Es ist unerträglich heiß in Zombie-Jonas’ Raum, aber ihm scheint das nichts auszumachen.

Er liegt ganz still im Bett, fast wie eine Schaufensterpuppe.

Ich finde auch, dass er magerer aussieht. Und seine Haut ist irgendwie durchsichtig geworden – Knochen und Sehnen sind zu sehen, wie Lebensmittel in einer dünnen Plastiktüte. Sein Gesicht ist bleich, und seine Lippen sehen trocken und rissig aus.

Ich strecke die Hand nach dem Fettstift aus, der neben der Vase mit der Rose auf dem Nachttisch liegt.

Es ist wirklich rührend. Rakel stellt Zombie-Jonas jeden Morgen eine frische Rose hin, obwohl er nicht einmal begreift, dass die dort steht, obwohl er ein Gemüse ist, dem es auch egal wäre, wenn sie ihm eine Kackwurst auf den Nachttisch lege.

Ich beuge mich über ihn und fahre vorsichtig mit dem fettigen weißen Stift über seine Lippen.

Er reagiert nicht auf meine Berührung.

Dann gehe ich zum Fenster und mache es auf, doch wegen des Gitters kann ich es nur wenige Dezimeter aufschieben.

Als der Fensterrahmen gegen das rostige Metall schlägt, fliegen zwei Feldsperlinge aus dem Busch vor dem Fenster auf.

Passer montanus.

Mama hat den Unterschied zwischen Feldsperlingen und Haussperlingen nie begriffen. Obwohl ich ihr erklärt habe, dass Feldsperlinge einen schwarzen Fleck auf der Wange haben, Haussperlinge dagegen einen schwarzen Brustlatz.

Ich lasse das Fenster auf Kipp stehen, wische mir den Schweiß von der Stirn und gehe zu meinem speckigen, durchgesessenen Sessel zurück.

Es fällt mir schwer, mich auf das Vorlesen zu konzentrieren, und ich frage mich, ob ich lieber ein wenig Musik laufen lassen sollte. Das mache ich oft, wenn ich das Lesen satthabe, was ziemlich häufig vorkommt, das Buch ist so verdammt langweilig. Aber heute gibt es einen anderen Grund, aus dem ich mich nicht konzentrieren kann: Ich denke an die SMS von Mama, die ich nach dem Aufwachen gelesen habe, die SMS , die irgendwann in der Nacht gekommen sein muss.

Sie hat das Geld geholt.

Meine Mutter – der nervigste, anständigste und bescheidenste Mensch der Welt – hat mir zuliebe Igors Geld ausgebuddelt. Und dabei kann sie nicht einmal bei Rot über die Ampel gehen, aus Angst, sonst in die Hölle zu kommen. Aber das Geld hat sie geholt.

Ich kann es fast nicht glauben.

Wir treffen uns morgen auf Stuvskär, am Mittsommerabend, und danach heißt es dann bye, bye, Zombie-Jonas.

Es wird verdammt schön sein, von hier wegzukommen, auch wenn ich Rakel wirklich gernhabe.

Und Jonas?

Ich sehe ihn an.

Er liegt still da. Sein Atem ist lautlos und flach. Die Bettdecke ist nach unten geglitten und zeigt die blasse, haarlose Brust, die sich langsam hebt.

Wie könnte ich irgendeine Meinung zu ihm haben? Es ist einfach nicht möglich, ihn zu mögen oder nicht zu mögen. Er ist irgendwie einfach nur da.

Wie die Asseln und Ohrenkneifer unter dem Stein.

Ich schaue in das Buch auf meinem Knie. Die Seiten sind vergilbt und wellig vor Feuchtigkeit, als hätte es lange draußen gelegen. Ich blätterte weiter und rieche feuchtes Papier und Schimmel. Ganz hinten im Buch, auf der Innenseite des Einbandes, steht etwas.

Ich sehe mir die letzte Seite an. Es ist ein Stempel. »Nacka-Gymnasium, Schulbibliothek«, steht dort.

Vielleicht hat Jonas diese Schule besucht.

Ich schließe das Buch, lasse es in meiner Hand ruhen und versuche, das Gewicht zu schätzen.

Vierhundert Gramm, tippe ich. Definitiv mehr als dreihundert, aber maximal vierhundertfünfzig. Wenn das Buch Kola wäre, wäre es um die dreihunderttausend wert, aber niemand würde so viel für Wörter bezahlen.

Der Preis pro Gramm liegt nicht mal in der Nähe von achthundert Mäusen.

Ich öffne das Buch und starte einen neuen Versuch, komme aber nicht weit. Die Wörter bleiben mir im Mund stecken, kullern umeinander, verfangen sich ineinander und kommen in der falschen Reihenfolge heraus.

Ich habe einige Kapitel übersprungen, um zu sehen, ob das Buch gegen Ende spannender wird, aber das Einzige, was passiert, ist, dass sich die gestörte Braut mit einem neunzehnjährigen Matador namens Romero eingelassen hat. Wenn ich ehrlich sein soll, dann wundert mich das nicht, eigentlich habe ich es kommen sehen. Aber die Hauptperson tut mir natürlich leid, der Typ scheint einfach nicht zu kapieren, dass er die miese Kuh aufgeben und versuchen sollte weiterzukommen.

Plötzlich sehe ich Alexandras Gesicht vor mir. Die traurigen Augen starren mich vorwurfsvoll an.

Ja, es tut mir leid, dass ich sie so behandelt habe.

Ja, wenn ich vorher nur ein bisschen nachgedacht, wenn ich mein Gehirn eingeschaltet hätte, wie Liam immer sagt, dann hätte ich kapiert, was passieren würde, wenn ich versuche, mich an Jeanette ranzumachen. Ich meine, man braucht ja kein Atomphysiker zu sein, um zu begreifen, dass es in die Hose geht, wenn man es bei der BFF der eigenen Freundin versucht.

Aber Denken war ja noch nie deine starke Seite, Samuel? Deshalb kann dich auch niemand leiden, weil du ein blöder, impulsiver Trottel bist, der …

»Fresse!«, sage ich laut.

Ich überlege.

Vielleicht würde ein anderes Buch Jonas besser gefallen, eins, das spannender ist. Vielleicht würde er dann reagieren, ein wenig die Hand bewegen oder stöhnen, wie er das manchmal tut.

Was auch immer, wenn es ihn nur ein bisschen menschlich macht.

Es klopft an der Tür, und Rakel kommt herein.

»Hallo«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Geht es gut?«

Ich nicke, gebe aber keine Antwort.

Sie sieht müde aus. Sie hat die Haare zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt, und ihr Gesicht und die Haut in ihrem Ausschnitt glänzen vor Schweiß. Sie trägt ein T-Shirt und Shorts und an den Füßen Flip-Flops.

Und doch ist sie so verdammt schön!

Ich muss mir einfach vorstellen, wie es wäre, mit ihr zu schlafen, was für ein Gefühl es wäre, die schweren Brüste zu küssen. Ich habe schon so lange nicht mehr gevögelt, dass er mir bei dem bloßen Gedanken sofort steht.

Beschämt lasse ich das Buch auf meine Knie sinken.

»Ich wollte nur schnell einkaufen fahren«, sagt sie jetzt. »Hinten beim Freizeithafen.«

»Bei diesem Campingplatz?«

Ihre Augen werden dunkel.

»Warst du da schon mal?«

»Nein, ich dachte nur …«

»Bleib da ja weg«, sagt sie kurz. »Das ist ein richtiges Drecksloch. Drogen, Hehlerei und weiß Gott, was sonst noch alles.«

Rakel ist gestresst und nervös, seit wir die Fußspur im Blumenbeet entdeckt haben. Obwohl sie so cool wirkt, hat sie mich schon mehrmals gefragt, ob das dort im Garten Igor gewesen sein kann. Ich habe ihr erklärt, dass er es nicht war, denn ihn hätte ich doch erkannt.

Sie hat vielleicht Angst, dass hier einer von den Typen vom Campingplatz auf Erkundungstour war. Einer, der ins Haus einbrechen will.

»Okay«, sage ich.

Rakel nickt.

»In ungefähr einer Stunde bin ich wieder da.«

Dann wird ihr Gesichtsausdruck weicher.

»Und du. Du machst das mit Jonas unglaublich gut. Ich bin so froh, dass du zu uns gekommen bist. Das wollte ich dir nur sagen.«

Ich bin so verlegen, dass ich keine Antwort herausbringe.

Rakel winkt mit einer Hand, zieht die Tür hinter sich zu und lässt mich mit Zombie-Jonas allein. Einige Minuten darauf höre ich die Haustür zuschlagen. Der Wagen wird angelassen, und gleich darauf verklingt das Geräusch des Motors.

»Ich werde mal nachsehen, ob ich ein lustigeres Buch finde«, sage ich zu Jonas.

Ich weiß nicht so genau, weshalb, aber ich habe angefangen, mit ihm zu reden, als ob er verstehen könnte, was ich sage.

Vielleicht werde ich ja langsam verrückt davon, dass ich hier draußen wohne.

Ich verlasse das Zimmer und ziehe vorsichtig die Tür hinter mir zu.

Meine Füße scheinen zu wissen, wo sie hinwollen, sie führen mich zu der Wendeltreppe und weiter ins Obergeschoss.

Oben bleibe ich vor der Tür des Zimmers stehen, das Rakel als Olles Arbeitszimmer bezeichnet hat. Die Sonne strömt durch die großen Glasfenster mit Blick aufs Wasser, die Sonnenstrahlen zerschneiden die drückende Luft. Durch das Fenster kann ich sehen, wie sich das Meer dahinzieht – scheinbar endlos. Nur leichte Kräusel sind an der im Sonnenglanz funkelnden Oberfläche zu sehen.

Ich drücke auf die Klinke von Olles Arbeitszimmer.

Die Scheißtür ist abgeschlossen.

Aber Menschen sind sehr vorhersehbar. Und es gibt eigentlich keinen Grund zu der Annahme, dass Rakel anders sein könnte.

Ich denke an den Schlüssel, der oben auf dem Medizinschränkchen lag, und gehe zum Bücherregal. Lasse die Hand über die oberen Bretter gleiten.

Ich brauche weniger als eine Minute, um den Schlüssel zu finden. Er liegt ganz rechts im obersten Fach, vor einem Buch über schwedische Leuchttürme.

Der Schlüssel gleitet ins Schloss, und einige Sekunden später stehe ich im Zimmer.

Es ist ziemlich klein, hat aber Fenster in zwei Richtungen. Die einzigen Möbel sind ein niedriges Regal mit Büchern und Ordnern und ein großer altmodischer Schreibtisch mit einem Schreibtischsessel. Auf dem Schreibtisch steht ein Drucker, und daneben liegt ein Stapel Blätter im A4-Format. Dann stehen da noch einige gerahmte Fotos.

Ich gehe zum Schreibtisch, beuge mich vor und sehe mir die Bilder an.

Sie zeigen Jonas als Kind. Auf einem Bild hat er einen Fußball unter dem Arm und lächelt, auf dem anderen posiert er vor einem Moped.

Ich schaue mich um.

Vor dem niedrigen Regal steht eine marineblaue Stofftasche. Sie erinnert mich an eine Trainingstasche, sieht aber feiner aus. Wie eine Tasche, die man packt, wenn man übers Wochenende verreisen will.

Ich gehe hinüber und öffne sie. Darin liegt Herrenkleidung – T-Shirts, Pullover und Jeans. Ich wühle ein bisschen zwischen den ordentlich zusammengefalteten Klamotten herum. Ganz unten entdecke ich einen braunen Briefumschlag.

Ich hole ihn heraus – maximal hundertfünfzig Gramm – und öffne ihn.

Er enthält einen Pass, der einem gewissen Olle Berg gehört, einunddreißig Jahre alt und eins zweiundachtzig groß. Unter dem Pass liegt eine Kreditkarte.

Ich schaue das Bild im Pass an.

Er hat durchaus Ähnlichkeit mit mir – die zerzausten braunen Haare, die dunklen Augen.

Eigentlich ist der Bart der einzige Unterschied. Und das Alter natürlich. Er ist dreizehn Jahre älter als ich, aber wenn ich mir einen Bart zulegte, könnte ich vielleicht für dreißig durchgehen.

Irgendwo in meinem Hinterkopf nimmt ein Plan Gestalt an. Er ist noch sehr vage, hat Flatterränder wie ein zu kurz gebratenes Spiegelei, aber ich weiß, dass ich hier auf einer Spur bin.

Der Pass, die Kleider, das sind die Puzzlestücke, die mir noch fehlten.

Vorsichtig lege ich den Umschlag zurück, ziehe den Reißverschluss zu und richte mich auf. Gehe zum Schreibtisch und strecke die Hand nach dem dünnen Papierstapel neben dem Drucker aus.

Ganz oben liegt ein vergilbter Zeitungsausschnitt.

Ein junger Mann wurde gegen Mitternacht auf der Straße 53 auf Höhe von Schloss Sparreholm schwerverletzt aufgefunden. Der Mann wurde von Vorüberkommenden entdeckt, und zur Stunde steht noch nicht fest, woher seine Verletzungen stammen. Die Polizei bittet alle eventuellen Zeugen, sich zu melden …

Ich lege den Ausschnitt zurück und greife nach den Blättern darunter.

Es ist ein Text mit der Überschrift »Dämmerschlaf«.

Vorsichtig blättere ich hindurch. Unter dem Blatt mit dem Titel liegen einige handschriftliche Notizen und ein Ausdruck von etwas, das wie ein langes Gedicht aussieht.

Olle ist ja Schriftsteller – bestimmt hat er das geschrieben.

Ich denke an Zombie-Jonas, der unten im Schlafzimmer liegt und nach Luft schnappt.

Was könnte passieren, wenn ich etwas vorlese, das er erkannt, vielleicht sogar schon einmal gelesen hat? Etwas, das Olle geschrieben hat, zum Beispiel.

Nicht auszudenken, wenn das irgendeine Reaktion in seinem armen, verschlossenen Gehirn auslöst, wie wenn man einen Rechner oder ein Modem einschaltet.

Nicht auszudenken, wenn er dann aufwacht!

Ich schließe die Tür hinter mir und lasse mich in den alten Sessel sinken. Der ächzt unter meinem Gewicht, aber Zombie-Jonas zeigt keine Reaktion.

Ich lege die Papiere auf meine Knie, räuspere mich und lese laut:

Du warst die Taube, ich war das Lamm

Das Paradies war unser Zuhause

Unser mit Dornen umwachsener Friedhof

Mit jedem Tag flogst du weiter fort

Wie der Sturm verdüstertest du die Sonne mit deinem Spiel

Wie Ruß verpestetest du die Luft mit deinem Hochmut

Wie Pfeile schmerzte dein Verrat

Du warst die Taube, ich war das Lamm

Meine Warnungen schlugst du in den Wind

Über meine Worte lachtest du

Von meiner Liebe wolltest du nicht trinken

Dein Gefieder bebte vor Empörung

Dein Mund wiederholte sein Nein

Deine Gedanken wohnten überall

Aber niemals hier bei mir

Ich mache eine Pause.

Was ist das hier eigentlich für ein Müll?

Ich dachte, dieser Olle schriebe irgendwelche Romane und keine kranken Gedichte.

Vom Bett her höre ich ein Geräusch.

Zombie-Jonas stöhnt, und seine Augenlider flattern. Die knochigen Finger der einen Hand zittern ein wenig, und die Muskeln am Arm spannen an. Der Zeigefinger hebt sich, und Jonas streckt die Hand zum Nachttisch aus, genau wie das vorige Mal, als er erwacht ist.

Versteht er, was ich sage? Kennt er den Text?

Der Arm von Zombie-Jonas streckt und streckt sich, bis er nur noch wenige Zentimeter von den Kratzern im Lack des Nachttisches entfernt ist.

Mein Herz schlägt schneller, und ich lese weiter vor.

Du warst die Taube, ich war das Lamm

An den Felsen zerbrachen deine Flügel

An der Sonne verbrannten deine Federn

Von den Lügen wurde dein Schnabel schwarz

Ich fiel, ich starb, ich erwachte nicht

Aber in meiner tiefen Trauer

Kam ein Löwe zu mir …

»Mahhrg …«

Zombie-Jonas gurgelt vom Bett her, und mein Puls wird noch schneller.

Du warst die Taube, ich war das Lamm

Ich pflegte deine Wunden

Ich bot dir zu trinken von meinen Tränen

Ich trug dich aus dem Dämmerschlaf

In das Paradies, das unser war

Obwohl ich sagte ich verzeihe

Wolltest du nur

Deine Flügel zurückhaben

In diesem Moment höre ich Schritte auf der Vortreppe und einen Schlüssel, der ins Schloss gesteckt wird.

Ich springe auf und schiebe die Papiere unter Jonas’ Matratze, schaffe es aber nur zur Hälfte, ein Rand schaut noch hervor.

In der nächsten Sekunde geht die Tür auf.

Rakel schaut herein.

»Hallo, alles in Ordnung bei euch?«

»Ja«, sage ich und schiele zu Jonas hinüber, der wieder still liegt.

Rakel geht zum Bett, beugt sich vor und steckt die Decke um ihn fest. Küsst ihn behutsam auf die Stirn.

Das Papier raschelt ein wenig, und Rakel erstarrt in ihrer Bewegung.

Mein Herz bleibt stehen, und mein Magen krampft.

Aber Rakels Verwirrung hält nur eine Sekunde an. Dann lächelt sie und richtet sich auf.

»Hast du Lust auf etwas zu essen?«