Kapitel 36
Das Blue Kitten
war wieder recht voll, sodass Finola sich hinter einer Gruppe junger Leute postieren konnte, um Craig Erskine im Blick zu behalten. Sie hatte sich dieses Mal nicht groß verkleidet, Jeans, Lederjacke, Sneakers, eine schwarze Kurzhaarperücke und viel Make-up. Es würde die letzte Observierung sein, wenn Craig Erskine nicht heute noch seine Geliebte traf und Amanda daraufhin den Auftrag verlängerte.
Gestern war er sofort nach Dienstschluss mit dem Bus nach Hause gefahren, wofür Finola dankbar gewesen war, denn bis dahin hatten die Wunde am Kopf und der Bluterguss am Knie doch wieder ziemlich geschmerzt.
Anne hatte den Fall bereits abschließen wollen, als sie aus Laurie’s Café zurückgekommen war, aber Finola hatte ihre Chefin davon überzeugt, dass sie fit genug war, noch zwei Tage durchzuhalten. Anne hatte sich überzeugen lassen, dass der Freitagabend ein Schlüsseltermin war. Ein traditioneller Pubbesuch mit den Kollegen, von dem sich der untreue Craig nach kurzer Zeit absetzen konnte, bot ein tolles Alibi.
Mit ihrem Gin Tonic in der Hand kam sie mit zwei deutschen Touristinnen, Lisa und Sophie, ins Gespräch, die ebenfalls Gin Tonic tranken – das war zum einen ganz nett und zum anderen natürlich praktisch. Allein hier zu stehen und einen Mann zu beobachten, hatte etwas von Stalking.
Aha, allgemeine Verabschiedung mit Umarmungen, machte sich Craig auf den Weg? Nein, seine Kollegen Dan und Jess drängten sich Richtung Ausgang, während er mit einem älteren Herrn weiterdiskutierte. Dan und Jess? Die Streithähne aus den Princes Street Gardens? Hatte sie da etwas verpasst? Nun, es konnte ihr egal sein, die beiden waren kein Teil des Auftrags.
Zwei junge Männer sprachen Finola und die Touristinnen an und
gesellten sich zu ihnen. Lisa und Sophie schütteten sich aus vor Lachen, weil sie nur die Hälfte der Sätze verstanden.
»Euer Schottisch ist einfach gruselig«, behauptete Lisa.
»Gruselig schön!«, berichtigte Sophie, und natürlich ließen es sich die beiden Schotten nicht nehmen, mit immer übertriebenerem Akzent Wörter vorzuschlagen, die die Deutschen noch nie gehört hatten.
Finola warf einen Blick hinüber zu Craig Erskine. Dummerweise lachte Lisa in diesem Moment so schrill auf, dass er herübersah. Mist. Sofort führte Finola ihr Glas zum Mund und tat, als wäre sie an dem lustigen Gespräch beteiligt und völlig uninteressiert an allem anderen. Aus dem Augenwinkel konnte sie allerdings sehen, dass Craig immer noch herüberschaute und die Stirn runzelte.
Was passte ihm nicht?
Sie würde ihre Stimmung nicht von ihm beeinflussen lassen, schließlich war sie beruflich hier, während er darauf wartete, fremdzugehen. Also warf sie ihm einen giftigen Blick zu und drehte sich um. Dann trank sie ihr Glas leer und verabschiedete sich von den Deutschen, die sie kaum noch beachteten, so sehr hatten die jungen Schotten sie vereinnahmt.
Würde sie eben draußen warten. Er würde sicher bald kommen.
Tatsächlich musste sie nur zehn Minuten warten, bis Craig Erskine aus dem Pub trat. Finola drückte sich tiefer in das Eingangstor, in dem sie ein wenig Schutz vor dem Regen gefunden hatte. Das Objekt ihrer Observierung schlug den Mantelkragen hoch und ging Richtung Princes Street. Sie folgte ihm in sicherem Abstand.
Einmal sah er sich um, aber Finola trat schnell in den Imbissladen ein, an dem sie gerade vorbeikam.
»Was kann ich für dich tun?«, zwitscherte die junge Frau hinter der Theke.
»Sorry, ich bin hier falsch«, antwortete Finola, zählte leise bis zehn und nahm erneut die Verfolgung auf. Gerade rechtzeitig – Craig bog um die Ecke. Sie hastete hinterher, bis sie ihn wieder im Sichtfeld hatte.
In der Princes Street wechselte er die Straßenseite und blieb an der Bushaltestelle stehen, dort, wo die Linie 11 Richtung
Fairmilehead abfuhr. Und da kam der Bus auch schon. Ein kurzer Blick zeigte, dass gerade kein Auto zu sehen war. Finola begann zu rennen. Tatsächlich, Craig stieg ein. Zum Glück hatte der Busfahrer sie gesehen und wartete, bis auch sie völlig außer Atem einsteigen konnte.
Craig Erskine musste nach oben gestiegen sein, denn auf der unteren Ebene saßen nur zwei ältere Frauen und eine Mutter mit einem Baby im Tragetuch. Finola ließ sich auf einen der freien Sitze fallen. Das hier bedeutete wohl, dass er nach Hause fuhr. Zu seiner eigenen Frau, nicht zu irgendeiner anderen. Sie würde ihm aber sicherheitshalber heute tatsächlich bis zur Haustür folgen – es war ja das letzte Mal.
Das war schon ein wenig enttäuschend. Auch dieser Fall erwies sich also nicht als echte Missetat. Andererseits – war es nicht schön zu wissen, dass nicht jeder Mann untreu war?