Das Gras um das gelbe Holzhaus reicht mir fast bis zum Knie, und die Apfelbäume stehen in voller Blüte.
Ich ziehe das rostige alte Tor hinter mir zu und gehe über den Kiesweg zum Eingang, während ich gleichzeitig das Schlüsselbund aus der Tasche ziehe.
Es ist heiß, richtig heiß, und ich höre Vogelgesang und das Summen der Hummeln, die mich umschwirren.
Ich schließe auf und betrete die vertraute Diele.
Es riecht ein wenig muffig nach Staub und etwas, das Schimmel sein könnte, aber sonst ist alles wie immer. Vaters Schuhe stehen in zwei ordentlichen Reihen im Regal, und seine Anzüge hängen auf identischen Kleiderbügeln unter der Hutablage.
Ich lege Post und Zeitungen auf die Kommode unter dem Spiegel. Sehe die Briefe durch, um festzustellen, ob etwas dringend aussieht, und stopfe einige Rechnungen in meine Handtasche.
Ich habe keine Infos über Vaters Bankkonto, aber ich glaube, dass ich die in seinem grünen Schreibtisch finden werde. Ich beschließe, danach zu suchen. Wenn ich nichts finde, muss ich die Rechnungen wohl selbst bezahlen, obwohl ich fast nichts mehr auf meinem Konto habe.
Vater wäre entsetzt, wenn seine Rechnungen nicht pünktlich beglichen würden.
Ich streife die Pumps ab und gehe in die Küche.
Alles sieht wie immer aus.
Durch das Fenster kann ich das blaue Wasser des Sees in der Sonne glitzern sehen. Der hohe Rosenstrauch, der längst hätte beschnitten werden müssen, bedeckt fast den gesamten rechten Teil der Fensterscheibe.
Ich gehe zum Kühlschrank und mache ihn auf, bin schon auf verschimmelte Essensreste vorbereitet, doch er ist leer und sauber. Ein vager Geruch nach Reinigungsmittel strömt mir entgegen, und als ich mit dem Finger über ein Glasfach streiche, ist es so rein, dass es unter meiner Berührung fast knistert.
Vater hat den Kühlschrank bereits ausgeräumt und sauber gemacht.
Ich sehe mich um.
Die Herdklappe ist offen, und die Bleche stehen auf einem karierten Küchenhandtuch daneben. Dort sehe ich auch ein offenes Paket Putzwolle.
Das ist typisch Vater, er hat offenbar schon alles für seinen Tod vorbereitet, damit mir das erspart bleibt.
Sofort überkommt mich eine Mischung aus Trauer und schlechtem Gewissen, als mir klar wird, welche Mühe er sich meinetwegen gemacht hat. Dieses Gefühl macht mich noch niedergeschlagener, als ich ohnehin schon bin, und ich denke an Samuel, der verschwunden ist, und an den Atem des Pastors in meinem Nacken, als er sich an mich gepresst hat.
Ich gehe weiter zu Vaters Schlafzimmer.
Die Sonne scheint herein, und es ist heiß, fast Übelkeit erregend. In dem Rechteck aus Licht, das quer in das Zimmer fällt, schweben kleine Staubpartikel, scheinbar schwerelos scheinen sie nach oben zu streben, nach oben.
Das Doppelbett ist ordentlich gemacht, und die große Flickendecke, die Mama genäht hat, als ich noch klein war, liegt zusammengefaltet am Fußende. Auf dem Nachttisch liegt eine Bibel, eine Übersetzung von 1917, das ist Vaters Lieblingsfassung, obwohl er beim Predigen eine neuere verwendet. Darum herum stehen Medikamentenpackungen in unterschiedlichen Größen.
Ich gehe zu dem grünen Schreibtisch vor dem Fenster. Gehe in die Hocke und ziehe die oberste Schublade heraus.
Leer.
Die nächste Schublade ist ebenfalls leer, doch als ich die unterste herausziehe, finde ich einen großen braunen Umschlag.
»Pernilla«, steht darauf, in Papas zittriger Schrift.
Ich nehme den Umschlag und schließe die Schublade. Gehe zum Bett und setze mich, unsicher, was ich nun tun soll. Der Umschlag ist offenkundig für mich bestimmt, aber ich weiß nicht, was er enthält. Vielleicht will Vater ja nicht, dass ich ihn gerade jetzt lese. Andererseits kann es sich um Kontoauszüge und andere praktische Informationen handeln, die ich brauchen kann.
Am Ende siegt die Neugier, und ich reiße den sorgfältig verschlossenen Umschlag mit dem Finger auf.
Darin liegen fünf Briefe, alle ungeöffnet und an mich adressiert. Ich sehe mir die Poststempel an. Der älteste Brief wurde wenige Tage vor meinem zehnten Geburtstag abgeschickt.
Ich öffne ihn vorsichtig und ziehe brüchiges Briefpapier mit gelben Blumen in der rechten Ecke heraus.
Liebste Pernilla,
ich hoffe, es geht dir gut und bei dir und Vater ist alles in Ordnung! Wie ich dir ja schon geschrieben habe, fehlst du mir ganz schrecklich, und ich sehne mich nach einem Wiedersehen. Du kannst Vater vielleicht fragen, wann das möglich ist?
Jetzt wirst du zehn – das ist ein großer Tag. Ich hätte ihn so gern mit dir zusammen gefeiert, aber ich weiß, dass Vater und die anderen aus der Gemeinde sich gut um dich kümmern.
Ich möchte dir so vieles erklären, doch ich glaube, es ist besser, wenn ich damit warte, bis wir uns sehen. Gewisse Dinge versteht man erst nach einiger Zeit, und das hier ist so etwas.
Wie ich dir schon geschrieben habe, sollst du wissen, dass ich dich ungeheuer lieb habe und jeden Tag vermisse, aber dass dein Vater und ich ganz einfach nicht zusammenleben konnten.
Das hat nichts mit dir zu tun, mein Hümmelchen!
Ich wünsche dir einen wunderbaren Geburtstag, und ich hoffe, dass wir uns bald sehen können. Ich habe dir mit der Post ein Geschenk geschickt.
Wenn du mir schreiben willst, ist das kein Problem. Die Adresse steht hinten auf dem Briefumschlag.
Ich küsse und umarme dich viele Male.
Mama
Mein Magen krampft sich zusammen wie nach einem Fausthieb. Ich beuge mich vor und muss mich an der Bettkante festhalten, um nicht umzufallen.
Was ist das hier?
Mama wollte doch keinen Kontakt zu mir haben, sie hat sich gegen mich entschieden. Und das hatten auch die wenigen entfernten Verwandten mütterlicherseits gesagt.
Hat Mama mir Briefe geschrieben?
Warum hat Vater nie etwas davon gesagt? Sollte ich die Briefe nach seinem Tod finden?
Der Brief, die Handschrift und das Sonnenlicht, das den vertrauten Flickenteppich in warmen Farben anmalt, rufen Erinnerungen herbei, die ich schon vor langer Zeit vergessen hatte.
Mamas Duft: eine Mischung aus Bratfett, Schweiß und Parfüm. Die langen Haare, die sie fast immer hochgesteckt hatte, und das viel zu schöne, fast puppenhafte Gesicht.
Und dann dieser Ausdruck: Hümmelchen.
Als mein Blick wieder an diesem Wort hängenbleibt, glaube ich fast, ihre Stimme zu hören, als ob sie dicht neben mir stünde und mir ins Ohr flüsterte.
Hümmelchen, geliebtes Hümmelchen.
Die Tränen kommen, und ich versuche gar nicht erst, sie aufzuhalten. Sie laufen mir über die Wangen und weiter den Hals hinunter.
Ich reiße die anderen Briefe auf und lese einen nach dem anderen.
Die nächsten drei haben große Ähnlichkeit mit dem ersten. Mama wünscht mir fröhliche Weihnachten, gratuliert mir zum Geburtstag, schreibt, dass sie mich liebt und dass sie mich sehen will. Aber im letzten Brief, den sie nur wenige Wochen vor ihrem Tod abgeschickt hat, ahne ich eine wachsende Verzweiflung und Wut. Sie fragt, warum ich nichts von mir hören lasse, obwohl sie so viele Briefe geschrieben hat, obwohl sie Geschenke geschickt hat und mich sehen will. Sie fragt, ob ich ihr böse bin, und deutet an, dass Vater vielleicht etwas damit zu tun haben könnte.
Als ich die letzten Zeilen lese, erstarre ich, denn ich kann es einfach nicht glauben. Ich muss den Absatz mehrere Male lesen, ehe ich sicher bin, dass ich mich nicht irre.
Pernilla, mein geliebtes Hümmelchen, du bist jetzt so groß, dass du eigentlich mit der Wahrheit umgehen kannst. Dein Vater war ein anspruchsvoller und andere Menschen manipulierender Ehemann. Seine Worte taten mir mehr weh als seine Schläge, und am Ende sah ich keinen anderen Ausweg mehr, als ihn zu verlassen. Ich musste ihm versprechen, keinen Kontakt zu dir aufzunehmen, und in meiner Dummheit habe ich das getan. Ich brauchte doch das Geld, das er mir gegeben hat. Aber jetzt habe ich nicht vor, ihm weiter zu gehorchen. An deinem dreizehnten Geburtstag werde ich kommen und dir gratulieren!
Ich sinke rückwärts mit dem Brief in der Hand auf das weiche Bett.
Ist das möglich? Hat er sie dafür bezahlt, sich fernzuhalten, oder ist das nur eine weitere von ihren Lügen? Denn dass sie lügen konnte, weiß die ganze Gegend – eine, die ihren Mann mit einem Nachbarn betrügt, hat die Lüge zu ihrer Bündnisgenossin gemacht.
Ein Gesicht wie ein Engel und ein Herz wie eine Schlange.
Dann wird mir innerlich ganz kalt. Ich sehe den Brief noch einmal an und versuche zu begreifen, was dort steht.
An deinem dreizehnten Geburtstag werde ich kommen und dir gratulieren!
Aber da ist sie doch gestorben, an meinem dreizehnten Geburtstag! Und plötzlich weiß ich, warum sie in der Nähe unseres Hauses unterwegs war.
Sie war auf dem Weg zu mir.
Ich bohre den Kopf in die Flickendecke und weine, wie ich es zuletzt als Kind getan habe. Alle Gefühle, die in meiner Brust eingekapselt waren, scheinen sich zu lösen, zu einer Sturmflut anzuschwellen und aus Augen und Nase auf Mamas alte Flickendecke zu fließen, in Gestalt von Rotz und Tränen.
Ich bin wieder neun Jahre alt, und Mama liegt nackt mit dem Nachbarn auf dem Sofa.
Ich bin dreizehn, und Mama ist soeben nur wenige Kilometer von hier tödlich verunglückt.
Ich bin achtzehn, ledig und hochschwanger.
Ich bin sechsunddreißig, und mein Vater liegt im Sterben, mein Sohn ist verschwunden, und ich bin von allen betrogen worden, denen ich vertraut habe.
Plötzlich fehlt Samuel mir so sehr, dass es in meiner Brust wehtut. Das Gefühl ist so stark und so physisch, dass ich aufjammere. Plötzlich bin ich mir sicher, dass es falsch ist, wenn ich mich nicht bei ihm melde. Wir haben nur einander, und alles andere spielt keine Rolle.
Ich greife zum Handy und versuche, ihn anzurufen, aber sofort lande ich auf dem Anrufbeantworter, als ob das Handy ausgeschaltet ist.
Auf dem Heimweg versuche ich mehrere Male, Samuel anzurufen. Als die U-Bahn in Västertorp hält, schreibe ich ihm eine SMS , schreibe, dass ich ihn liebe und dass er sich ganz schnell melden soll.
Ich schicke die SMS mit einer seltsamen Befriedigung los, weil ich all den wohlmeinenden Ratschlägen trotze, die ich von Gemeindemitgliedern erhalten habe, weil ich nicht das tue, was ich dem Pastor und Vater versprochen habe.
Als die Bahn in Fruängen hält, färbt sich der Himmel am Horizont tiefblau.
Ich schaue auf die Uhr und gehe schneller. Es ist spät, und ich habe für heute Abend die Waschmaschine gebucht.
Die Abendluft ist warm und riecht nach staubiger Straße und blühendem Flieder.
Mein Handy gibt »pling« von sich, und mein Herz macht einen Sprung.
Ich ziehe es aus der Tasche, aber es ist nicht Samuel, nur Stina, die Filialleiterin, die wissen will, ob ich morgen früher anfangen kann.
Ich antworte, dass das kein Problem ist, und gehe zum Eingang, noch immer erfüllt von der Einsicht, wie sehr mir Samuel fehlt, wie sehr ich ihn brauche. All das mit Mutter und Vater scheint in mir etwas ausgelöst zu haben, mir eine neue Sicht vermittelt zu haben, was im Leben wirklich wichtig ist.
Als ich auf den Lichtschalter im Treppenhaus drücke, passiert nichts. Ich drücke wieder und wieder, muss dann aber einsehen, dass er wohl defekt ist, und nehme die Treppe, während ich in meiner Handtasche nach den Schlüsseln suche.
Vielleicht liegt es am Klirren des Schlüsselbundes, dass ich die Schritte, die sich von oben her nähern, nicht sofort höre. Vielleicht liegt es daran, dass ich an Samuel denke.
Dann geht alles sehr schnell.
Jemand packt meinen Arm. Hart.
Ich ahne die Silhouette eines riesigen Mannes mit rasiertem Schädel und schreie unwillkürlich auf.
Der Zugriff des Mannes wird fester, und er mahnt mich zum Schweigen.
»Bist du Samuels Mutter?«, zischt er.
Er spricht mit einem sehr starken Akzent. Er könnte aus dem Osten kommen, vielleicht aus Polen oder einem baltischen Land.
»Ja«, sage ich, und das Herz schlägt mir im Hals. »Ich bin Samuels Mutter.«
Der Griff um meinen Arm lockert sich ein wenig, und der Mann richtet sich auf.
»Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe ihn rausgeworfen. Also nicht wortwörtlich, aber ich habe gesagt, dass er gehen soll. Das heißt, wir haben uns gestritten und … Ja, Samuel hatte einen Fehler gemacht und … Ich fand es besser, dass wir eine kleine Auszeit voneinander nehmen. Also …«
Der Mann lässt meinen Arm los und schlägt so heftig mit der Handfläche gegen die Wand, dass ich zusammenfahre.
»Wo?«, brüllt er. »Wo ist er jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, flüstere ich. »Ich habe versucht, ihm SMS zu schicken und ihn anzurufen, aber sein Handy ist ausgeschaltet, und jetzt bereue ich das natürlich ganz schrecklich, weil das alles nicht passiert wäre, wenn ich ihn nicht rausgeworfen hätte. Oder wenn ich nicht gesagt hätte, dass er nicht …«
Wieder fällt er mir ins Wort:
»Er hat etwas, das mir gehört.«
Ich gebe keine Antwort, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich muss natürlich sofort an die kleinen Plastiktüten mit dem weißen Pulver denken, die im Müll gelandet sind.
Der Mann packt wieder meinen Arm, diesmal aber nicht so hart. Eher so, als ob er sich davon überzeugen will, dass er meine Aufmerksamkeit hat, nicht, als ob er mir Angst machen will.
»Sag ihm, dass ich hier war«, sagt er, lässt mich los und geht auf die Treppe zu.
»Ja«, sage ich.
Und dann:
»Von wem soll ich grüßen?«
Ich bereue es sofort, sowie diese idiotische Frage meinen Mund verlassen hat. Warum bin ich so? Als wäre der Mann ein ganz normaler Mensch, der angeklopft und nach Samuel gefragt hat, und nicht ein »Schwerkrimineller«, wie die Polizisten, die mich im Laden aufgesucht haben, behaupten.
»Er weiß, wer ich bin«, sagt der Mann, ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen.
Seine Schritte verhallen auf der Treppe, und ich stehe allein im Dunkeln.