Kapitel 23
Anne trug das graue Business-Kostüm, das sie sich nach Malcolms Tod zur Wiedereröffnung der Detektei gekauft hatte. In einem solchen Kostüm mit weißer Bluse und den dezenten Perlenohrringen wurde man ernst genommen. Genau das brauchte sie, wenn sie die Anwaltskanzlei unter die Lupe nahm.
Bis Stirling konnte sie auf der Autobahn fahren, danach waren die Meilen deutlich langsamer zurückzulegen. Lieber wäre sie mit dem Zug gefahren, was bis Oban über Glasgow eigentlich bequem möglich gewesen wäre, aber das hätte zu lange gedauert. Und natürlich war es ohne fahrbaren Untersatz kompliziert, von Oban nach Invertingle zu gelangen. Manchmal musste das Autofahren eben sein.
Am Loch Earn, wo die A 84 in die A 85 mündete, fiel ihr ein, dass sie statt ihres kleinen knallroten Flitzers besser Malcolms unauffälligen Dienstwagen hätte nehmen sollen. Aber jetzt war es zu spät. Immerhin hatte sie noch Zeit, sich eine passende Hintergrundgeschichte auszudenken, in die auch ihr wenig seriöser Wagen passte, falls sie darauf angesprochen werden sollte.
Finolas Beschreibung von Invertingle erwies sich als akkurat – es war eine dieser kleinen Ansammlungen von Häusern, die man ihrer Meinung nach eigentlich nicht einmal als Dorf bezeichnen konnte. Erstaunlich, dass sich hier eine Anwaltskanzlei befand.
Barrett & Browning war leicht zu finden, ein glänzendes Messingschild prangte am einzigen wirklich groß zu nennenden Haus, das direkt an der Straße stand. Anne fuhr zunächst vorbei und parkte ihren Wagen ein Stück weiter in einem Seitengässchen. Dann zog sie ihre bequemen Sneakers aus und ein Paar elegante schwarze Pumps an und nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz. Sie atmete einmal tief durch und schlenderte zurück zur Anwaltskanzlei.
Ihr Klingeln schien niemand zu hören, im Haus rührte sich nichts. Das durfte nicht wahr sein! War sie etwa drei Stunden umsonst hierhergefahren? Sie klingelte noch einmal und lauschte. Da, waren das nicht Schritte?
Tatsächlich öffnete eine Frau in den Vierzigern in Jeans und grünem Hoodie die Tür. Sie sah erschrocken aus und versuchte schnell, mit einem Bleistift ihr Haar zu einem lockeren Knoten festzustecken.
»Ja, bitte?«
»Guten Morgen, ich komme in einer Familienangelegenheit.« Das war ja nicht ganz gelogen, fand Anne.
»Oh, äh, Mr Barrett ist diese Woche verreist. Und ich, also … kommen Sie doch erst einmal herein. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Ich kann Ihnen aber auch einen Tee machen?«
»Gerne einen Kaffee.«
Die Frau führte sie in ein Büro, das Annes eigenem recht ähnlich sah. Auf der einen Seite des großen Schreibtisches stapelten sich Aktenmappen, allerdings schien es sich hier um tatsächliche Fälle zu handeln und nicht um Attrappen wie bei ihr in der Detektei. Ein zweiter Tisch mit einem PC stand an der Wand. Auch dort lagen Akten.
»Einen Moment bitte, nehmen Sie doch Platz, ich bin gleich wieder da.«
Bevor Anne nachfragen konnte, ob denn statt des abwesenden Mr Barrett Mr Browning zu sprechen war, war die Frau verschwunden, kam jedoch überraschend schnell mit zwei Kaffees zurück.
»Ich hatte gerade eine Kanne gekocht«, erklärte sie und reichte Anne eine Tasse. »Ich bin Elizabeth Browning. Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug, eigentlich ist die Kanzlei heute geschlossen, mittwochs kümmere ich mich immer um die Akten und den Verwaltungskram.«
Anne nahm ihren Kaffee entgegen, verzichtete auf Milch und Zucker und registrierte erleichtert, dass sie einem Fettnäpfchen entgangen war.
»Anne Scott«, stellte sie sich vor. »Ich komme als Witwe und Erbin von Malcolm Wallace Scott …«
»Und in welcher Angelegenheit?«
»Ich führe nun seine Geschäfte weiter.«
Ms Browning runzelte die Stirn. »Der Name sagt mir leider gar nichts. Es muss sich wohl um einen Mandanten meines Onkels handeln, ich meine Mr Barrett. Moment, ich schaue einmal nach.«
Sie wechselte den Platz und tippte etwas in die Computertastatur. Aus ihrem Blickwinkel konnte Anne nicht erkennen, welche Information auf dem Bildschirm erschien, aber sie schien Ms Browning nicht zufriedenzustellen. Als sie sich wieder an den Schreibtisch setzte, waren ihre Stirnfalten noch tiefer geworden.
»Das ist seltsam, ich finde den Namen Scott nicht im System. Sind Sie sicher, dass Ihr verstorbener Gatte die Dienste unserer Kanzlei in Anspruch genommen hat?«
»So hat er es mir gesagt. Und ich habe ja auch dies hier.«
Anne zog die Visitenkarte, die Finola in Craigs Auto gefunden hatte, aus der Handtasche und schob sie über den Schreibtisch. Ms Browning betrachtete sie nachdenklich.
»Könnte es sein, dass er zwar geplant hatte, sich mit uns in Verbindung zu setzen, es dann aber nicht mehr tun konnte, weil er … Sie sagten, Sie seien Witwe …« Sie sah Anne an.
»Das könnte möglich sein. Er starb bei einem Verkehrsunfall.« Anne atmete tief durch und fuhr fort: »Dann müsste aber sein Freund und Partner die Angelegenheit weiterbetrieben haben. Könnten Sie bitte noch einmal nachschauen? Gibson. Ernest.«
Ms Browning nickte und zog erneut ihren Computer zurate. Als sie sich Anne wieder zuwandte, runzelte sie die Stirn.
»Es tut mir wirklich sehr leid, ich finde hier auch keinen Ernest Gibson. Um was für eine Angelegenheit ging es denn?«
»Um die Investition einer größeren Geldsumme«, behauptete Anne.
»Also ländlicher Grundbesitz, nehme ich an. Dafür bin tatsächlich ich in der Kanzlei zuständig, mein Onkel ist spezialisiert auf Familienrecht. Aber wie ich schon sagte, der Name Malcolm Scott sagt mir nichts. Und Ernest Gibson auch nicht. Tut mir sehr leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.«
Anne schwieg. Ms Browning wirkte nicht so, als ob sie etwas verbergen wollte. Wenn sie aber tatsächlich weder Mal noch Ernie kannte, was war dann mit der Visitenkarte?
»Würden Sie bitte noch einmal schauen, ob sie dann vielleicht den Namen Erskine finden?«
Erneut befragte Ms Browning den Computer.
»Erskine. Ja, hier hab ich was. Erskine, Georgia. Eine Mandantin von Mr Barrett.«
Anne kannte keine Georgia Erskine, aber vielleicht konnte sie herausfinden, ob sie etwas mit Craig zu tun hatte.
»Ah, dann war es sicher Mr Barrett, der sie bei der Erbschaftsangelegenheit vertreten hat. Oder bei der Scheidung?« Das war jetzt sehr wild geraten, aber was sonst blieb Anne übrig?
Ms Browning warf einen erneuten Blick auf den Bildschirm.
»Bei der Scheidung vor eineinhalb Jahren.«
Treffer! Nur das Datum passte überhaupt nicht. Außerdem – soweit sie wusste, war Craig vor seiner Ehe mit Amanda nie verheiratet gewesen. Ob sie mehr herausfinden konnte?
»Dann müsste aber auch Craig Erskine bei Ihnen verzeichnet sein«, behauptete sie. »Oder möglicherweise Amanda?«, fügte sie schnell noch hinzu.
Ms Browning tippte noch einmal auf der Tastatur herum, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, der Ex-Ehemann heißt ja Cameron, und andere Vornamen zu Erskine finde ich in unserem System nicht.«
Ein Verwandter? Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Anne konnte natürlich nicht jeden aus Craigs Familie kennen. Möglicherweise ein weitläufiger Cousin. Aber wie war Craig dann an die Visitenkarte gekommen? Wenn Barrett & Browning die Frau dieses anderen Mr Erskine vertreten hatten, würde der Ehemann wohl kaum die Karte des gegnerischen Anwalts weitergeben.
»Das verstehe ich nicht.« Anne schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen in dieser Angelegenheit so gar nicht weiterhelfen kann. Aber vielleicht bin ich in der Lage, etwas anderes für Sie zu tun?«, unterbrach Ms Browning Annes Gedanken. »Jagd- oder Fischereirechte zum Beispiel?«
Anne schüttelte leicht den Kopf und trank ihren Kaffee aus. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie hier mehr über Mal erfahren würde.
»Darf ich noch fragen, wer unsere Kanzlei Ihrem Mann empfohlen hat? Wissen Sie das? Wir sind ja eher klein, und Invertingle ist nun auch nicht gerade der Nabel der Welt. Aber das Haus gehört meinem Onkel seit Generationen, und von Oban aus ist es doch sehr leicht, hierherzukommen, auch für unsere Mandanten von den Inseln. Und es gibt keine Touristen und daher immer ausreichend Parkplätze.« Ms Browning lächelte.
Anne machte einen letzten Anlauf: »Eine Bekannte von Ernest Gibson, die in Invertingle lebt: Jean Barlow.«
»Ah ja, Ms Barlow kenne ich natürlich. Das freut mich aber, dass sie mit uns zufrieden ist und uns weiterempfiehlt.«
»Sie ist, so wie ich gehört habe, eine große Gartenfreundin?«
»Oh ja! Ms Barlow hat einen wunderschönen Garten. Sie steht damit sogar im Handbuch Gardens of Scotland. Samstags kann man ihren Garten übrigens auch besichtigen. Von April bis Oktober, glaube ich.« Ms Browning war sichtlich stolz auf ihre Mandantin.
»Das ist ja interessant. Sehen Sie, ich habe auch einen Garten, allerdings ist mir die Arbeit zu viel, deshalb habe ich schon lange einen Gärtner, der mir hilft. Pflegt Ms Barlow den Garten ganz alleine?«
Das war zwar ein wenig gelogen, weil ihr eigener Garten kaum der Rede wert war und Mr B bis zum Ruhestand eigentlich als Briefträger gearbeitet hatte, aber wenn sie schon hier war, konnte sie zumindest noch versuchen, mehr über Ernies Techtelmechtel zu erfahren.
»Einen Gärtner hat Ms Barlow nicht, aber …« Ms Browning lehnte sich ein wenig zu ihr, »sie findet immer wieder helfende Hände für ihr Schmuckstück. Sie ist ja auch nicht unattraktiv, da stehen die etwas reiferen Männer förmlich Schlange. Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Gartenfreunde den Weg nach Invertingle finden, um bei ihr im Garten mitzuhelfen.«
Sie lachte, aber es kam Anne vor, als ob sich eine Spur von Bitterkeit in diesem Lachen verbarg. Oder war es Verachtung?
Jean Barlow. Hatte Finola wirklich alles aus ihr herausgeholt, was sie wusste? Vielleicht sollte sie sich diese BabyJean lieber selbst einmal ansehen.