Kapitel 27
»Kann ich erst mal Mittagspause machen?«, fragte Finola mit einem Seitenblick auf Anne, die auf sie ziemlich gereizt wirkte.
»Ja, natürlich. Soll ich Sie nach Oban fahren?« Ms Barlow schien die Gelegenheit, mit einer freundlichen Geste auch gleich ihre unerwünschte Besucherin loszuwerden, beim Schopf packen zu wollen.
Doch diese lächelte zuckersüß. »Das ist nicht nötig, Jean, ich muss ohnehin weiter, da kann ich Rose bis Oban mitnehmen. Falls Ihnen sonst noch etwas einfällt, rufen Sie mich doch bitte an.« Sie nestelte aus der Tasche ihrer Kostümjacke eine Visitenkarte und reichte sie Jean.
»Danke. Sehr nett, dass Rose mit Ihnen fahren kann. Und falls Ernie sich meldet, sage ich natürlich Bescheid.« Ms Barlow warf einen Blick auf die Karte. »MWS Investigators?«
»Oje, da hab ich Ihnen eine falsche Karte gegeben«, sagte Anne schnell und nahm sie ihr wieder aus der Hand. »Tatsächlich überlege ich, einen Detektiv einzuschalten, der in Südamerika nach Ernie forscht. Hat er irgendein bestimmtes Land genannt?«
Jean Barlow schüttelte den Kopf.
»Haben Sie etwas zu schreiben? Dann notiere ich Ihnen meine Nummer.«
Finola war beeindruckt, wie Anne es verstand, die Situation zu retten. Sie hatte ihr bisher nicht zugetraut, so improvisieren zu können.
Erst als sie in Annes Wagen saßen, brach diese ihr Schweigen. »Was soll das? Hatte ich nicht gesagt, den Fall Ernest Gibson übernehme ich selbst?«
»Ich habe aber den Fall Craig Erskine in Bearbeitung«, erwiderte Finola, während sie Brille und Kopftuch abnahm und in ihren Beutel steckte. »Und der hat mich eben auch hierhergeführt. Sie hatten doch gesagt, ich solle mich darum kümmern, wie Ernie und Craig sich verstanden haben, und dann ist da ja die Visitenkarte, also bin ich …«
»Okay, okay. Und was ist mit Ihrer Observierung von Craig?«
»Seine Frau ist heute selbst mit ihm zusammen und hat mir abgesagt.«
»Und – wie sieht es mit seiner Treue aus?«
»Bisher kein Anzeichen einer Geliebten.«
»Dann beenden wir in den nächsten Tagen die Observierung«, entschied Anne. »Meiner Erfahrung nach hätten Sie inzwischen Rauch sehen müssen, wenn irgendwo ein Feuer wäre.«
Das überraschte Finola nun doch. Glaubte Anne tatsächlich an Craigs Unschuld, oder versuchte sie, Finola bei den augenblicklichen Ermittlungen irgendwie loszuwerden? Am Ende, weil sie ärgerlich war, dass Finola sie bei Jean Barlow in Invertingle belauscht hatte? Wollte sie nicht, dass Finola zu viel herausfand? Vielleicht etwas, was Uncle Ernie und Anne betraf? Wie genau war die Beziehung zwischen ihnen gewesen? Hatte Anne am Ende selbst was damit zu tun, dass Ernie verschwunden war? Sie hatte Finola schon von Anfang an nicht wirklich in den Fall einbezogen.
Finola betrachtete Annes Gesicht von der Seite. Ihre Chefin sah eher bekümmert als wütend aus. Steckte vielleicht doch eine Liebesgeschichte dahinter?
Als sie das Zentrum von Oban erreichten, wurde praktischerweise gerade vor ihnen ein Parkplatz frei, den Anne sofort besetzte. Sie stiegen aus.
»Ich nehme an, Sie sind mit dem Wagen der Detektei hier«, sagte Anne.
Finola nickte.
»Zwei Autos, zwei Fahrerinnen, das ist sehr unwirtschaftlich. So geht das nicht.«
Finola nickte wieder. Würde Anne ihr etwa kündigen? Sie hielt die Luft an.
»Ich habe Hunger. Wissen Sie, wo man hier gut eine Kleinigkeit essen kann?«
Keine Kündigung. Finola atmete aus.
»Wir könnten zum Green Shack gehen. Wenn Sie Meeresfrüchte mögen.«
Anne nickte und folgte Finola zum Hafen.
Wie schon am Sonntag zuvor stand Dave an einem der Tische und verzehrte Muscheln. Finola blieb stehen und sprach ihn an.
»Hi Dave, ich dachte, du kommst nur sonntags?«
»Na ja. Meistens.« Dave sah auf und musterte sie genauer. »Aber wer … Amanda! Ja, ich erinnere mich, du warst am Sonntag hier. Hätte dich fast nicht erkannt. Und – ist dein Onkel inzwischen wieder aufgetaucht?«
»Leider nein. Dies ist übrigens meine Tante. Wir waren heute noch einmal in Invertingle. Das war der letzte Aufenthaltsort, von dem wir wissen.«
»Freut mich.« Dave nickte Anne zu. »Aber das ist ja seltsam«, wandte er sich dann wieder an Finola. Er schien allerdings nicht wirklich interessiert an einem verschwundenen Onkel, ganz im Gegensatz zu seinen Muscheln, die er liebevoll beäugte.
»Dir ist nichts mehr eingefallen?«, bohrte Finola nach.
»Nicht wirklich. Außer dass du mal da drüben im Pub nachfragen kannst. Der Wirt heißt Angus und soll ’ne Liebschaft in Invertingle haben. Mit der Gartentante, die da lebt. Vielleicht hat der deinen Onkel dort zwischen den drei Häusern mal rumlaufen gesehen?« Er lachte, gabelte genussvoll das Fleisch der letzten Muschel in den Mund und wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab. »Sorry, ich muss wieder los. Aber beim nächsten Mal geb ich dir einen aus!«
»Sie haben hier also schon Freunde – Amanda?« Annes Tonfall schwang zwischen Ironie und Erstaunen.
»Ich hab am Sonntag natürlich etwas rumgefragt. Schade, dass Dave mir das mit dem Pub-Wirt erst eben erzählt hat. Soll ich …«
»Jetzt essen wir erst mal was, und dann sollten wir ein wenig absprechen, wie wir weiter vorgehen.«
Angus’ Pub war klein, und er war an einem Wochentag um die Mittagszeit ziemlich leer. An einem Tisch saß ein Pärchen und aß eine Shepherd’s Pie. An der Bar standen zwei betagte Herren und hielten sich an ihren Pint-Gläsern fest.
»Hi«, grüßte Finola mit ihrem schönsten Lächeln, während Anne sich mit dem Blick zur Bar an einen der Tische an der Wand setzte. »Ein Ginger Beer, bitte, und eine Limonade.«
»Kommt sofort.«
»Sie sind also Angus?«
»Ja, wer fragt nach mir?«
»Ich bin Amanda, Dave hat mir von Ihnen erzählt.«
»Dave?«
»Er arbeitet auf der Fähre.«
»Ach, ja, der Dave!«
»Er meinte, Sie wären mit Jean Barlow aus Invertingle befreundet und könnten mir vielleicht helfen, meinen Onkel zu finden. Seit er vor über einer Woche Ms Barlow besucht hat, haben wir nichts mehr von ihm gehört!«
»Soso.«
»Haben Sie ihn mal dort gesehen?« Finola zog ihr Handy hervor und zeigte Angus Ernies Foto.
Angus warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf. »Ich war seit Monaten nicht in Invertingle. Aber wenn er einer von Jeans Gartenfreaks war …« Er zuckte mit den Schultern.
»Was heißt das?« Finola lehnte sich ein wenig mehr über die Bar und riss ihre Augen ungläubig fragend auf.
»Also, um das richtigzustellen: Mein, äh, Engagement mit Jean Barlow ist vorbei. Also, nicht dass das je was Festes gewesen wäre, aber ich lass mich nicht gern verarschen. Und glaub mir, Lassie, die Gartenfreaks kommen nicht nur aus Spaß an der Gartenarbeit.«
Finola sah ihn auffordernd an.
Angus zögerte nur kurz. »Das weiß hier ohnehin jeder – die Dame sucht sich die Männer für den Garten im Internet und bezahlt sie dann im Bett. Scheint ein erfolgreiches Geschäftsmodell zu sein, auf jeden Fall ist ihr Garten immer äußerst gepflegt und kriegt sogar Auszeichnungen.«
Uncle Ernie war also nicht der Einzige gewesen, der mit BabyJean ein Techtelmechtel gehabt hatte? Ihre Bitte um Hilfe auf dem Gartenportal hatte Methode?
»Wirklich?«, fragte sie, und den überraschten Gesichtsausdruck musste sie nicht einmal spielen.
»Wirklich. Die männermordende Jean ist hier inzwischen bekannt. Von uns geht keiner mehr mit ihr aus.«
Angus’ Stimme klang bitter. Ob er eifersüchtig auf die Gartenfreaks war, die Ms Barlows Gunst genossen? Wahrscheinlich zumindest ein bisschen. Und wie es schien, war er auch nicht der einzige Mann aus der Gegend, mit dem sie involviert gewesen war. Eifersucht konnte durchaus ein Motiv sein, Ernie zu vertreiben oder gar endgültig verschwinden zu … Nein, was dachte sie da?
»Ich nehme an, das ist ihre Tante dort drüben«, sagte Angus leise, als er kassierte und ihr die Gläser zuschob. »Der sollten Sie besser nichts davon erzählen, was ich Ihnen gesagt hab. Die sieht sehr nett und anständig aus.«
Finola nickte und ging hinüber zu Anne.
»Haben Sie was Interessantes erfahren?«, fragte die sofort. »Den richtigen Blick, um älteren Herren Informationen zu entlocken, haben Sie auf jeden Fall.«
»Danke.« Finola setzte sich. »Und ja. Ich habe was Interessantes erfahren. Aber leider habe ich jetzt ein ganz schlechtes Gefühl, was das Verschwinden meines angeblichen Onkels betrifft. Vielleicht sollten wir besser die Polizei einschalten.«