofessionell von ihr. Sie hatte sich ausschließlich auf Amanda und ihre Sorgen konzentriert.
Anne rieb sich die Stirn, sie konnte die Spannung, die sich dahinter aufbaute, förmlich fühlen.
»Was meinen Sie dazu?«, hörte sie Finola fragen.
Sie sah auf in das erwartungsvolle Gesicht ihrer jungen Detektivin und merkte, dass sie kein Wort von deren Theorie gehört hatte.
»Entschuldigung. Ich war gerade etwas gedankenabwesend«, gab sie zu. »Ich fürchte, ich bekomme wieder Kopfschmerzen. Könnten Sie bitte noch einmal wiederholen, was Sie gesagt haben?«
Finola nickte. »Ich könnte mir vorstellen … Also, wissen Sie was, ich hole Ihnen jetzt erst mal ein Glas Wasser und Grannys Tropfen Nummer sieben. Die helfen bei Kopfweh.« Finola stand auf und ging zur Tür.
»Sie brauchen nicht …«
»Die Einser-Tropfen haben doch gestern Abend auch gut geholfen, oder etwa nicht?«
»Doch, ich habe sehr gut geschlafen«, musste Anne zugeben.
»Na, also!« Finola verließ das Büro.
Anne schloss einen Augenblick die Augen und versuchte zu überlegen, was nun zu tun war. Auf jeden Fall musste Craig befragt werden. Und zwar von ihr selbst, denn wenn sie Finola schickte, würde er sie am Ende erkennen, während sie ihn observierte.
Sosehr sie Craig auch mochte, er war ein Mann. Er hatte sich, soweit sie das beurteilen konnte, mit Ernie immer gut verstanden, und ihrer Erfahrung nach vermochte eine Männerfreundschaft ganz eigene Loyalitäten hervorzubringen. Es war nicht ausgeschlossen, dass Craig mit Ernie unter einer Decke steckte. Er war schließlich Banker und kannte daher sicher allerlei legale und illegale Möglichkeiten, Geld verschwinden zu lassen. Und vielleicht hatten diese Rechtsanwälte in Invertingle ja irgendwelche dunklen Geschäfte für Ernie und Craig erledigt.
Ja, das passte nur zu gut. Wie Lachie sich da mit einfügte, war ihr allerdings schleierhaft. Aber Amanda hatte erzählt, dass Craig sich in der letzten Zeit verändert hatte. Vielleicht steckte ja gar keine Frau dahinter, sondern eine größere Geldsumme?
»Hier, bitte schön. Ich habe die Tropfen schon hineingegeben.«
Anne zuckte zusammen, sie hatte Finola nicht zurückkommen gehört. Dankbar griff sie nach dem Glas Wasser, das Finola ihr reichte, und trank ein paar kleine Schlucke.
»Also, um auf meine Idee zurückzukommen – vielleicht ist ja Ernie gar nicht hauptsächlich wegen BabyJean in Invertingle gewesen? Möglicherweise hatte sein Besuch an der Westküste ja mit Craig und diesen Anwälten zu tun, und das mit der Gartenfreundin war eher eine passende Beigabe?«
Das kam Annes Gedanken gefährlich nahe. Um nicht sofort antworten zu müssen, nahm sie ein paar weitere Schlückchen, bevor sie das Glas auf ihrem Schreibtisch abstellte.
»Also, soll ich nun noch einmal nach Invertingle fahren?«, fragte Finola.
»Nein!« Fast erschrak Anne selbst über ihren harschen Ton.
Finola sah sie überrascht an.
»Die Rechtsanwälte übernehme ich persönlich«, erklärte Anne. »Sie kümmern sich weiter um Ihren Auftrag und observieren Craig Erskine, und zwar nicht nur, ob er fremdgeht, sondern auch, welche anderen Kontakte er hat und überhaupt … Ich erwarte detaillierte Berichte.«
Sie griff wieder nach dem Wasserglas und leerte den Rest in einem Zug.
»Ach ja, und finden Sie heraus, wie genau Craig und Amandas Onkel zueinander standen.«