Die Sonne bringt das Wasser zum Glitzern. Ein leichter Dunst schwebt über dem Meer, wie Rauch von einem fernen Feuer.
Von dem gestrigen Unwetter ist nichts mehr zu merken, das Regenwasser ist versickert, die Felsen sind getrocknet, und das hohe Gras hat sich über Nacht aufgerichtet und reckt sich wieder der aufgehenden Sonne entgegen.
Ich stehe bei meinem kleinen Golf und putze mir die Zähne mit der Zahnbürste, die ich im Rucksack hatte.
Ab und zu ist es schön, eine Naturfreundin zu sein – selbst wenn man sich vor dem Ausflug der Gemeinde drückt. Man kann sein Gepäck offenbar in den unerwartetesten Situationen verwenden.
Ich spucke ins Gras und stecke die Zahnbürste zurück ins Etui.
Mein Kopf tut weh, und meine Augen brennen. Ich habe das Gefühl, die ganze Nacht kein Auge zugetan zu haben. Aber natürlich, ein fast zehn Jahre alter Golf ist nicht gerade bequem, egal, wie man sich dreht und wendet. Doch ich schlafe darin immer noch besser, als ich im Zelt geschlafen hätte, da ich die Liegeunterlage vergessen habe.
Samuel ist gestern nicht gekommen.
Die kleine Bucht, die Samuel auf der Karte vermerkt hatte, habe ich problemlos gefunden, und ich war sogar zu früh da.
Aber er ist nicht aufgetaucht.
Ich setze mich ins Gras und blinzele in die Sonne. Denke daran, was Samuel unter das Gedicht geschrieben hat.
… es is was schlimmes pasiert und ich muste was in ordnung bringen kuss/S.
»Was schlimmes«, was soll das heißen? Schlimm wie gefährlich oder nur unangenehm?
Schlimm, wie von einem mordlüsternen Drogenhändler gejagt zu werden, oder schlimm, wie das Handy in die Kaffeetasse fallen zu lassen?
Ich massiere mir mit den Zeigefingern die Schläfen und versuche, klar zu denken. Streife mir einen glänzenden schwarzgrünen Käfer vom Kleid. Dann schaue ich auf die Uhr.
Viertel vor acht.
Ich müsste nach Hause fahren. Die elende Amsel braucht Futter und Wasser. Und in etwas über einer Stunde muss ich im Laden sein. Aber ich kann doch nicht arbeiten, wenn mein Kind in Gefahr ist. Ich kann nicht Konserven mit Mais und Erbsen einräumen und bei alten Damen die Einkäufe kassieren und Waren auszeichnen, wenn mein Sohn – der einzige lebende Mensch, den ich wirklich liebe – in »was schlimmes« geraten und verschwunden ist.
Die Frage ist nur, was ich tun soll.
Ich weiß ja nicht einmal, wo Samuel ist.
Ich nehme mein Handy und gehe hinaus auf die Felsen. Setze mich und gebe Stinas Nummer ein.
Sie antwortet nach dem dritten Klingelton und ist so munter wie immer. Als hätte sie gerade im Toto gewonnen oder wäre Großmutter geworden oder beides. Als ob die Welt durchaus kein böser und gefährlicher Ort wäre, wo die ganze Zeit »was schlimmes« passiert.
Ich erkläre ihr alles. Erzähle von Samuel, der sich in Luft aufgelöst hat.
Stina ist erwartungsgemäß überhaupt nicht sauer auf mich, weil sie jetzt einen Ersatz für mich finden muss, sondern voller Mitgefühl, und sie bietet ihre Hilfe an, wenn es irgendetwas gibt – »egal was, wirklich egal was, meine Liebe« –, das sie tun kann.
»Das ist furchtbar lieb«, sage ich. »Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Du musst jetzt zur Polizei gehen«, sagt sie voller Überzeugung, als ob ihre Kinder ununterbrochen verschwänden und sie genau wüsste, wie lange man warten muss, ehe man sich an die Behörden wendet.
»Ja. Das muss ich wohl. Aber ich weiß ja nicht einmal, wo er in der letzten Zeit gewohnt hat.«
»Hast du nicht gesagt, dass er bei einer Familie arbeitet?«
»Doch, bei einer Familie mit einem behinderten Sohn. Die wohnen irgendwo in der Nähe von Stuvskär, aber ich weiß nicht genau, wo.«
»Wie hat Samuel diesen Job denn gefunden?«, fragt Stina, und ich höre Papierrascheln und ein Kratzen, als ob sie sich Notizen macht.
Ich suche in meiner Erinnerung, versuche mich daran zu erinnern, was Samuel erzählt hat.
»Ich glaube, er hat so eine Anzeige im Netz gefunden.«
»Hm«, sagt Stina und kratzt ein bisschen weiter. »Aber er hat nicht gesagt, wie die Familie heißt?«
»Nein. Nur dass die Mutter Rakel heißt und der Sohn, der irgendeinen Gehirnschaden hat, Jonas. Ja, und der Vater, oder Rakels Lebensgefährte, ist offenbar Schriftsteller. Ich glaube, er heißt Olle oder so. Aber das ist alles. Den Nachnamen weiß ich nicht.«
Stina schweigt, als ob sie darüber nachdenkt, was ich gerade gesagt habe. Dann fragt sie mit leiserer Stimme:
»Und er hat keine Fotos von dort geschickt?«
»Nichts. Und jetzt ist sein Handy wieder ausgeschaltet, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Wir waren gestern Abend um zehn verabredet, aber er ist nicht gekommen.«
»Geh zur Polizei«, sagt Stina mit energischer Stimme. »Geh jetzt sofort zur Polizei und ruf mich dann wieder an. Natürlich werden wir ihn finden. Hast du gehört, Liebes? Wir werden ihn finden!«
Ich fahre an Mittsommerbäumen vorbei, deren Gras- und Blumenschmuck in der Hitze schon verdorrt ist. Bierdosen und Weinflaschen liegen am Straßenrand und erzählen von dem Fest, das offenbar während der Nacht in Teilen des Schärengürtels stattgefunden hat.
Ich brauche nur zwanzig Minuten zur nächstgelegenen Wache, aber mein Körper protestiert immer mehr, bei jedem Kilometer, den ich mich von Stuvskär entferne. Es ist, als ob jede Zelle spürt, wie das unsichtbare Band, das mich und Samuel aneinanderfesselt, bis zum Zerreißpunkt angespannt wird.
Als ich am Ende anhalte, bin ich schweißnass, und mein Herz trommelt wie verrückt.
Die Polizistin, die meine Anzeige aufnimmt, heißt Anna und sieht nicht einen Tag älter aus als siebzehn. Fast frage ich mich, ob sie die Uniform irgendwo gestohlen hat oder vielleicht ein Schulpraktikum macht.
»So. Sie wollen Ihren Sohn also vermisst melden?«, fragt sie und spitzt die seltsam geschwollenen Lippen.
»Ja. Er ist verschwunden. Samuel. Mein Sohn, meine ich. Ja, so heißt er. Per Samuel Joel.«
Das Teeniemädchen erwidert meinen Blick mit gelangweilter Miene.
»Und wie lange ist er schon verschwunden?«
»Wir waren gestern Abend verabredet, um zehn auf Stuvskär, aber er ist nicht gekommen. Und das ist jetzt zwölf Stunden her. Aber er ist schon länger verschwunden. Oder, was ich meine, ist, dass er seit zwei Wochen nicht mehr zu Hause war. Und da habe ich mir natürlich wahnsinnige Sorgen gemacht. Aber dann hat er eine SMS geschickt, also kann man eigentlich nicht sagen, dass er wirklich verschwunden war. Aber das ist er jetzt.«
Ich lege eine Pause ein und füge hinzu:
»Verschwunden, meine ich.«
Ich bereue sofort, ihre Frage nicht einfach beantwortet zu haben. Warum lerne ich einfach nicht, den Mund zu halten?
Zwischen ihren Augenbrauen wächst eine tiefe Furche, die mir klarmacht, dass sie mich zum einen für verrückt hält und dass sie zum anderen wohl doch nicht so jung ist, wie ich gedacht habe. Diese Annahme wird durch die Wölbung verstärkt, die ich jetzt unter ihrem Hemd entdecke.
Das habe ich bisher übersehen. Sie muss mindestens im sechsten Monat sein.
Du hast doch keine Ahnung, wie es ist, Kinder zu haben, denke ich.
Du weißt nichts darüber, wie weh es tut, wenn sie leiden, wie unmenschlich stark man wird, wenn sie Hilfe brauchen, oder welch furchtbare Angst man hat, wenn sie in Gefahr sind.
Du sitzt da mit deinem lipglossblanken Mund und glaubst, du wüsstest etwas über das Leben, aber dein Leben hat eigentlich noch gar nicht angefangen.
»Wir sollten vielleicht mit dem Anfang anfangen?«, fragt sie.
Ich berichte also über Samuel und die Familie auf Stuvskär, für die er arbeitet – über Rakel, Olle und Jonas. Ich erkläre, dass Samuel nicht immer zuverlässig ist, aber dass er immer auftaucht. Ich zeige ihr auch seine Mitteilung, das, was auf dem Blatt mit dem seltsamen Gedicht steht. Aber ehe sie das lesen kann, ist vom Gang her Lärm zu hören. Dem Lärm folgen ein scharfer Knall und ein wütendes Gebrüll.
»Fass mich nicht an, du Scheißfotze! Kapiert?«
Die Teeniepolizistin seufzt und verdreht die Augen, um klarzustellen, wie total genervt sie ist.
»Sorry«, sagt sie. »Aber ich muss den Kollegen kurz helfen. Bin gleich wieder da.«
Aber »gleich« kann bekanntlich ziemlich lange dauern, und als die Minuten vergehen und Lärm und Gebrüll sich langsam in Richtung Ausgang verlagern, fühle ich mich immer weniger wohl in meiner Haut.
Auch wenn diese Polizistin mich nicht direkt ausgelacht hat, war doch klar, dass von einem regulären Polizeieinsatz noch nicht die Rede sein kann.
Offenbar ist Samuel noch nicht lange genug verschwunden.
Ich frage mich, wie lange man verschwunden sein muss, ehe die Polizei einen Finger rührt – einen Tag? Eine Woche?
Weitere Fragen tauchen in meinem verwirrten Kopf auf.
Soll ich ihr erzählen, dass ihre Kollegen nach Samuel suchen?
Mir bricht der Schweiß an den Schläfen aus, und mein Herz schlägt schneller, als mir aufgeht, worauf ich mich hier eingelassen habe.
Und die Sporttasche voller Hunderter, was soll ich dazu sagen?
Mein Herz überspringt einen Schlag, und ich schlucke hart.
Nein, das geht einfach nicht.
Ich springe so heftig auf, dass mein Stuhl fast umkippt, und strecke die Hand nach meiner Handtasche aus. Dann schleiche ich mich auf dem Weg hinaus, auf dem ich hereingekommen bin.
Die Teeniepolizistin und ihre Kollegen haben alle Hände voll damit zu tun, den wütenden Mann festzuhalten, der gerade ausgestreckt im Gang auf dem Boden liegt. Er hat mit festem Griff die Wade einer weiteren Polizistin umklammert und schluchzt laut.
Ich verlasse die Wache mit einem befreienden Gefühl der Erleichterung. Öffne die Autotür und lasse mich auf den glühend heißen Sitz fallen.
Meine Haut brennt in der Hitze, aber das merke ich kaum. Ich kann nur denken, dass ich gerade noch mal davongekommen bin und dass ich Samuel irgendwie finden muss. Irgendwie, so dass ich nichts von meiner und Samuels Verbindung zum Drogenhandel erzählen muss.
Ich werde als Erstes nach Stuvskär zurückfahren – denn da muss er doch irgendwo sein? Jemand da muss ihn doch wohl gesehen haben?
Erst als ich fast auf Stuvskär bin, fällt mir ein, dass ich das Gedicht mit Samuels handschriftlicher Mitteilung auf dem Tisch der Teeniebullenfrau vergessen habe.