Kapitel 30
Mit dem Pub-Besitzer einen Plausch zu beginnen, fiel Anne nicht schwer, denn Angus erwies sich als ein Mann, der gern seine Meinung preisgab. Vor allem nachdem sie ihm durch die Blume erklärt hatte, dass sie ihren angeblichen Gatten eigentlich gar nicht aus den Fängen der männermordenden Jean befreien wollte, sondern nur suchte, weil er ihr gemeinsames Konto geplündert hatte.
»Wie kann er eine Frau wie Sie für so eine aufgeben!« Angus schüttelte den Kopf und warf ihr einen Blick zu, der ein ungewohntes Gefühl von Wärme in ihr erzeugte. Flirtete er etwa mit ihr?
»Nun, die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden«, sagte Anne. »Ernie ist eben …« Sie hob die Augenbrauen und zuckte mit den Achseln. »Haben Sie ihn mal kennengelernt? War er vielleicht mal auf ein Pint hier?«
Sie nestelte ihr Handy aus der Handtasche und suchte Ernies Foto heraus. »Hier, das ist er.«
Angus nahm ihr das Handy aus der Hand und betrachtete das Bild. »Kommt mir nicht bekannt vor, außer von vorhin. Da hat mir Ihre Nichte das gleiche Bild gezeigt. Aber wenn die gute Jean ihn in den Krallen hatte, hat er es ohnehin nicht bis hierher geschafft.«
»Ist sie so einnehmend? Bei allen? Wie viele Männer hat sie denn so gehabt?«
Angus lachte. »Soll ich Ihnen die, von denen ich weiß, jetzt etwa aufzählen?«
»Warum nicht?«, fragte Anne mit einem Augenaufschlag, den sie schon vergessen geglaubt hatte. »Ich habe Zeit.«
Angus lachte noch lauter. »Sie sind mir eine!«
Anne lächelte, und er setzte gerade zum Sprechen an, als der Signalton einer WhatsApp-Nachricht erklang.
Angus schaute auf Annes Handy, das er noch immer in der Hand
hielt. »Ein Foto für Sie«, sagte er und gab es ihr zurück.
Musste das ausgerechnet jetzt sein? Anne warf einen kurzen Blick auf das Display. Eine Message von Finola ohne weiteren Kommentar. Braun in braun. Was war das?
Sie klickte die Nachricht an, um das Bild größer zu sehen. Wollte Finola ihr zeigen, wie sie umgraben konnte? Sich über ihre Arbeit beschweren? Nein, da war noch etwas in der Mitte des Bildes – das musste sie weiter vergrößern. Was war das? Ein Hemdenknopf? Das sah ja fast aus, als ob – als ob Finola eine Leiche ausgegraben hatte.
»Einen Moment!« Anne drehte sich zur Seite und wählte Finolas Nummer. Sie lauschte dem Freiton, bis die Mailbox ansprang. Dann versuchte sie es noch einmal mit dem gleichen Ergebnis. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte Angus. »Sie sind ganz blass geworden. Soll ich Ihnen einen Whisky einschenken?«
Anne schüttelte den Kopf. »Ich muss die Polizei benachrichtigen.«
»Die Polizeistation ist gleich hier um die Ecke«, erklärte Angus. »Was ist passiert?«
Anne hielt ihm das Handy hin. »Für mich sieht das aus, als ob meine Mitarbeiterin hier eine Leiche ausgegraben hat. Und jetzt antwortet sie nicht.«
Angus starrte ungläubig auf das Foto, dann in Annes Gesicht. »Wie kann ich helfen?«
»Ich muss zu Finola fahren und die Polizei …« Ihre Stimme überschlug sich.
Angus legte seine Hand auf ihre. »Warten Sie, Sie können nicht einfach so alleine irgendwohin fahren, wo eine Leiche –«
»Ich muss«, unterbrach sie ihn. Sie zog ihre Hand weg und nestelte den Autoschlüssel aus ihrer Tasche. »Ich habe gelogen, mein Name ist Anne Scott, und ich bin nicht wirklich Ernest Gibsons Frau, sondern eine Privatdetektivin. Dies ist einer meiner Fälle.«
»Oho!« Angus fasste sich schnell. »Gut. Die Polizei übernehme ich, wohin soll ich sie schicken?«
»Nach Invertingle, zu Jean Barlow.«
»Shit, hat die jetzt tatsächlich einen Mann ermordet?«
Anne antwortete nicht mehr. Im Laufschritt eilte sie zu ihrem
Auto. Sie spürte es mit jeder Faser – Finola war in Gefahr.