Ich schaue auf das dunkle Meer hinaus und versuche zu verstehen.
Vater ist nicht mehr da. Samuel ist nicht mehr da.
Abgesehen von der akuten Angst und Sorge, was Samuel passiert sein könnte, wächst ein Gefühl in mir, wurzellos zu sein, als wäre ich ein Baum ohne Wurzeln oder ein sehr kleines Boot, das auf einem riesigen Meer treibt.
Ohne Samuel und Vater habe ich keine Verankerung in der Vergangenheit oder der Zukunft. Wer bin ich ohne die beiden? Gibt es mich dann überhaupt?
Ich denke den Gedanken noch einmal, zwinge mich, mich der schmerzlichen Wahrheit zu stellen. Vater ist nicht mehr da. Samuel ist nicht mehr da.
Aber ist er das wirklich nicht?
Dass Vater nicht zurückkommen wird, ist mir klar, aber bei Samuel weiß man nie.
Verschwinden ist schließlich eine seiner Glanznummern.
Ich denke an damals im Mai, als wir uns vor dem Laden auf dem Markt treffen wollten, um dann zu Vaters Geburtstag zu fahren. Wie ich dort über eine Stunde gewartet habe, bis ich davon überzeugt war, dass er entführt, zusammengeschlagen oder überfahren worden war. Und als ich gerade gehen wollte, kam er über das Pflaster geschlendert, ganz ohne Eile, mit diesem Amseljungen in der Hand, das er nach eigener Aussage aus einem Container gerettet hatte.
Ein anderes Mal hat er sich mit dem Tag geirrt, kam nicht aus dem Bett oder wurde vom Fernsehen abgelenkt, von etwas, das auf der Straße passiert war, oder vielleicht von seinen wirren Gedanken.
Samuel ist unzuverlässig, impulsiv und hat die Konzentrationsfähigkeit eines Hundebabys. Aber schlecht ist er nicht.
Er ist nur …
Ich suche nach dem Wort und finde es: hoffnungslos. Doch, ich muss einfach zugeben, dass er hoffnungslos ist.
Der Wind greift nach meinem Rock, hebt ihn über meine Oberschenkel, aber ich reagiere nicht, es interessiert mich nicht, ob mich jemand sieht.
Ich denke an Vater.
Daran, wieso ich ihn lieben konnte, obwohl er mich so streng kontrolliert und mir zudem Mutter genommen hat.
Und dann denke ich an den Pastor, an seinen Verrat – der genauso groß ist. Wie er seiner eigenen gutgläubigen Herde eingeredet hat, er sei einer von Gottes Stellvertretern auf Erden, wo er doch eigentlich nur ein ganz normaler, angegeilter Mann mittleren Alters ist.
Weitere Gedanken melden sich zu Wort.
All diese Männer, die mein Leben gelenkt haben, woher kamen sie eigentlich? Und wer hat ihnen das Recht gegeben, über mich zu bestimmen?
Aber die Antwort auf diese Frage kenne ich ja schon.
Ich habe ihnen dieses Recht gegeben. Ich ganz allein.
Ich lehne mich an das Auto, schluchze heftig und kämpfe gegen den Drang an, einfach loszuschreien. Dann öffne ich die Tür und lasse mich auf den Vordersitz fallen.
Atme den Geruch nach Kunststoff und feuchten Textilien ein. Drehe den Zündschlüssel um und trete aufs Gaspedal.
Aber etwas ist im Weg, es raschelt ein bisschen, als ich auf das Pedal trete, als läge da unten eine leere Chipstüte.
Ich hebe den Fuß und suche mit der Hand auf dem Boden, finde ein Stück Papier und hebe es hoch.
Vorsichtig falte ich es auseinander und streiche es am Armaturenbrett glatt. Beuge mich vor, um im trüben Abendlicht lesen zu können.
Es scheint ein Ausdruck von irgendwas zu sein.
»Dämmerschlaf«, lese ich.
Dann folgt ein Gedicht über einen Löwen und eine Taube. Die letzte Strophe trifft mich auf irgendeine Weise im Herzen.
Aus Tränen weinte ich mir ein Meer
Und legte mich zum Sterben hin
Auf die weichen Kissen der Trauer
Doch dann war der Löwe wieder da
Und in seinem riesigen Schlund trug er
Eine unbefleckte Taube
Was ist das, und warum liegt es in meinem Auto?
Bei dem Gedicht wird mir unbehaglich zumute, auf eine unklare Weise. Das mit dem Löwen und dem Lamm kommt mir irgendwie bekannt vor, aber als ich gerade versuche, den davongleitenden Gedanken einzufangen, sehe ich, dass jemand mit Filzstift eine Mitteilung ganz unten auf das Blatt geschrieben hat.
Ich erkenne die krakelige, nach links gelehnte Handschrift sofort. Die schlampigen Buchstaben, die gewissermaßen übereinanderzufallen scheinen.
Wärme breitet sich in meiner Brust aus, als hätte ich eine Tasse heißen Tee getrunken.
Können wir uns um 22.00 an der Tankstelle sehen es is was schlimmes pasiert und ich muste was in ordnung bringen kuss/S.
Unter die Mitteilung hat Samuel eine kleine Karte gezeichnet und die Tankstelle mit einem dicken X markiert.
Ich werfe das Blatt mit dem Gedicht auf den Beifahrersitz und kneife die Augen zusammen. Vaters Gesicht huscht vor meinem inneren Auge vorbei, und ich höre seine Stimme, als er mir einschärft, mich ja nicht mit Samuel zu treffen.
Nein!
Ich habe nicht vor, denselben Fehler zu machen wie Vater.
Ich schaue auf die Uhr.
Ich kann es noch schaffen.