Kapitel 37
»Hast du vor der Trauerfeier noch Zeit?«, fragte Anne beim Frühstück. »Ich möchte gerne ein paar Dinge mit dir besprechen.«
Sie sah nicht gut aus. Sorgenvoll. Oder vielleicht auch nur trauernd. Immerhin würden sie heute Ernies Asche zu Grabe tragen, und Anne war jahrelang mit ihm befreundet gewesen.
Finola hatte lange überlegt, ob sie Amandas Einladung zur Trauerfeier überhaupt annehmen sollte, schließlich war diese ja eigentlich eine Angelegenheit für die Familie und für enge Freunde. Aber Anne und Lachie hatten ihre Bedenken beiseitegefegt.
»Ohne dich hätte Amanda ihren Onkel nie begraben können«, hatte Lachie schließlich gesagt. »Und schwarze Klamotten besitzt du ja. Also keine Ausreden!«
»Ja, ich hab Zeit«, antwortete Finola.
»Dann komm bitte mit in mein Büro.« Anne stand auf. Warum sprach sie nicht einfach am Frühstückstisch mit ihr weiter? Irgendetwas stimmte nicht.
Im Büro setzte Anne sich sofort hinter ihren Schreibtisch und bot Finola den Platz davor an. Auch das war ungewöhnlich.
»Ich habe gestern bei Amanda und Craig endlich doch noch herausgefunden, was es mit der Visitenkarte von Barrett & Browning auf sich hatte«, begann Anne. »Sie hat tatsächlich in dem Reiseführer gesteckt, ich habe den Abdruck der Heftklammer gefunden. Das Buch gehörte Jean Barlow und sie hatte es wohl an Ernie geschickt, um ihm Appetit auf einen Aufenthalt in Invertingle zu machen. Ein Foto fand sich auch noch zwischen den Seiten, als ich es durchgeblättert habe. Jean Barlow – mit oben ohne und unten gar nichts.«
Finola unterdrückte ein Grinsen.
»Dann gehörte der Reiseführer also Ernie und gar nicht Craig?«
»Genau. Ernie muss ihn im Auto verloren haben, als Craig ihn nach dem letzten Abendessen nach Hause gefahren hat, weil er ein bisschen viel getrunken hatte. Craig hat das Buch gefunden, als er wieder daheim ankam, und es ins Handschuhfach gesteckt, um es später zurückzugeben.«
»Schön, dass dies jetzt auch geklärt ist«, sagte Finola.
Was sie jedoch immer noch nicht verstand – warum erzählte Anne ihr das nicht einfach beim Frühstück? »Dann kannte also Ernie Barrett & Browning tatsächlich gar nicht.«
Anne schüttelte den Kopf.
»Und Craig auch nicht. Und dein verstorbener Mann auch nicht«, fügte Finola spontan hinzu.
Anne zuckte zusammen. »Was weißt du von meinem Mann?«
»Nicht viel. Nur, dass du ihn irgendwie im Verdacht hattest, Barrett & Browning zu kennen. Sonst hättest du Ms Browning nicht nach ihm gefragt.«
Anne nickte langsam. »Ich dachte, er könnte mit Ernie zusammen Geld angelegt haben. Über die Anwälte in Invertingle.«
»Was?« Finola ließ sich im Stuhl zurückfallen. »Wieso denn das?«
Anne hob die Schultern und schluckte sichtbar. »Ja, damit komme ich zu meinem eigentlichen Problem. Malcolm hat nämlich ein paar Wochen vor seinem Tod Geld von unserem Konto abgehoben. Eine größere Summe …«
Finola beugte sich wieder vor. »Und?«
»Und das Geld ist verschwunden. Und ich kann die Schulden der Detektei nicht bezahlen, die Malcolm hinterlassen hat. Und die Bank gibt mir kein Darlehen, weil ich ja nicht einmal vom Fach bin. Und ich muss MWS Investigators zum Monatsende schließen und Konkurs anmelden. Das ist das Und.«
»Nicht wirklich!«
»Doch wirklich. Es tut mir leid. Ich hatte auf einen Kredit gehofft und ausgerechnet, mich damit noch etwa drei Monate über Wasser halten zu können. Wenn sich in dieser Zeit ein paar lukrative Mandate aufgetan hätten …« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber nachdem die Bank meinen Antrag nun endgültig abgelehnt hat und stattdessen eine weitere Rechnung ins Haus geflattert ist, muss ich den Tatsachen ins Auge sehen. Du kannst natürlich noch hier wohnen bleiben, bis du etwas anderes hast.«
Finola schüttelte den Kopf. »Kann dir Amanda nichts leihen? Oder Lachie? Oder sonst eine Freundin?«
»Das kommt nicht infrage. Ich wüsste nicht, ob ich das Geld je zurückzahlen könnte.«
»Aber wenn wir noch mehr Aufträge bekommen und Fälle lösen und die Honorare …«
»Es tut mir leid. Ich dachte, ich schaffe es mit all den Einsparungen durch die Büroräume hier im Haus und den Entlassungen der anderen Detektive. Deren Gehälter konnte ich einfach nicht mehr bezahlen. Aber ganz ohne jemanden für Observierungen ging es dann doch nicht. So habe ich eine Aushilfe gesucht, der ich ein Zimmer anbieten konnte, um am Gehalt zu sparen. Ich wollte unbedingt durchhalten, um zumindest Lachies Arbeitsplatz dauerhaft zu erhalten, und fast hätte es geklappt. Aber mir fehlen bis morgen noch genau fünftausend Pfund. Im Grunde eine vergleichsweise fast lächerliche Summe, nicht wahr? Aber wenn man sie nicht hat …«
»Fünftausend Pfund?«, fragte Finola. »Und damit wäre die Detektei gerettet?«
Anne nickte. »Es gäbe zumindest eine Chance weiterzumachen.«
»Also lass uns weitermachen! Mit ein bisschen Werbung können wir mehr neue Aufträge bekommen, und wenn wir dann …«
»Finola, dearie, du hast nicht zugehört. Es fehlen fünftausend Pfund. Bis morgen. Oder hast du diese Summe etwa zufällig noch im Rucksack stecken?«
Ein Lächeln zog über Finolas Gesicht. »Im Rucksack nicht«, sagte sie langsam, »aber auf dem Konto. Bereit zum Abheben. Hab ich von einem netten alten Herrn geerbt, um etwas machen zu können, an dem mein Herz hängt. Und mein Herz hängt seltsamerweise an dieser Detektei. Und an Edinburgh und an dir und an Lachie«, fügte sie schnell hinzu.
»Das kann ich nicht annehmen.« Anne schüttelte den Kopf. Widersprüchliche Empfindungen zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. Dann schien ihr eine Idee zu kommen. »Außer …«
»Außer?«
»Außer du wirst meine Teilhaberin!«
»Du würdest mich als Teilhaberin haben wollen?« Finola musste sich räuspern.
»Warum nicht? Wir könnten es zusammen probieren. In Invertingle waren wir doch ein gutes Team. Und bei der Observierung von Craig hast du erstklassig gearbeitet. Ich sehe deine Zukunft durchaus als Detektivin.«
»Mit nur fünftausend Pfund?«
»Mit den entscheidenden fünftausend Pfund!«
»Wow!« Finola schluckte.
»Wir müssten natürlich einen Vertrag machen, der alles regelt. Und einen neuen Namen finden. MWS , also Malcolm Wallace Scott, passt ja nun nicht mehr.«
»MacTavish & Scott klingt ziemlich gut, denke ich«, tönte eine Männerstimme von der Tür. »Hat den richtigen Rhythmus.«
»Lachie!«, stieß Anne aus.
Finola drehte sich um. Da stand tatsächlich Lachie. Er trug einen ungewohnten schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte und grinste übers ganze Gesicht.
»Soll ich den Sekt gleich aufmachen, oder begießen wir das doch in Ruhe nach der Trauerfeier? Viel Zeit haben wir jetzt nämlich nicht mehr«, sagte er.
»Wie viel hast du gehört?«, fragte Anne.
»Genug.«
»Und was sagst du?«
»Ich gratuliere – uns allen!«