Es ist wärmer geworden.
Mein Zimmer im ersten Stock geht nach Süden, und schon als ich gegen sieben Uhr aufwache, ist die Luft heiß und stickig und mein Laken klamm vor Schweiß.
Ich stehe auf und schalte mein Handy ein. Schwöre mir, es höchstens eine Minute lang anzulassen.
Ich scrolle durch Instagram, erstarre, als Alexandras Gesicht über dem Rand eines unverhältnismäßig großen Glases auftaucht. Sie lächelt, zwinkert und bildet mit Daumen und Zeigefinger ein O.
»Und schon ist man wieder Single«, steht darunter.
Zweiundfünfzig Likes.
Ich schlage mit der Hand gegen die Wand und schneide vor Schmerz und Wut eine Grimasse.
Wieso denn Single? Das kann sie ja wohl nicht behaupten. Wir waren doch verdammt noch mal nie zusammen.
Es ist so verdammt nervig, hier in dieser Drecksbude zu sitzen und mit keinem Menschen kommunizieren zu können. Ich darf nicht mal einen Kommentar schreiben. Keine Mitteilung schicken.
Das kommt mir verdammt noch mal so vor, als ob ich gar nicht mehr existiere.
Ich hole tief Luft und versuche, mich zu beruhigen. Sehe meine Mitteilungen durch.
Nichts.
Mein Puls beruhigt sich ein bisschen.
Alles wird gut, denke ich. Mama holt das Geld, und dann kann ich in Deckung gehen, bis Igor sich beruhigt oder ins Ausland abgesetzt hat.
Und Alexandra kann sich zum Teufel scheren.
Ich schalte das Handy wieder aus und lege es auf den Nachttisch. Gehe zum Fenster und ziehe an der Schnur der alten, ausgebleichten Jalousie. Die Jalousie schießt mit einem Knall nach oben, und ich öffne das Fenster. Lehne mich hinaus, sauge den Duft von Heidekraut und Kiefern ein und schaue auf das Meer, das sich spiegelglatt unter mir ausbreitet. Kleine Schären scheinen auf der Wasseroberfläche zu treiben, und der Leuchtturm zeichnet sich vor dem Horizont dunkel ab. Von weither höre ich ein Boot, das sich entfernt, und einige Möwen, die schreien.
Ansonsten ist alles still und stumm.
Ich lasse das Fenster offen, ziehe Jeans und T-Shirt an und gebe mir alle Mühe, so lautlos, wie ich nur kann, durch das Haus zu gehen. Ich tappe durch das Allzweckzimmer, dann die Wendeltreppe hinunter und hinaus in die Diele.
Als ich an der Tür von Jonas’ Zimmer vorbeikomme, höre ich etwas.
Zuerst glaube ich, dass er wimmert, dass es eines der vielen kleinen Geräusche ist, die er ausstößt, ganz unabsichtlich, doch dann höre ich jemanden weinen.
Rakel.
Etwas an ihrem Schluchzen sorgt dafür, dass sich mein Magen zusammenkrampft. Da ist so viel Elend in jedem kleinen Schluchzer, dass ein Teil von mir nur aus dem Haus laufen, auf das Motorrad springen und so weit weg fahren will wie überhaupt möglich.
Aber das tue ich nicht. Ich bleibe stehen und höre ihr zu, während ich mich gleichzeitig schäme, dass ich das tue.
Dann höre ich sie etwas sagen oder vielleicht eher murmeln. Ihre Stimme ist vom Weinen verzerrt, aber ich kann es doch verstehen.
»Jonas, mein geliebtes Kind, du fehlst mir so.«
Ich schlucke schwer und wische mir den Schweiß von der Stirn.
Das hier ist einfach zu viel.
Die arme, arme Rakel.
Ich meine, es ist ja nicht gerade eine Neuigkeit, dass ihr Sohn zum Gemüse geworden ist. Aber als ich ihre Verzweiflung mitbekomme, ja sie durch die Tür höre, habe ich natürlich ein scheißschlechtes Gewissen, dass ich nicht daran gedacht habe, wie verdammt grauenhaft die Situation für sie sein muss.
Und dann frage ich mich: Kann ich irgendetwas für sie tun? Mehr als nur bei Jonas im Zimmer zu sitzen und ihm aus dem stinklangweiligen Buch vorzulesen?
Gibt es etwas, das sie ein bisschen aufheitern könnte?
Ich höre aus Jonas’ Zimmer einen Aufprall und schleiche eilig zur Haustür, schlüpfe in meine Sneakers, schließe die Tür auf und gehe hinaus.
Ich steige die lange Holztreppe zum Steg hinunter. Es sind siebenundsechzig Stufen, aber mir kommt es vor, als würde ich ewig dafür brauchen.
Auf beiden Seiten fällt der Fels steil zum Meer hin ab, doch die Holzkonstruktion wirkt stabil, sie klammert sich an den Granit und windet sich geschickt die Felswand hinunter, wie eine riesige Schlange.
Die einzigen Gewächse hier sind ein paar vom Wind zerrupfte Kiefern, ein wenig Heidekraut und Moos, das in den tiefen senkrechten Spalten wächst, die den Fels wie offene Wunden durchschneiden.
Ich werde langsamer und sehe mich um. Tippe mit dem Fuß ein paar Steine an, so dass sie den Hang hinunterkullern.
An der Oberfläche sind die Felsen tot und unfruchtbar, aber wenn man genauer hinsieht, wimmeln sie nur so von Leben. Flechten in allerlei Farbtönen breiten sich wie graue und grüne Ozeane aus. Als ich sie mit dem Fuß berühre, zerfallen sie, verwandeln sich unter meiner Schuhsohle in trockene Flocken, die vom Wind erfasst werden.
Mein Großvater Bernt hat immer gesagt, dass man das nicht tun darf, denn das, was die Flechten in Jahrhunderten gebildet haben, hat mein kleiner Kinderfuß innerhalb einer Minute zerstört.
Opa.
Wenn ich an ihn denke, wird mein Atem schwer. Als hätte ich einen verdammten großen Stein auf der Brust.
Wenn ich ehrlich sein soll, war er ja fast wie ein Vater für mich. Und doch habe ich es nicht eilig damit, ihn an diesem Ort zu besuchen, der Hospiz genannt wird – diesem Ort, an den man zum Sterben gebracht wird, wie in ein KZ für Krebskranke.
Opa hat sich immer um mich gekümmert, hat auf mich aufgepasst, wenn Mama bei der Arbeit war, hat mich ausgeschimpft, wenn ich eine Dummheit gemacht hatte. Wenn man von diesem religiösen Müll einmal absieht, dann respektiere ich ihn total.
Das Problem ist nur, dass er sich von dem religiösen Müll das Leben diktieren lässt.
Ich schaue hinaus auf die Felsen. Lehne mich vor und sehe mir die raue Steinebene ganz genau an.
Eine Myriade von Insekten bewegt sich in unterschiedliche Richtungen; kleine schwarze Ameisen, große braunrote Ameisen und winzig kleine orange Spinnen mit so winzigen und schnellen Beinen, dass sie über den Felsen zu fliegen scheinen.
Ich versetze noch einem Stein einen Tritt.
Der rollt mit schwerem Getöse die Felswand hinunter und landet schließlich mit einem scharfen Knall ganz unten.
Weitere Insekten tauchen in der Vertiefung auf, in der der Stein gelegen hat, kupferrot glänzende Ohrenkneifer und mattschwarze Landasseln, die hellwach durch das Sonnenlicht irren.
Ich trete einen Schritt zurück und habe plötzlich Angst, eine große behaarte Spinne könnte hervorkriechen.
Ich hasse Spinnen.
Opa hat mir alle Namen von Insekten und Pflanzen beigebracht. Als ich klein war, durfte ich zu den Exerzitien der Gemeinde nach Lusterö mitkommen. Da ich mich nicht auf Bibelunterricht und Gesang konzentrieren konnte, musste ich nicht daran teilnehmen, aber ich durfte bei Ausflügen und anderen Aktivitäten mitmachen.
Es wurde gesegelt und gezeltet und gegrillt. Und wir lernten viel über Tiere und Pflanzen.
Opa erklärte, dass Spinnen im Ökosystem eine wichtige Rolle spielen und dass sie für Menschen absolut nicht gefährlich sind.
Es half nichts.
Ich verabscheue noch immer nichts so sehr wie Spinnen.
Das alles mit Opa scheint jetzt endlos lange her, fast als wäre es in einem anderen Leben passiert oder als hätte ich es auf Netflix gesehen.
Ich gehe weiter zum Wasser hinunter.
Mit jedem Schritt verblassen die Erinnerungen an die Sommer auf Lusterö mehr und werden durch den Scheiß ersetzt, der mein richtiges Leben ausmacht.
Ich denke an Igors Gesicht, als ihm aufging, dass ich das Paket mit den Warenproben nicht hatte, und an Maltes mageren Leib und seine funkelnden Goldzähne.
Ich habe sie im Stich gelassen.
Dann denke ich an all die anderen, die ich im Stich gelassen habe, wie Opa und Liam, dem ich versprochen hatte, bei Igor auszusteigen. Und an Alexandra, die hinter der Wohnungstür geweint hat und mich nicht hereinlassen wollte. Und hör verdammt noch mal auf, mich Baby zu nennen!
Doch, da hatte sie wohl einmal nicht unrecht.
Aber vor allem denke ich an Mama.
All das, wovon sie faselt, dass sie in all den Jahren für mich da war und so weiter und so weiter – das stimmt ja auch. Ich weiß nicht, was ohne sie aus mir geworden wäre. Nun ist zwar im Grunde genommen trotzdem alles den Bach runtergegangen, aber ohne Mama wäre das verdammt viel schneller passiert.
Ich hoffe, dass sie sich beeilt, dass sie bald die Kohle holt, denn viel länger halte ich es hier nicht aus. Zombie-Jonas geht mir auf die Nerven, Rakel auch, wenn auch auf eine ganz andere Weise.
Ich bin seit fünf Tagen hier, und übermorgen, am Freitag, ist Mittsommer.
Dann will ich verdammt weit weg von hier sein.
Unten auf dem Steg streife ich Sneakers und Jeans ab. Ziehe das T-Shirt aus und lege es daneben.
Das Holz ist warm und klebrig unter meinen Füßen. Es riecht nach Teer und Tang. Zu hören ist nur ein vages, tiefes Glucksen.
Ich schaue ins Wasser hinunter.
Es sieht tief aus.
Ich sehe nur ein Stück gelbbraunen Blasentang vorübertreiben und ein paar kleine Fische, die im sonnenhellen Wasser dicht unter der Oberfläche dahinjagen.
Ich stelle mir vor, wie es weiter draußen ist, wo das Wasser tief und kalt ist. Wo die Strömung einen mitreißt und wo sich Aale über den Boden schlängeln.
Ich recke mich und will gerade ins Wasser springen, als ich mich aus irgendeinem Grund umdrehe und zum Haus hochblicke.
Vor Rakels Fenster steht ein Mann. Er ist so weit weg, dass ich nicht erkennen kann, wie er aussieht, aber er scheint sich die Hand an die Stirn zu legen und durchs Fenster ins Haus zu schauen.
Ich vermute, dass er ein Freund von Rakel ist, und denke an das Schluchzen aus Jonas’ Zimmer. Eine Sekunde lang spiele ich mit dem Gedanken, wieder hochzugehen, aber dann beschließe ich, doch zu baden, drehe mich zum Meer um, hole tief Luft und tauche unter.
Es ist kälter, als ich erwartet habe, aber mein ganzer Leib scheint die Kälte willkommen zu heißen, als würde ich dort unten in der kalten grünblauen Stille neu entstehen.
Ich öffne die Augen und schaue zur Wasseroberfläche hoch. Blasen steigen auf, die Sonne löst sich in goldene Flecken auf, die auf den Wellen schwimmen, als wären goldene Christbaumkugeln vom Himmel gefallen und in tausend Stücke zersprungen.
Als ich wieder an die Wasseroberfläche komme, lasse ich mich eine Weile auf dem Rücken treiben und lausche den vielen Geräuschen des Meeres, dem seltsamen leisen Ticken und Pochen und dem ewigen Brausen von all dem Leben, das im Wasser schwimmt, kriecht und schwebt.
»Du scheinst dich ja wohlzufühlen.«
Ich drehe mich zum Steg um und trete Wasser.
Rakel steht am Stegrand, sie trägt einen marineblauen Bikini. Ihre Augen sind rot und ein bisschen geschwollen, aber sie lächelt strahlend.
»Willst du baden?«, frage ich und höre gleichzeitig, wie verdammt schwachsinnig das klingt.
Sie steht im Bikini auf dem Steg, klar will sie baden und nicht in dem blöden Rosenbeet Unkraut jäten.
Aber Rakel lacht nur.
Sie federt ein wenig in den Knien und taucht dann zwei Meter rechts von mir ins Wasser.
Es ist ein fast perfekter Sprung. Kaum ein Kräusel ist an der Wasseroberfläche zu ahnen. Und genau wie beim ersten Mal, als ich sie vom Fenster im Obergeschoss aus gesehen habe, schwimmt sie lange unter Wasser und taucht zwanzig Meter weiter wieder auf.
Dann krault sie mit langsamen Bewegungen auf mich zu.
»Ach, wie schön«, sagt sie, streicht sich mit einer Hand die Haare aus den Augen und tritt dabei Wasser.
»Ja«, antworte ich.
Sie zieht sich hoch und setzt sich auf den Steg, ich dagegen bleibe im Wasser, mir ist plötzlich sehr bewusst, dass ich nur die Unterhose anhabe. Eine weiße noch dazu, die garantiert durchsichtig ist, wenn sie nass wird.
Rakel mustert mich belustigt.
»Willst du noch lange im Wasser bleiben?«
»Noch ein bisschen«, sage ich und merke, dass meine Wangen glühen, obwohl das Wasser eiskalt ist.
Sie zuckt kurz mit den Schultern, blinzelt und dreht ihr Gesicht in die Sonne.
Die bleiche Haut auf ihren Armen hat sich im kalten Wasser mit Gänsehaut überzogen, und ich kann sehen, wie sich ihre Brustwarzen unter dem nassen Bikinioberteil abzeichnen. Sie lässt die Füße ins Wasser baumeln und umschließt die Stegkante mit den bleichen dünnen Fingern. Wasser tropft aus ihren langen Haaren.
Sie ist so verdammt schön.
Ich würde alles dafür geben, ihre Haut zu berühren, mit der Hand durch diese Haare zu fahren und mit den Fingern über ihre Lippen zu streichen.
Meine Beine fühlen sich im Wasser wie gefrorene Fleischstücke an, und ich schwimme zum Steg, in sicherer Entfernung zu Rakel, und halte mich am Rand fest.
Sie sieht meine Hand an und fragt:
»Was steht auf dem Armband?«
Ich erwidere ihren Blick.
»Das hab ich gemacht, als ich klein war«, sage ich wegwerfend und schäme mich für mein kindliches Armband.
»Das sehe ich. Aber was steht da?«
»Mama. Da steht Mama. Ich hab das für meine Mutter gemacht.«
»Wie schön«, flüstert sie, streckt die Hand aus und streicht behutsam mit den Fingern über das Armband.
Ich war nicht auf ihre Berührung vorbereitet. Meine Hand fährt zurück, und ich schlucke.
Es wird lange still. Rakel runzelt die Stirn und sieht aus, als würde sie gleich wieder losheulen. Sie blinzelt einige Male und dreht den Kopf weg.
»Wer war das vorhin?«, frage ich, vor allem, um etwas zu sagen.
Sie zieht die Füße aus dem Wasser und dreht sich wieder zu mir um.
»Da war doch vorhin jemand«, füge ich hinzu.
»Wirklich?« Sie hebt langsam die Füße auf den Steg und steht auf. Dann reckt sie sich und streckt die Hände in die Luft.
»Ja. Ein Typ. Der stand vor deinem Fenster. Ich dachte schon …«
»Vor meinem Fenster? Wie sah der aus?«
»Also, das konnte ich von hier aus nicht so richtig sehen.«
Jetzt bibbere ich vor Kälte. Und das nicht nur, weil ich noch immer im kalten Wasser bin, sondern auch, weil mir aufgeht, dass der Mann vor dem Fenster, wenn er kein Freund von Rakel war, sehr gut einer von Igors Leuten gewesen sein kann.
»Shit«, sage ich. »Shit, shit, shit.«
Rakel zieht die Augenbrauen hoch.
»Was?«
»Also. Es könnte ja der Typ sein, von dem ich dir erzählt habe.«
»Der Russe? Aber den hättest du doch wohl erkannt?«
»Das schon«, sage ich. »Aber er kann doch einen anderen geschickt haben.«
Rakel legt den Kopf schräg.
»Bist du jetzt nicht ein bisschen paranoid, Samuel? Es ist doch wohl wahrscheinlicher, dass es jemand war, der mich sprechen wollte. Ein Nachbar vielleicht? Oder vielleicht hast du dich einfach geirrt. Vielleicht war es ein Reh. Die stehen oft da im Beet und knabbern an den Blumen. Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ich sie abschießen.«
Sie schaut zum Haus auf dem Felsen hoch.
»Zeig mir, wo er gestanden hat«, sagt sie ruhig.
Ich ziehe mich aus dem Wasser und streife eilig die Jeans über. Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen.
Rakel schaut überhaupt nicht in meine Richtung.
Stattdessen starrt sie die ganze Zeit zum Haus hinüber und stemmt die Hände in die Seiten.
Wir steigen schweigend die lange Treppe hoch.
Mit jedem Schritt wird es heißer, und als wir oben ankommen, bin ich schon wieder in Schweiß gebadet. Die Sonne brennt auf meine Schultern, und mein Herz hämmert vor Anstrengung.
Als wir das Haus erreichen, gehen wir um die Terrasse herum zu den beiden vergitterten Fenstern im Erdgeschoss, die nach Westen schauen – Rakels Schlafzimmer und das Zimmer von Jonas.
Vor den Fenstern zieht sich ein schmales Beet hin, in dem irgendwelche Pflanzen mit großen runden Blättern wachsen.
Rakel geht in die Hocke, und ich folge ihrem Beispiel.
Mit der Hand streicht sie vorsichtig die saftigen, blanken Blätter zur Seite und entblößt große Fußabdrücke in der feuchten Erde – Abdrücke, die offenbar von zwei groben Herrenschuhen stammen.