Kapitel 20
Finden Sie heraus, wie genau Craig und Amandas Onkel zueinander standen, hatte Anne gesagt. Finola seufzte und nahm ihren mittäglichen Beobachtungsposten am St. Andrew Square ein. Dieses Mal hatte sie ihr aschblondes Haar unter einem im Nacken geknoteten schwarzen Tuch verborgen, ein paar schwarze Kunsthaarsträhnen ragten als überlanger Pony darunter heraus, und dicke Kajalbalken um die Augen veränderten ihr Aussehen vollends. Sie war in ihren schwarzen Klamotten nicht unbedingt unauffällig, aber immerhin hatte Craig Erskine sie so noch nicht gesehen und würde sie nicht wiedererkennen. Zudem passte die Farbe gerade zu ihrer Stimmung.
Anne war heute Morgen so seltsam gewesen, und Finola hatte das Gefühl, dass daran nicht nur ihre Kopfschmerzen schuld waren. Irgendetwas anderes ging in ihrer Chefin vor, irgendetwas, was dazu geführt hatte, dass sie Finolas schönen Plan, erneut in Invertingle nachzuforschen, so vehement abgelehnt hatte.
Als Lachie gekommen war, hatte sie sich nach einer äußerst kurzen Begrüßung in ihr Büro zurückgezogen und die Tür geschlossen. Seltsam.
Nun, andererseits war das vielleicht auch gar nicht so spektakulär, wie sie es empfand, schließlich kannte sie sowohl Anna als auch Lachie erst wenige Tage.
Das Wetter zeigte sich heute nicht von seiner angenehmen Seite, der Herbst kündigte sich mit wiederholtem Nieselregen und Windböen an. Immerhin kannte Finola Craig Erskines Mittagsroutine und hatte, wie sie fand, ein ziemliches Geschick entwickelt, ihm zu folgen. Heute war er wieder mit Dan und Jess unterwegs. Allerdings folgte er den beiden nicht in die Sandwich Bar in der Rose Street, sondern setzte seinen Weg allein fort.
Finola beschleunigte ihren Schritt, um ihn nicht aus den Augen zu
verlieren. Was hatte er vor? Traf er sich nun endlich mit seiner Geliebten? Im Gehen fummelte sie ihr Handy aus der nietenbesetzten Brusttasche ihrer Lederjacke. Möglicherweise würde sich gleich die Gelegenheit ergeben, einen Beweis zu fotografieren.
Jetzt bog er in einiger Entfernung um die Ecke, und Finola musste sich durch eine Gruppe asiatischer Touristinnen schieben, um ihm folgen zu können. Als sie endlich in die Seitenstraße spähte, war Craig Erskine nirgends zu sehen.
Mist!
Verfall nicht in Panik
, ermahnte sie sich selbst. Wenn er nicht gerannt ist – und warum sollte er –, muss er irgendwo reingegangen sein.
Also atmete sie einmal tief ein und aus und begann, die Straße entlangzuschlendern und dabei in die Fenster der Geschäfte zu schauen.
Sie wurde schnell fündig: Craig Erskine saß gut sichtbar hinter einer großen Glasscheibe beim Friseur.
Finola überquerte die Straße, um auf der anderen Seite zu warten, bis er wieder herauskam. Sie fand einen Hauseingang, der sie ein wenig vor dem Wind schützte und ihr eine gute Sicht auf den Friseurladen bot, wenn auch leider nicht hinein. Das war andererseits auch nicht nötig – selbst wenn der Mann sich eine Friseurin angelacht hatte, würde er Finola hier und jetzt wohl kaum die Möglichkeit bieten, kompromittierende Fotos zu machen.
Sie seufzte. Irgendwie waren diese Mittagsobservierungen ziemlich vertane Zeit, schien es ihr. In einer Dreiviertelstunde etwas zu essen und schnell noch eine Geliebte zu treffen, konnte nicht unbedingt erfüllend sein, und war daher wenig wahrscheinlich. Wenn Amanda Erskine nicht darauf bestehen würde, dass sie ihren Mann in seiner Pause beobachtete, hätte Finola tagsüber Zeit, andere Nachforschungen anzustellen. Zum Beispiel zu Barrett & Browning. Obwohl, das konnte sie hier ja auch tun, wozu gab es im Stadtzentrum freies WLAN
? Und es war sogar unauffälliger, das Handy anzustarren als die Tür des Friseurs gegenüber.
Barrett & Browning erwies sich als Anwaltskanzlei mit dem Schwerpunkt Familienrecht, bot auf der Website jedoch auch Dienste in den Bereichen Landbesitz und dazugehörige Rechte sowie Heraldik und Erwerb schottischer Adelstitel an.
Lady Finola, Countess of Somewhere-or-Other. Gab es wirklich Leute, die sich einen schottischen Adelstitel kauften? Was so etwas wohl kostete?
Noch während Finola im Internet nach dieser interessanten Information fahndete, sah sie aus dem Augenwinkel, dass Craig Erskine wieder auf die Straße trat. Sein Blick traf sie und schien einen Moment lang zu verharren. Sie zuckte zusammen und beugte sich tiefer über ihr Handy. Natürlich konnte er sie nicht von einem der letzten Tage wiedererkannt haben, aber ihre Goth-Verkleidung war nun wohl verbrannt, wie man so sagte. Schade. Sie hatte sich heute sehr wohl darin gefühlt, ein bisschen wie früher als Teenager, als sie ihre Mutter mit den schwarzen Klamotten und ihrem Make-up provozieren konnte.
Langsam setzte sie sich in Bewegung und folgte Craig Erskine in größerem Abstand. Aber es gab keine aufschlussreichen Beobachtungen mehr; er kaufte sich ein Sandwich und aß es auf dem Rückweg zur Bank, er traf niemanden, telefonierte nicht und verhielt sich schrecklich langweilig. Zum Glück war er immerhin angenehm anzusehen, auch jetzt mit dem neuen, besonders seitlich und hinten kürzeren Haarschnitt. Ob die Haare sich dort hart und stoppelig anfühlten oder doch eher weich?
Nein, diese Gedanken waren nicht zielführend. Sie hatte auch Wichtigeres zu tun, jetzt, wo das Objekt ihrer Observierung wieder sicher in der Bank weilte. Herauszukriegen, was es mit Barrett & Browning in Invertingle auf sich hatte, zum Beispiel. Obwohl das ja eigentlich Anne selbst übernehmen wollte. Aber andererseits hatte sie ihr den Auftrag gegeben, herauszufinden, wie Ernie und Craig zueinander standen. Das alles ließ sich nicht so einfach trennen.
Warum interessierte Anne auf einmal die Verbindung der beiden Männer? Und warum konnte sie die Frage nicht selbst beantworten? Sie kannte sie doch seit Jahren persönlich. Aber vielleicht war genau das das Problem: Sie hatte nicht genug Abstand, um neutral zu urteilen.
Verdächtigte sie Craig Erskine, etwas über Ernies Verschwinden zu wissen, was er nicht preisgab? Hatte der untreue Craig am Ende gar nichts mit einer anderen Frau, sondern ein Geheimnis mit seinem angeheirateten Onkel? Eines, das mit Barrett & Browning in
Invertingle zu tun hatte?
Nun, Finola hatte schon eine Idee, wie sie mehr über diese Seite von Craig Erskine herausfinden konnte. Mrs B hatte schließlich gestern erzählt, dass sie auch bei den Erskines putzte. Und Mrs B schien eine reiche Quelle des Wissens zu sein, deren Telefonnummer praktischerweise an Annes Kühlschrank geheftet war.