Abend.

Das Gewitter hat sich verzogen, aber ein dünner Regen fällt über Stockholm. Der noch immer warme Asphalt dampft. Der Himmel ist dunkel, und die Luft, die durch das Fenster, das einen Spaltbreit geöffnet ist, ins Besprechungszimmer strömt, ist schwer vor Feuchtigkeit und den vielen Gerüchen des Sommers. Das wütende Tuten eines vom Unwetter ausgelösten Autoalarms ist von der Straße her zu hören.

Ich stehe auf, gehe zum Fenster und schließe es. Ziehe die Fliege gerade, die ich umbinde, wenn ich in der passenden Stimmung bin – natürlich ist sie gepunktet, wie die von Churchill.

Ich denke an Afsaneh, die das Mittsommeressen allein verzehren musste, obwohl ich versprochen hatte, nach Hause zu kommen. Ich denke an Alba, Alexander und Stella, die ich nicht mehr angerufen habe. Und dann sehe ich meine Kollegen an, wir alle wollen hier weg. Wir alle haben Menschen, die irgendwo auf uns warten, die das schwedischste aller Feste mit uns begehen wollen.

Malin sitzt vornübergebeugt da und stützt die Arme auf die Tischplatte. Obwohl sie versucht, Enthusiasmus vorzutäuschen, ist ihr die Müdigkeit anzusehen. Lasses steht, die Hände tief in den Taschen seiner hoffnungslos unmodernen Jeans mit der Bügelfalte vergraben, vor dem Whiteboard.

Malin steht auf und streckt sich.

»Olle Berg«, sagt sie, befestigt mit kleinen runden Magneten zwei Fotos an der Tafel und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Auch ›Bulle‹ genannt. Einunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Flemingsberg im Süden von Stockholm. Vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung und Frauenfriedensbruch. Hat achtzehn Monate gesessen und wurde vor einem guten Jahr entlassen.«

»Erzähl von der Körperverletzung und dem Frauenfriedensbruch«, sage ich und massiere mir mit der linken Hand das Knie.

»Zu der Körperverletzung kam es auf einem Fest in Tumba. Berg geriet in eine Schlägerei und schlug dem Gastgeber wiederholte Male mit einer ungeöffneten Dose Bier Marke Norrlands Guld ins Gesicht. Der Gastgeber trug eine gesprungene Lippe davon und musste an der rechten Augenbraue mit drei Stichen genäht werden. Offenbar so eine Suffgeschichte. Aber der Frauenfriedensbruch …«

Malin verstummt und blinzelt einige Male.

»Das war richtig übel«, sagt sie dann. »Er hat seine ehemalige Lebensgefährtin bedroht und brutal misshandelt. Sie hat auf einem Auge die Sehkraft verloren. Außerdem hat er mehrmals gegen das Kontaktverbot verstoßen und ihr Auto beschädigt. Ein richtiges Schwein.«

»Ja, der kann uns wirklich leidtun«, sagt Lasses trocken. »Diese Burschen sollen uns ja immer leidtun. Habt ihr mit der Ex gesprochen?«

»Ja«, antwortet Malin. »Sie hat keinen Kontakt mehr zu ihm, aber sie haben gemeinsame Freunde, ein bisschen wusste sie also doch über sein Leben. Jedenfalls bis vor einem halben Jahr.«

»Und was ist vor einem halben Jahr passiert?«, frage ich und werfe einen Blick auf mein Handy, für den Fall, dass Afsaneh sich gemeldet hat, aber das Display ist leer, bis auf das Bild von Nadja in einem gelben Badeanzug und mit Schwimmflügelchen, das ich im vorigen Sommer aufgenommen habe.

»Er hat eine neue Frau kennengelernt und sich offenbar total auf diese Beziehung konzentriert«, sagt Malin. »Er hat den Kontakt zu seinen früheren Freunden mehr oder weniger abgebrochen. Offenbar leben sie jetzt zusammen. Vorher hat er bei einem Kumpel gewohnt.«

»Wo wohnen sie?«, frage ich.

»Das ist es ja gerade«, sagt Malin. »Niemand weiß, wo Bulle sich aufhält oder wo diese Frau wohnt.«

»Und wie heißt sie?«, frage ich.

»Das wissen wir auch nicht. Wir konnten nur in Erfahrung bringen, dass sie einen ungewöhnlichen Vornamen hat. Ein bisschen altmodisch, so hat die Ex das wohl genannt. Und dann wissen wir, dass sie einen behinderten Sohn im Teenageralter hat, der Jonas heißt. Er hat wohl bei einem Unfall einen Gehirnschaden davongetragen.«

»Aber«, murmelt Lasses und fährt sich mit beiden Händen über den Bart. »Irgendwer muss doch irgendwas über sie wissen. Habt ihr mit dem Kumpel gesprochen, bei dem er vorher gewohnt hat?«

»Ja«, sagt Malin geduldig. »Wir haben mit ihm gesprochen, aber er weiß auch nichts.«

»Verdammt«, sagt Lasses. »Das wird doch immer krankhafter!«

Malin schaut diskret auf ihre Armbanduhr. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, schlägt sie sofort die Augen nieder.

»Gibt es irgendeinen anderen Faden, an dem wir ziehen können?«, frage ich jetzt. »Hat dieser Bulle irgendeine Arbeit? Haben wir seine Telefongespräche und seinen Kreditkartengebrauch überprüft?«

Malin nickt.

»Seit seinem Verschwinden hat er keine Kreditkarten benutzt und auch nicht telefoniert. Was die Arbeit angeht, hat er bis vor acht Monaten als Kurierfahrer gearbeitet. Aber offenbar hat er sich danebenbenommen, ist morgens zu spät gekommen und so weiter, deshalb wurde der Vertrag nicht verlängert. Und seine Eltern sind beide tot, und er hat keine Geschwister.«

»Wissen wir sonst nichts?«, fragt Lasses.

»Doch«, sagt Malin. »Eine Menge. Aber nichts von Interesse. Er ist Linkshänder. Er ist Arsenalanhänger. In seiner Freizeit spielt er Computerspiele. Er liebt romantische Komödien, hat in der Wirklichkeit seine Frauen aber lieber zusammengeschlagen.«

Lasses, der sich in eine richtige Wut diesem mutmaßlichen Mörder gegenüber hineingesteigert hat, faucht:

»Aber man kann doch nicht einfach so verschwinden? Irgendwer muss doch wissen, wo er ist!«

Malin gibt keine Antwort, sie lehnt sich an das Whiteboard und schließt die Augen, als wünschte sie sich weit weg. Dann fängt sie an, ihre Sachen zusammenzupacken.

»Entschuldigt«, sagt sie. »Aber ich muss wirklich los.«

Ich nicke zustimmend.

»Können wir uns nicht an alle lokalen Wachen im Süden von Stockholm wenden und um Informationen über diesen Olle Berg bitten?«, frage ich. »Und wir dürfen nicht vergessen zu erwähnen, dass er mit einer Frau zusammenwohnt, die einen behinderten halbwüchsigen Sohn namens Jonas hat. Sowas merkt man sich schließlich.«

Malin nickt, zieht ihren Notizblock wieder aus der Tasche und schreibt etwas auf.

»Ich gehe jetzt«, murmelt sie dann. »Andreas ist in Stockholm.«

Ich schaue ihr hinterher. Mustere den langen, schmalen Körper, den großen Bauch und die resignierte Miene.

Ich weiß, wie sie sich fühlt.

Ich erinnere mich nur zu gut, wie es war, ein junger Polizist zu sein und so viel zu wollen. Darauf zu brennen, die Fälle zu lösen, die sich nicht lösen ließen.

All die Nächte, all die Wochenenden, die man im Büro verbracht hat, um Vernehmungsprotokolle und kriminaltechnische Berichte zu lesen. All die Kumpel, Freundinnen – und später Kinder –, die vergeblich zu Hause vor dem Fernseher gewartet haben.

War es das eigentlich wert?

»Bis morgen dann«, sagt Malin über die Schulter und geht zur Tür. Doch ehe sie nach der Klinke greifen kann, wird die Tür sperrangelweit aufgestoßen, und Malik schaut herein.

Er hat sich die schwarzen Haare zu einem Knoten auf den Kopf gesteckt, und ich muss sofort an eine transsexuelle Version der Kleinen My denken. Seine Kleider sind zerknittert, und um das Handgelenk trägt er mehrere dünne Lederriemen.

Es sieht schrecklich aus, aber das würde ich ihm niemals sagen.

Alle sollen sich aus freien Stücken schämen dürfen, ohne meine Einmischung.

Malik hebt die Hand, wie um Malin handgreiflich am Verlassen des Raumes zu hindern.

»Wirhameinneuesopfer«, sagt er so schnell, dass ich die Wörter nur mit Mühe auseinanderhalten kann.

Erst jetzt höre ich, wie atemlos er ist, offenbar ist er die Treppe hochgerannt.

»Ein Leichnam ist im Osten vom Seebad Gålo aus dem Wasser gezogen worden«, sagt er nun. »Könnt ihr sofort zur Rechtsmedizin fahren?«