Ich habe schlecht geschlafen. Bin mehrmals aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Habe der Amsel zugehört, die in ihrem Käfig in Samuels Zimmer herumtobte. Habe mich in meiner feuchten Bettwäsche von einer Seite auf die andere gedreht. Habe abwechselnd geweint und gebetet.
Ich kann noch immer nicht begreifen, dass Vater nicht mehr da ist.
Dass seine Seele vom Herrn heimgeholt wurde, während ich eine Tasche mit Drogengeld ausgegraben habe – denn diese Geldscheine stammen ja wohl kaum aus dem Verkauf von Weihnachtszeitungen.
Als ich ins Hospiz kam, begleitete eine Schwester mich in Vaters Zimmer.
Auf seinem Nachttisch standen frische Blumen, und daneben brannte eine Kerze. Vaters Hände waren über der Bibel auf seiner Brust gefaltet. Es war schön und beängstigend zugleich. Alltäglich, zugleich wider jeglichen Verstand – dass ein geliebter Mensch im einen Moment hier sein und im nächsten verschwinden kann.
Und mitten in aller Trauer verspürte ich Zorn.
Vater hat sich einen wirklich unpassenden Zeitpunkt zum Sterben ausgesucht. Jetzt werde ich niemals erfahren, warum er mir nicht gesagt hat, dass Mutter mich treffen wollte.
Jetzt sind wir allein, Samuel und ich.
Ich denke an ihn. Denke an den kleinen Körper, den die Hebamme mir auf die Brust legte, und an die Freude in Vaters Augen, als er sein Enkelkind zum ersten Mal sah, trotz der unvorstellbaren Schande. Obwohl seine unverheiratete unmündige Tochter gesündigt und ein uneheliches Kind auf die Welt gebracht hatte.
Und an den molligen kleinen Zweijährigen mit den Speckwülsten an Armen und Beinen. Der immer munter war, wenn er nur eine doppelte Portion Brei bekam.
Und jetzt?
Geld in einer Tasche unter einem Stein.
Kleine Plastiktüten mit Dogen, die wie Rosenblätter auf dem Linoleumboden der Wohnung verstreut liegen.
Teure Markenkleidung, von der ich weiß, dass er sie sich nicht leisten kann.
Und das alles ist meine Schuld. Es muss meine Schuld sein. Samuel wurde doch vollkommen und unschuldig geboren, wie alle Kinder Gottes.
Ich stecke mir den letzten Bissen Käsebrot in den Mund und schiele zu der Tasche hinüber, die auf dem Boden steht.
»Just do it«, ist darauf gedruckt.
Ich musste ja doch in die Tasche schauen, als ich nach Hause kam.
Samuel hatte recht – sie war wirklich voller Geld. Und sobald ich die wild durcheinanderliegenden Bündel gesehen hatte, überkam mich die Angst, und ich dachte wieder an diesen Mann im Treppenhaus – Igor.
Mein Körper erinnerte sich ebenfalls, denn die Stelle, wo er meinen Arm gepackt hatte, tat weh, und meine Haut brannte, als wäre ich zu lange in der Sonne gewesen.
Ich musste mehrere Male aufstehen und mich davon überzeugen, dass die Wohnungstür abgeschlossen war und die Sicherheitskette davorhing. Und als ich im Dunkel hinter dem dünnen Vorhang im Wohnzimmer stand, glaubte ich, draußen in den Schatten jemanden zu sehen – eine dunkle Gestalt, die sich auf der anderen Straßenseite an die Wand drückte.
Aber das muss wohl Einbildung gewesen sein?
Auf jeden Fall habe ich nicht vor, dieses Geld auch nur eine Minute länger in meinem Haus zu behalten als unbedingt nötig. Ich bin für heute Nachmittag um fünf mit Samuel am Fähranleger auf Stuvskär verabredet, aber ich habe beschlossen, schon heute Vormittag loszufahren.
Es ist Mittsommerabend.
Ich habe Mittsommer immer mit Vater gefeiert, das ist jetzt das erste Mal ohne ihn. Ohne Matjes, saure Sahne und feingehackten Schnittlauch. Ohne Besuch beim Mittsommerbaum. Ohne Bier und Schnaps und Regen und Wind, und Wind und Regen.
Ich schaue aus dem Fenster.
Die Sonne strahlt von einem wolkenlosen Himmel, und die Baumwipfel scheinen sich nicht einen Millimeter zu bewegen.
Es ist ein schöner Tag, ein Tag, der so gut ist wie jeder andere, um Samuel vom Tod seines Großvaters zu erzählen.
Und um ihm diese elende Tasche zu geben.
Ich habe noch immer nicht den Rucksack ausgepackt, den ich auf den Ausflug mitnehmen wollte. Ich beschließe, ihn mit nach Stuvskär zu nehmen für den Fall, dass Samuel etwas davon brauchen kann, wenn er untertaucht.
Ich dusche und putze mir die Zähne. Trage Wimperntusche auf und streife mir ein dünnes Sommerkleid über den Kopf. Dann nehme ich den Rucksack in die eine und die Sporttasche in die andere Hand und gehe hinaus zum Auto.
Auf der Höhe von Länna beginne ich, Unrat zu wittern.
Der schwarze BMW , der mir folgt, seit ich auf den Nynäsväg abgebogen bin, ist noch immer da, obwohl ich immer wieder das Tempo gedrosselt oder erhöht habe.
Das Fahrzeug ist zu weit weg, deshalb kann ich nicht sehen, wer darin sitzt, aber wer es auch sein mag, er will unbedingt Abstand halten.
Etwas Kaltes breitet sich in meiner Brust aus, und mein Mund ist wie ausgedörrt. Obwohl die Sonne brennt und ich von prachtvollem Sommergrün umgeben bin, fühle ich mich unsicher.
Ich rede mir ein, dass ich mir das alles nur einbilde, und drehe das Radio laut, damit ich die Musik trotz des Rauschens der weit offenen Fenster hören kann, sie sind die einzige Klimaanlage, die meine schrottige alte Karre zu bieten hat.
Im Radio spielen sie Dancing Queen.
Abba war in meiner Kindheit die einzige moderne Musikgruppe, die Papa hörte. Eigentlich mochte er am liebsten klassische Musik und christliche Bands, aber ich habe den Verdacht, dass er auf Abba so versessen war, dass er es einfach nicht lassen konnte, sie zu hören.
Die Folge war, dass wir Abba laufen ließen, bis die Platten so abgenutzt waren, dass Papa neue kaufen musste. Und ich konnte jedes Lied auswendig, obwohl ich nicht wusste, was die Wörter bedeuteten.
Tatsache ist, dass ich in Gedanken die Titel aufsagte, wenn ich aus irgendeinem Grund Angst hatte. Wie ein Mantra.
Dancing Queen
Mamma mia
Chiquitita
The winner takes it all
Ich drehe den Rückspiegel zurecht und bemerke einen weißen Volvo, der den schwarzen BMW überholt hat und jetzt zwischen uns liegt.
Mein Herz schlägt wieder in normalem Tempo, und ich atme erleichtert auf. Konzentriere mich auf die Fahrbahn. Halte das Lenkrad nicht mehr so krampfhaft fest und wische mir mit dem dünnen Kleiderstoff den Schweiß ab – zuerst von der einen Handfläche, dann von der anderen.
Dann drehe ich das Radio noch lauter und singe mit.
Doch als ich einige Zeit darauf nach Stuvskär abbiege, sehe ich das schwarze Auto wieder, vielleicht fünfundsiebzig Meter hinter mir. Es fährt so langsam, dass es fast steht.
Die Panik ist sofort wieder da.
Mein Herz hämmert wie besessen, und zwischen den Brüsten bricht mir der Schweiß aus. Und läuft wie ein schmaler Bach an meinem Bauch hinunter.
Was habe ich für Alternativen?
Soll ich halten, als wäre alles ganz normal, und mich auf einen Felsen legen, ohne mich um das Auto zu kümmern, oder soll ich versuchen, meinen Verfolger abzuschütteln – falls er einer ist.
Meinen Verfolger abzuschütteln?
Das ist doch ein Satz wie aus einem Kriminalroman. Weiß ich überhaupt, wie man so etwas macht?
Ich beschließe trotzdem, genau das zu tun. Über die schmalen Wege der Umgebung zu fahren und den schwarzen BMW im besten Fall abzuschütteln wie ein nerviges Insekt, das auf meiner Kleidung herumkriecht.
Ich wende beim Fähranleger und fahre zurück, dem schwarzen Auto entgegen, das sofort in einen Waldweg abbiegt.
Als ich vorüberfahre, werde ich langsamer und versuche, einen Blick auf den Fahrer zu werfen, aber das ist unmöglich, deshalb trete ich das Gaspedal durch und fahre einige hundert Meter weiter, bevor ich nach rechts auf einen kleinen Kiesweg abbiege.
Es ist ein elender Weg – hier und da tauchen große Löcher auf, und ich muss mehrmals Felsbrocken ausweichen.
Hohe, weit auseinanderstehende Kiefern umgeben mich. Die Sonne wird durch das Blattwerk gefiltert und malt Spitzenmuster auf den Boden. Zwischen den dünnen Bäumen ragen Granitbuckel auf, teilweise überwachsen von Torfmoos. In den Felsspalten sehe ich Farnwedel und Blaubeersträucher.
Hier im Schatten ist die Luft kühler. Kühler und gesättigt vom Duft von Kiefernnadeln und Humus.
Ich sehe phantastische Kaufmannsvillen von der vorletzten Jahrhundertwende und schuhkartonähnliche Ferienhütten aus den Fünfzigern. Ich sehe Wohnwagen und teure Sportwagen, die in gepflegten Einfahrten stehen, aber Menschen sehe ich keine.
Wo sind sie alle? Haben die Mittsommerfeiern schon angefangen?
Ich schaue in den Rückspiegel.
Nichts.
Ich drossele das Tempo und fahre im Schneckentempo über die schmalen Wege von Stuvskär. Komme über eine kleine Brücke über glitzerndes Wasser auf eine weitere kleine Insel.
Die Häuser stehen jetzt spärlicher. Einmal ahne ich eine Einfahrt, und einmal sehe ich ein Stück tiefer im Wald ein Haus, aber insgesamt wirkt die ganze Gegend seltsam verlassen.
Als ich gerade den Weg zurück zum Meer suchen will, taucht das schwarze Auto abermals im Rückspiegel auf.
Ich habe das Gefühl, als hätte mir jemand voll in den Bauch getreten.
Vielleicht wäre es besser, nach Stuvskär zurückzufahren und mich dort auf die Felsen zu legen?
Ich werde langsamer und fahre um einen großen Stein herum, der auf die Fahrbahn gekullert ist. Im selben Moment sehe ich rechts eine Einfahrt. Ein Motorrad steht neben einem schwarzen Volvo, und etwas an diesem Motorrad kommt mir bekannt vor. Etwas an dem schwarzen Lack und den Flammen auf dem Tank.
Ich halte zwischen den Kiefern Ausschau. Entdecke das Obergeschoss und das Dach eines schönen alten Holzhauses.
Ich gebe Gas und schaue noch einmal in den Rückspiegel.
Das Auto ist noch da, und ich bete:
Lieber Gott. Hilf mir, sicher nach Stuvskär zu kommen. In Jesu Namen. Amen.
Ich umklammere das Lenkrad, als ich das Gebet flüstere. Mache für einen Moment die Augen zu und suche Kontakt zu Ihm.
Als ich die Augen öffne, werde ich von einem Sonnenstrahl geblendet. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, die Umrisse des Weges zu erkennen.
Der Wald ist hier dichter. Es ist dunkler, und hier und dort wachsen Fichten zwischen den Kiefern.
Ich schaue in den Rückspiegel.
Das Auto ist verschwunden.
Ist das möglich, ist mein Gebet erhört worden?
Ich wage erst nicht zu glauben, dass es so ist. Fahre bestimmt noch eine Viertelstunde weiter über die kleinen Wege, bis ich begreife, dass der BMW wirklich verschwunden ist.
»Danke, lieber Gott«, murmele ich und beginne, den Weg zurück nach Stuvskär zu suchen. »Danke, lieber Gott, dass du mein Gebet erhört hast.«