Als ich an der Kasse abgerechnet und den Tagesbericht ausgefüllt habe, gehe ich ins Büro und klopfe an Stinas Tür.
»Herein«, ruft sie.
Ich öffne die Tür und lege ihr den Bericht auf den Schreibtisch.
Stina schaut über den Rand ihrer Lesebrille und lächelt so sehr, dass sich ihre fleckige Haut wie ein Stück altes trockenes Leder über ihren Wangenknochen runzelt.
»Danke, meine Liebe«, sagt sie. »Dann sehen wir uns morgen.«
»Machen wir«, sage ich, lächele und drehe mich zum Gehen um.
»Warte«, sagt Stina. »Wie ist es eigentlich mit deinem Sohn gelaufen?«
Ich erstarre mitten in der Bewegung und durchdenke meine Möglichkeiten.
Wie ehrlich darf ich sein?
Stina ist lieb und meint es gut, da bin ich mir sicher. Aber sie ist auch neugierig, wie die meisten, die hier arbeiten.
Ich entscheide mich für einen Kompromiss. Ein Mittelding, um nicht zu abweisend zu wirken, ihr aber auch keinen saftigen Klatsch für die Kaffeeküche zu liefern.
»Er ist weg«, sage ich. »Wir haben uns gestritten, und ich habe ihn vor die Tür gesetzt. Ja, das war am Montag, und jetzt kann ich ihn nicht erreichen.«
»Nein, was sagst du da?«, fragt Stina und macht große Augen. »Das muss doch schrecklich sein. Aber er kommt bestimmt bald zurück. Björn verschwindet auch manchmal. Das gehört wohl zum Jungsein dazu.«
Obwohl Stina schon über sechzig ist, hat sie einen Sohn in Samuels Alter.
Ich habe früh angefangen, Stina spät.
Sie macht eine Pause. Nimmt die Brille ab und legt sie auf den Tisch neben die Abrechnung. Dann fragt sie:
»War die Polizei deshalb hier?«
Ich zögere.
»Ja«, sage ich dann und kann mich wirklich dazu zwingen, nicht mehr zu sagen, obwohl mir die Wörter ungeduldig auf der Zunge liegen.
Meine Wangen werden heiß.
Es ist einfach unmöglich, dass ich mit sechsunddreißig Jahren nicht lügen kann, ohne mich zu schämen. Nicht einmal die kleinste Notlüge kann ich mir abringen, ohne an Jesus und das Jüngste Gericht zu denken.
Ich kann Stina ansehen, dass sie mehr wissen möchte, aber statt weitere Fragen zu stellen, lächelt sie wieder und sagt:
»Das kommt schon in Ordnung, du wirst sehen. Geh jetzt nach Hause und ruh dich ein bisschen aus.«
Ich merke, wie mir die Tränen über die Wangen laufen, und blinzele vor Überraschung.
»Mein liebes Kind.«
Stina steht auf und kommt auf mich zu. Legt mir die Hand in den Rücken und führt mich zu dem Stuhl, der vor ihrem kleinen Schreibtisch steht.
»Was ist denn los?«, fragt sie und drückt mich energisch auf den rissigen Rattansitz.
Ich sehe die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch an. Nehme den Geruch der Kippen im Aschenbecher wahr.
Dann kommt alles. Alle Wörter, die darauf gewartet haben, gesagt zu werden, sprudeln aus mir heraus, ungefiltert. Ich erzähle von Samuels Verschwinden, von dem kahlgeschorenen Mann, der mir im Treppenhaus so eine Todesangst eingejagt hat, und davon, was ich über meine Eltern erfahren habe. Ich erzähle sogar von dem Pastor: wie er sich im Gemeindesaal mir gegenüber Freiheiten herausgenommen hat, während Jesus am Kreuz zusah.
»Aber liebes Kind«, sagt Stina noch einmal und schüttelt den Kopf. »Liebes Kind.«
Und plötzlich ist es schön, dass sie das sagt. Als könnten allein ihre Worte mich schon gesund machen.
»Jetzt gehen wir eins nach dem anderen an«, erklärt sie energisch und steht auf.
Sie geht zu dem verschlissenen alten Aktenschrank aus grauem Metall und zieht eine Schublade heraus.
Ich mustere ihren breiten Rücken, sehe, wie ihre Arme sozusagen aus der Bluse quellen und wie die trockenen roten Haare ihren Schädel wie ein Heiligenschein umgeben.
Es raschelt, als sie zwischen den Ordnern sucht, und der glänzende Synthetikpullover spannt über ihren Schultern.
Dann schiebt sie die Schublade zu und kommt mit einem Flachmann und zwei kleinen Gläsern zu mir zurück.
»Machst du Witze?«, frage ich. »Wir können doch nicht hier … ich meine, streng genommen ist doch noch Arbeitszeit. Auch wenn wir geschlossen haben. Aber die Zeit jetzt wird doch noch bezahlt. Und wir sind noch im Laden. Also. Auch wenn keine Kundschaft mehr da ist … Ich meine. Was passiert, wenn irgendwer …«
»Sch«, sagt Stina und hebt ihre sonnenfleckige Hand.
Dann dreht sie den Verschluss von dem Flachmann auf und gießt die bernsteinfarbene Flüssigkeit in die Gläser. Reicht mir das eine und nickt kurz.
»Trink!«
Ich gehorche.
Es brennt in der Kehle, als der Schnaps sich einen Weg in meinen Magen sucht.
»Hör zu«, sagt Stina. »Dass dein Vater dir deine Mutter vorenthalten hat, ist entsetzlich, aber du kannst nichts mehr daran ändern.«
»Vater hat mich gerettet«, widerspreche ich eilig. »Er hat mich geliebt, obwohl ich gesündigt hatte, und er hat mir geholfen, Samuel großzuziehen. Ohne ihn hätte ich das nie geschafft.«
»Ich finde, das klingt, als ob er dich ganz schön an die Kandare genommen hat«, schnaubt Stina, leert ihr Glas auf einen Zug und knallt es auf den Tisch.
»Der hat gewusst, wie’s geht«, murmelt sie und atmet tief durch.
»Aber es war zu meinem eigenen Besten«, sage ich zaghaft.
»Quatsch«, knurrt sie. »Du solltest dich mal sehen, wenn du über deinen Vater redest. Du siehst aus wie ein geprügelter Hund, verängstigt und unterwürfig. Solche alten Kerle wollen doch nichts anderes, als uns Frauen zu kontrollieren.«
Ich denke an Vater, wenn wir für Mutters Seele gebetet haben. Wie er mir seine großen trockenen Hände an die Wangen gelegt und geflüstert hat: »Gott hat die Frau aus einer Rippe erschaffen, damit sie eine Ergänzung zum Mann sei. Nicht aus dem Kopf, um über ihn zu bestimmen. Nicht aus den Füßen, um auf ihm herumzutrampeln. Nein, aus einer Rippe, damit sie geschützt sei. Nahe seinem Herzen, damit sie geliebt sei.«
»Es bringt dir nichts, ihm das jetzt vorzuhalten«, sagt Stina jetzt. »Und dass sich dieser Pastor als geiler Bock entpuppt hat, solltest du auch nicht so schwernehmen. Ist doch nur gut, dass du erkannt hast, wie er wirklich ist, oder? Es ist vielleicht an der Zeit, dass du ihn und die ganze Gemeinde mit anderen Augen siehst.«
»Aber er hat mir und Samuel so sehr geholfen.«
»Wie denn?«, schnaubt Stina.
»Er hat mir Geld geliehen. Und ich habe in der Gemeinde mehrere Vertrauensposten erhalten.«
»Und das hältst du für einen Zufall?«
Meine Wangen werden heiß, als mir aufgeht, wie sie das meint. Und vielleicht hat sie recht, denn der Pastor hat mich immer als Erste für allerlei Aktivitäten ausgesucht und oft im Vertrauen mit mir reden wollen. Und bei diesen vertraulichen Gesprächen hat er mich immer angefasst. Nicht auf sexuelle Weise, aber trotzdem – eine Hand auf meine gelegt, einen Arm um meine Schultern, wenn wir in die Kochnische gegangen sind, um Kaffee zu holen. Ein kurzes Streicheln mit dem Handrücken über meine Wange.
Wenn er das getan hat, habe ich seine Fürsorge fast als väterlich empfunden, aber jetzt, nachdem das andere passiert ist, sehe auch ich das Muster.
»Natürlich hat er das schon lange geplant«, sagt Stina, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte. »Der Mann ist ja nicht blöde, das steht fest. Er wollte dir nahe kommen. Und er wollte, dass du ihm dankbar sein musst. Aber vergiss ihn erst mal.«
Sie macht eine kleine Handbewegung und fügt hinzu:
»Wir müssen uns jetzt auf Samuel konzentrieren. Der scheint ja in üble Gesellschaft geraten zu sein. Hast du mit seinen Freunden gesprochen?«
»Nicht mit allen.«
»Dann tu das. Wir wollen es erst einmal nicht zu ernst nehmen, dass du ihn nicht erreichen kannst, aber ich finde doch, du solltest zur Polizei gehen und ihn vermisst melden. Denn wenn sie hier waren und nach ihm gefragt haben, dann wissen sie ja wohl nicht, dass er verschwunden ist? So richtig verschwunden, meine ich.«
Sie legt eine Pause ein und mustert mich von Kopf bis Fuß.
»Ich komme mit«, sagt sie auf eine Weise, die keinen Widerspruch zulässt.
»Wir können vielleicht noch ein paar Tage warten?«
Stina fährt sich mit dem Zeigefinger über das Kinn und macht ein nachdenkliches Gesicht.
»Ja«, sagt sie zögernd. »Lass uns ein paar Tage warten. Aber jetzt gehst du nach Hause und schläfst, Pernilla. Ruf an, wenn etwas ist. Von mir aus auch mitten in der Nacht. Solche Dinge sollte man nicht allein durchmachen müssen.«
»Okay«, sage ich und stehe auf.
Der Schnaps hat meine Knie weich gemacht, und meine Wangen glühen.
»Und danke«, sage ich.
Stina steht auf. Kommt auf mich zu und umarmt mich lange.
»Wir müssen gegen das Elend zusammenhalten«, sagt sie dicht an meinem Ohr.
Mein Blick fällt auf das Foto von Björn, ihrem Sohn, das auf dem Schreibtisch steht.
Er hat dichte rotblonde Haare und sommersprossige Haut. Seine Augen sind hellgrau und seine Lippen füllig. Die langen Haare und der kussbereite Mund lassen ihn einer jungen Liv Ullmann ähneln.
Stina tritt einen Schritt zurück und sieht meinen Blick.
»Das kommt schon in Ordnung, du wirst sehen«, sagt sie. »Es kommt immer in Ordnung.«
Und für eine kurze Zeit glaube ich ihr sogar.
Ich nehme ihre Worte mit mir hinaus in den Sommerabend. Aber schon auf dem Weg zur U-Bahn kommt die Angst wieder angeschlichen, und die Gedanken jagen einander in wildem Tempo.
Ich denke an Mutter. An den Tag, als sie auf dem Weg zu uns ums Leben gekommen ist.
Wieder kommen mir die Tränen, aber jetzt denke ich an Samuel.
Ich spreche ein kurzes Gebet.
Gott, wache über Samuel und weise ihm den richtigen Weg. Lass ihn zu mir zurückkommen, und ich verspreche, ihm so gut zu helfen, wie ich nur kann, damit er sein Leben in den Griff bekommt. In Jesu Namen. Amen.
Aber auch diesmal gibt Gott keine Antwort.
Gott ist ebenso stumm wie Samuel und der helle Sommerabend.
Und es gibt noch etwas, das mir zu schaffen macht.
Als Samuel drei Jahre alt war, tauchte Isaac plötzlich auf wie ein Springteufelchen. Als wäre alles vergeben und vergessen.
Ich erklärte ihm natürlich, dass es so nicht ginge, dass ich Samuel und allen unseren Freunden schon erzählt hatte, dass Samuels Vater tot sei, und dass wir uns ein funktionierendes Leben aufgebaut hatten, in dem es für ihn ganz einfach keinen Platz gab.
Isaac wurde traurig und aufdringlich. Einmal versuchte er sogar in einem Café, mich zu küssen.
Fast hätte ich damals dann doch nachgegeben, denn er war noch immer so attraktiv wie früher, obwohl er sich die Haare geschnitten und sich einen Job in einem Plattenladen auf Södermalm gesucht hatte.
Aber diesmal riss ich mich zusammen. Etwas hatte ich dann wohl doch gelernt?
Isaac war jedoch hartnäckig und redete davon, zum Sozialamt zu gehen und Umgangsrecht zu fordern.
Das machte mir Angst.
Er war schließlich Samuels biologischer Vater, und wer konnte wissen, was passieren würde, wenn er anfing, Krach zu schlagen?
Also trafen wir eine Vereinbarung.
Ich versprach, dass Isaac Samuel jedes Jahr zu seinem Geburtstag und am zweiten Weihnachtstag besuchen dürfte, und Isaac seinerseits versprach, niemals zu verraten, dass er Samuels Vater war.
Und so geschah es.
Ich erzählte Samuel, Isaac sei ein alter Freund, der sehr einsam sei und keine Familie habe. Und Isaac kam regelmäßig zu Besuch, zweimal pro Jahr, bis zu Samuels fünfzehntem Geburtstag. Dann zog Isaac nach Gävle, und seine Besuche wurden sporadischer.
Es kann gut sein, dass er nie geheiratet oder andere Kinder bekommen hat.
Angeblich ist es für Jungen wichtig, mit einem männlichen Vorbild aufzuwachsen. Ich vermute, dass das vor allem für Jungen wie Samuel gilt – Jungen, die Probleme haben. Deshalb frage ich mich immer wieder, ob er sich anders entwickelt hätte, wenn Isaac in seinem Leben präsenter gewesen wäre.
Aber ich habe nur das getan, was ich für Samuel für das Beste hielt – genau wie mein Vater das wohl bei mir gemacht hat.
Vielleicht gibt es in unserer Familie eine Erbsünde, aber eine ganz andere, als ich gedacht habe, eine, bei der es darum geht, unseren Kindern den Kontakt zu den Menschen zu verwehren, die nicht unseren selbstauferlegten strengen Lebensregeln entsprechen.
Eine Erbsünde, die unseren Kindern die nimmt, die ihnen am nächsten stehen.
Die U-Bahn fährt in die Station ein, die Türen öffnen sich, und ich steige ein. Setze mich ans Fenster und sehe in den Sommerabend hinaus.
Ich könnte die Gemeinde verlassen.
Ich weiß nicht, woher dieser Gedanke kommt, ich habe noch nie so gedacht und bin sofort entsetzt.
Ich kann das nicht tun.
Warum sollte ich das tun?
Aber ich weiß die Antwort in dem Moment, in dem ich für mich die Frage formuliert habe: Alle diese Regeln und Strafen für die, die sich nicht daran halten, sind einer der Gründe, warum Samuel und ich heute dort sind, wo wir sind. Das und dass ich nicht einsehen wollte, dass Samuel so große Probleme hatte, dass sie vielleicht mit Gebeten und Lebertran nicht zu beheben waren.
Und jetzt gibt es nichts mehr, was mich in der Gemeinde hält. Außer den Freunden natürlich. Und Gott.
Aber warum sollte ich Gott verlassen, wenn ich die Gemeinde verlasse?
Ich wage nicht, diesen Gedanken weiter zu denken, ich habe viel zu große Angst, wohin mich all diese aufrührerischen Ideen führen könnten, wenn ich sie umsetze. Stattdessen ziehe ich mein Handy heraus und suche nach der Nummer von Alexandra, Samuels Freundin oder was sie nun eben ist.
Ich traue mich nicht so recht zu fragen.
Sie meldet sich nach drei Klingeltönen. Ihre Stimme klingt munter, doch als sie hört, wer da anruft, wird die Munterkeit sofort gedämpft.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagt sie rasch. »Hab ihn seit Montag nicht mehr gesehen.«
»Hast du mit ihm telefoniert?«, frage ich hoffnungsvoll.
Sie schweigt einen Moment. Die U-Bahn wird vor dem Fridhemsplan langsamer, und die Frau mir gegenüber steht auf und geht.
»Nö«, sagt Alexandra. »Wir hatten einen kleinen Streit, und …«
Sie beendet den Satz nicht, und ich kann im Hintergrund Musik hören.
»Hast du irgendeine Ahnung, wo er sein kann?«
»Nein, die Polizei hat sich auch schon bei mir erkundigt. Sie waren offenbar auch bei Liam. Ich habe keine Ahnung, in was Samuel da reingeraten ist, aber vielleicht ist er ja einfach erst mal untergetaucht. Falls die Bullen hinter ihm her sind, meine ich.«
Ich bitte sie, mir Bescheid zu sagen, wenn Samuel sich bei ihr meldet, dann legen wir auf.
Meine Unruhe wächst, mein Zwerchfell tut weh, und mir wird schlecht. Bilder von Samuel, Vater und Mutter wirbeln vor meinem inneren Auge vorbei.
Geliebter Samuel.
Mein Hümmelchen.
Warum wird alles so falsch, wenn wir doch nur das Richtige tun wollen?