»Sollen wir über Nyköping oder über Gnesta fahren?«
Malin schaut kurz zu mir herüber.
»Über Gnesta«, antwortet sie und blickt aus dem Fenster, wo der blühende Raps die Felder gelb leuchten lässt.
»Das fühlt sich wirklich seltsam an«, sagt Malin und packt das Rad so fest, dass ihre Finger weiß werden. »Was, wenn ich Mama über den Weg laufe?«
»Dann werden wir damit fertig«, antworte ich.
Malin flucht leise und bremst für einen Traktor, der auf die Straße abbiegt.
»Weißt du, wie es Hanne geht?«, fragt sie.
»Nein«, sage ich. »Aber als ich zuletzt bei ihr war, ging es ihr ziemlich gut.«
Malin schaltet, gibt Gas und fährt nach links, um den Traktor zu überholen. Der Wagen beschleunigt, ich werde in den Sitz gedrückt, an dem ich mich instinktiv festhalte. Einige Sekunden später gleiten wir sanft vor den Traktor, und ich lasse los und hole tief Luft.
Malin schaltet wieder und wirft mir einen Seitenblick zu.
»Und die Erinnerung?«
»Noch immer vor allem Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis«, sage ich. »Wenn wir bei ihr sind, werde ich sie über den Stand der Ermittlungen informieren, ihr das Gedicht zeigen und so weiter. Dann kann sie ihre spontanen Überlegungen äußern, denn ihre kognitiven Fähigkeiten sind ja mehr oder weniger unversehrt. Und sie erinnert sich an alles, was passiert ist, bis auf die letzten Jahre. Sie kann also noch immer auf ihre gesamte berufliche Erfahrung zurückgreifen. Aber wenn wir morgen oder in einer Woche nach Ormberg zurückkämen, hätte sie sicher alles vergessen. Ich würde ihr die ganze Geschichte noch einmal erzählen müssen.«
»Was für eine verdammte Hölle, in der sie da lebt«, murmelt Malin.
Ich gebe keine Antwort, denke aber, dass sie nur teilweise recht hat, dass es auch Vorteile gibt.
Hanne wird zum Beispiel nicht von den Erinnerungen daran gequält, was in Ormberg geschehen ist.
Ich schaue über die Felder, die sich wogend bis zum Horizont dahinziehen, wie ein grüngelbes Meer, auf dem eine mächtige, träge Dünung heranrollt. Die Waldpartien, die hier und da aufragen, werfen lange gespenstische Schatten über die Felder.
»Dieses Gedicht war übrigens im Netz nicht zu finden«, sagt Malin. »Also stammt es sicher von irgendeinem munteren Hobbydichter.«
»Mm.«
»Diese Dienstanwärterin«, beginnt Malin und beißt in eine Pflaume.
»Anna Andersson?«
»Genau«, sagt Malin und stopft sich auch den Rest der Pflaume in den Mund. »Sie hat etwas davon gesagt, dass Olle, bei dem es sich ja wohl um Olle Berg handelt, Schriftsteller ist.«
»Der ist so verdammt weit vom Schriftstellersein entfernt, wie man überhaupt nur sein kann«, sage ich. »Aber was weiß ich? Jeder hergelaufene Idiot nennt sich doch heutzutage Schriftsteller.«
Malin öffnet das Fenster einen Spaltbreit, fischt sich den Pflaumenkern aus dem Mund und schnippt ihn mit Daumen und Zeigefinger hinaus.
Der Geruch von Kuhfladen und Gras breitet sich im Auto aus.
»Danke«, sagt sie. »Ich habe auch in den Unterlagen gelesen. Ich meine nur, dass er vielleicht so allerlei geschrieben hat. Dieses Gedicht zum Beispiel.«
»Sicher. Das kann sein. Ich schreibe auch so dies und das. Vor allem ziemlichen Scheiß.«
»Apropos schreiben«, sagt Malin langsam. »Ich habe mit einer Kollegin gesprochen, die in der Straßendealergruppe auf Södermalm gearbeitet hat. Ehe die bei der Umstrukturierung aufgelöst wurde, meine ich. Sie kennt da alle Junkies, und die kennen die Dealer und die … na ja, du weißt schon. Egal. Igor Ivanov hat offenbar zwei Bücher geschrieben. Lyriksammlungen.«
»Du machst Witze?«
»Nein. Die werden über Amazon verkauft, und wie es scheint, verdient er daran ziemlich gut. Ich habe eins bestellt. Wir sollten uns die mal ansehen. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass das Gedicht aus einem von Igors Büchern stammt.«
»Darauf würde ich mein Geld nicht wetten«, sage ich, öffne das Fenster und nehme mir eine Zigarette. Gebe mir Feuer und mache einen tiefen Zug.
Malin schaut mich aus großen Augen an, sagt aber nichts. Dann biegt sie ab in Richtung Ormberg.
Die Straße ist hier nicht mehr so gut – der Asphalt weist große Risse auf, und die Flickendecke aus Reparaturen, die die Fahrbahn überzieht, erinnert an diese furchtbaren geflickten Jeans, die meine Freunde getragen haben, als wir auf dem Gymnasium waren.
Ich hätte sowas nie angezogen, nicht mal als Teenager.
Ein Reh springt vielleicht fünfzig Meter vor uns über die Straße. Malin bremst scharf. Ich drücke die Zigarette an der Autotür aus, lasse sie auf den Boden fallen und warte darauf, dass Malin wieder Gas gibt. Aber sie wird langsamer und bleibt dann am Straßenrand stehen. Ihre Finger umklammern krampfhaft das Lenkrad, und sie starrt eine hohe Kiefer an.
»Ich weiß nicht, ob ich das hier schaffe«, murmelt sie.
»Das wird schon.«
Sie schüttelt langsam den Kopf.
»Nichts wird.«
»Soll ich fahren?«, schlage ich vor und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich auf ihrer Begleitung bestanden habe.
Malin schüttelt den Kopf und fährt wieder los.
Wir fahren langsam weiter in Richtung Ormberg. Der Wald um uns herum wird dichter und die Straße immer schmaler und dunkler. Sie schneidet sich einen Weg zwischen den hohen Fichten hindurch, wie eine Schlucht durch ein Gebirge.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy, aber Afsaneh hat sich nicht gemeldet.
Als ich ihr gesagt habe, dass ich heute Abend arbeiten muss, war sie nicht einmal sauer. Sie hat einfach nur geschmunzelt. Als ob sie eigentlich mit etwas anderem beschäftigt wäre und gar nicht gehört hätte, was ich sage.
Sie ist so verändert, und ich weiß nicht, ob ich besorgt sein oder mich freuen soll.
Als wir Ormberg erreichen, ist es fast acht Uhr abends. Die Sonne ist hinter dem Ormberg untergegangen, aber der Himmel strahlt noch immer in einem hellen Türkis mit goldenen Streifen, wie auf einem Gemälde aus dem Rokoko.
Doch damit enden auch die Ähnlichkeiten mit der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts.
Das Dorf ist zwar in prachtvolles Grün gehüllt, aber was im Volksmund als Zentrum bezeichnet wird, ist genauso scheußlich wie in meiner Erinnerung.
Als wir am alten Dorfladen vorbeifahren – den wir während der Mordermittlung als improvisiertes Büro genutzt haben –, sehe ich, dass dort offenbar renoviert wird. Vor dem Haus stehen eine Zementmischmaschine und einige große Säcke voll Bauschutt. Und über dem Fenster hat jemand ein Schild angebracht.
»Hassans Lebensmittel«, sage ich. »Ja, verdammt.«
Malin antwortet nicht.
Wir fahren an der Kirche vorbei. Sie steht unheilverkündend düster und leer auf dem Dorfanger, wie ein Monolith, der an bessere Zeiten erinnern soll, als Dorf und Gemeinde noch blühten und gediehen. Hohes Gras wächst um die Kirche herum, und Büsche verbergen den Eingang. Verputz hat sich von der Fassade gelöst und große, ziegelrote Wunden bloßgelegt.
Das letzte Stück zum Haus von Berit Sund legen wir im Schritttempo zurück.
Die gewaltigen wachsamen Gestalten der Kiefern umschließen uns wieder. Der Winter hat dem alten Kiesweg voller Schlaglöcher übel mitgespielt. An mehreren Stellen wirkt der Wegrand eingesunken, als hätte sich der Boden darunter bewegt.
Dann wird der Wald spärlicher, und Berits kleines Haus taucht auf.
Die Fenster leuchten einladend, und ein Rauchfaden zieht sich in den hellen Sommerhimmel.
Wir halten vor dem Haus und steigen aus.
»Berit Sund is still going strong, wie ich sehe«, kommentiert Malin leise.
Berit ist eine ältere Frau, die seit einer Ewigkeit hier in der Gegend wohnt. Sie hat für Gemeinde und Sozialamt gearbeitet, und jetzt kümmert sie sich um Hanne. Ich nehme an, dass sie eine Art Mischung aus Freundin, Betreuerin und Haushälterin ist.
»Sieht so aus«, antworte ich.
»Ich kann mir ein schlimmeres Lebensende vorstellen«, sagt Malin und lässt ihren Blick über das kleine rote Haus mit den weißen Ecken gleiten.
Die Farbe ist in ihr Gesicht zurückgekehrt, und sie wirkt erleichtert, dass wir das Dorf hinter uns gebracht haben, ohne auf Bekannte von ihr zu stoßen.
Auf der gepflegten Rasenfläche stehen Obstbäume, und um das ganze Haus zieht sich ein prachtvolles Beet, in dem sich Katzenminze mit hohen Stockrosen drängt, die darauf warten, ausschlagen zu können. In der feuchten Abendluft mischt sich der Rauchgeruch mit dem schweren, süßlichen Duft des großen Jasminbusches links von der Haustür.
Berit öffnet auf unser Klopfen hin fast sofort.
Sie trägt ein formloses geblümtes Kleid von der Sorte, die meine Großmutter Kittelschürze genannt hat, ihre Füße stecken in dicken Wollsocken. Sie hat die Haare zur Seite gekämmt und mit einer kindlichen Haarspange mit einem im Lampenlicht funkelnden und glitzernden Stern festgesteckt. Ihre Runzeln sind zu tiefen Furchen geworden. Im Schein der Deckenlampe erinnern sie an Axthiebe, die sich kreuz und quer über das Gesicht ziehen und es aussehen lassen wie einen alten Hackklotz.
Hinter ihr steht Joppe mit gesenktem Kopf und wedelt erwartungsvoll mit dem Schwanz.
Berit lächelt, als sie mich sieht, und umarmt mich unerwartet energisch.
»Manfred, lange nicht mehr gesehen.«
Ihr Körper kommt mir kleiner und dünner vor als in meiner Erinnerung, als ob Teile von ihr zusammen mit der dicken Schneedecke geschmolzen wären.
Dann umarmt sie Malin.
»Liebes Kind, wie schön, dich zu sehen.«
Sie legt Malin die Hand auf den Bauch.
»Und herzlichen Glückwunsch. Was für ein Segen. Aber hier könnt ihr doch nicht herumstehen. Hereinspaziert, hereinspaziert!«
Im Haus hat sich nichts verändert: Die Kleider hängen ordentlich an ihren Haken, die Schuhe stehen ordentlich darunter im Regal, und die Pelargonien auf der Fensterbank sehen genauso aus wie im Winter.
Aus der Küche ist das Knistern eines Feuers zu hören.
Wir ziehen die Schuhe aus und gehen hinter Berit her. Hanne sitzt am Tisch.
Als ich hereinkomme, springt sie sofort auf und lächelt.
Sie sieht wunderbar aus.
Ihre roten Haare sind jetzt länger und weisen graue Strähnen auf, ihre Arme sind vielleicht ein bisschen dünner, aber ansonsten ist sie unverändert, als sie meine Hände nimmt und ihren Blick auf mich richtet.
»Du hast mir gefehlt«, sagt sie und drückt meine Hände ganz fest.
»Du mir auch«, erwiderte ich.
Dann nimmt sie mich in die Arme und hält mich so lange fest, dass es fast peinlich ist.
Am Ende lässt sie mich los und dreht sich zu Malin um.
»Hanne«, sagt sie und streckt die Hand aus.
Malin wirft mir einen raschen Blick zu.
»Malin Brundin«, sagt sie dann und nimmt Hannes Hand. »Wir sind uns schon einmal begegnet. Wir haben bei der Mordermittlung hier in Ormberg zusammengearbeitet.«
»Entschuldige«, sagt Hanne und sieht verlegen aus. »Das hab ich wohl vergessen.«
»Macht doch nichts«, erwidert Malin.
Wir lassen uns am Küchentisch nieder.
»Wie geht es dir?«, frage ich.
»Ich kann nicht klagen«, sagt Hanne und lächelt. »Und du? Was machen Afsaneh und Nadja?«
Mein Herz setzt einen Schlag aus, und ich schnappe nach Luft. Ich habe Hanne erzählt, was Nadja zugestoßen ist, aber das hat sie natürlich vergessen.
Berit sieht jetzt nervös aus.
»Darüber haben wir doch gesprochen, Hanne«, murmelt sie. »Nadja hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus.«
»Ach«, sagt Hanne und schlägt die Hand vor den Mund, wie um ihre Frage zurückzuschieben. »Ach. Entschuldige.«
»Keine Sorge«, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab.
»Ist es was Ernstes?«, fragt Hanne, noch immer mit der Hand vor dem Mund.
Ich zögere, dann sage ich:
»Hoffentlich nicht.«
Hanne sitzt jetzt einfach da und starrt ihre Knie an.
Berit gibt sich alle Mühe, die Situation zu entschärfen. Sie serviert Kaffee aus ihrer alten geblümten Porzellankanne, bietet selbstgebackene Plätzchen an und redet über Wind und Wetter, während Hanne langsam, aber sicher ihre Fassung zurückgewinnt.
»Ich drehe mal eine Runde mit Joppe«, sagt Berit dann und schiebt ihre Haarspange zurecht.
Dann humpelt sie, gefolgt von ihrem ebenfalls humpelnden Hund, aus der Küche.
Wir sprechen eine Weile mit Hanne über Ormberg. Über den alten Laden, der neu eröffnet werden soll. Über den Jungen Jake, der zur allgemeinen Überraschung für eine Erzählung einen Preis gewonnen hat und dessen Werk von einer großen Tageszeitung veröffentlicht wurde.
Und dann sprechen wir über den langen Winter, der ein altes Paar, das einige Kilometer entfernt wohnt, fast das Leben gekostet hat, sie waren offenbar mehrere Wochen lang eingeschneit und mussten ihre Möbel verfeuern, da sie nicht bis zum Holzschuppen kamen.
Hanne wird deutlich sicherer, als wir uns dem Grund unseres Kommens nähern. Sie sieht uns an, lässt ihren Blick zuerst auf mir und dann auf Malin ruhen.
Sie strahlt eine Ruhe aus, eine Art Würde, aber zugleich ahne ich ein Lächeln auf ihrem Gesicht und habe den deutlichen Eindruck, dass es sie überaus befriedigt, dass wir den weiten Weg nach Ormberg auf uns genommen haben, um ihren Rat einzuholen.
»Aber ihr seid ja wohl nicht hergekommen, um Klatsch über Ormberg zu hören?«, fragt sie.
»Nein«, gebe ich zu.
»Erzähl«, sagt sie und beugt sich vor.
Hanne hat sich unseren Bericht über die drei im südlichen Schärengürtel von Stockholm aus dem Wasser gezogenen Leichen und die Frau, die ihren Sohn vermisst melden wollte, dann aber von einer abweisenden Aspirantin vertrieben wurde, geduldig angehört.
Sie hat einen Block vor sich liegen und macht sich Notizen, summt vor sich hin und stellt kurze Fragen, während ihr Kugelschreiber über das Papier tanzt.
Nach etwa vierzig Minuten kehrt Berit mit ihrem Hund zurück. Sie bietet uns noch mehr Kaffee an, aber sie verschwindet rasch nach oben im Haus, als wir dankend ablehnen.
Draußen wird der Sommerabend dunkler.
Ein blaugrauer Dunst hüllt die Wiese und den Wald dahinter ein, wo gewaltige Kiefern Habacht stehen. Eine dicke Motte landet an der Fensterscheibe, vielleicht angelockt vom Licht der Deckenlampe.
»Und dieses dritte Opfer, das habt ihr also noch nicht identifizieren können?«
»Genau«, sage ich. »Aber er ist um einiges älter als die beiden anderen. Die Rechtsmedizinerin glaubt, zwischen dreißig und vierzig. Und er war auch schon länger tot als die anderen.«
»Hm«, sagt Hanne. »Er bricht das Muster ein wenig.«
»Richtig«, sage ich.
»Aber eure Theorie ist, dass dieser Olle ›Bulle‹ Berg auf irgendeine Weise mit der Sache zu tun hat oder vielleicht sogar unser Täter ist.«
»Seine DNA wurde an der Decke gefunden, in die Victor Carlgrens Leichnam gehüllt war. Außerdem ist er ein bekannter Gewaltverbrecher und seit kurzer Zeit abgetaucht.«
»Und dieser Junge, der verschwunden ist …«
»Samuel«, fügt Malin hinzu.
»Genau. Ihr glaubt also, dass der für Olle Berg und dessen Freundin arbeitet …«
Hanne sucht in ihren Notizen und fügt dann hinzu: »Rakel?«
»Ja. Die passen zu der Beschreibung. Olle Bergs Freunde haben erzählt, dass er mit einer Frau mit einem behinderten Sohn zusammen ist.«
»Hm«, sagt Hanne noch einmal, legt sich einen Schal um die Schultern und streicht sich über die sommersprossige Wange. »Und dieses Gedicht kommt also von dem verschwundenen Jungen, und er kann es von Berg und dessen Freundin haben?«
Malin nickt.
Hanne setzt ihre Lesebrille auf und streckt die Hand nach dem Blatt mit dem Gedicht und Samuels handgeschriebener Mitteilung an seine Mutter aus.
Sie liest alles sorgfältig durch, schaut nachdenklich zur Decke hoch und liest den Text ein weiteres Mal. Dann nimmt sie die Lesebrille ab und reibt sich die Schläfen mit den Fingerspitzen, lehnt sich auf dem Stuhl zurück und schließt die Augen.
»Das ist ja nicht gerade große Poesie«, fängt sie an. »Aber das hat etwas …«
Und dann:
»Rakel. Rakel. Jonas. Jona. Rakel und Jona.«
Malin wirft mir einen fragenden Blick zu, und ich deute ein Kopfschütteln an, damit sie Hanne nicht stört.
Hanne setzt ihre Brille auf. Ihre Augen funkeln, und sie hat wieder diese aufgeregte Miene, durch die sie fast wie ein übermütiges Kind aussieht.
»So«, sagt sie und legt eine kurze Pause ein, ehe sie erklärt: »Die Taube und das Lamm lebten in Harmonie, bis die Taube immer längere Ausflüge machte. Hört mal: Mit jedem Tag flogst du weiter fort. Wie der Sturm verdüstertest du die Sonne mit deinem Spiel.
Wie Ruß verpestetest du die Luft mit deinem Hochmut. Wie Pfeile schmerzte dein Verrat.«
Weder Malin noch ich sagen etwas.
Hanne schiebt sich die Brille auf die Nasenspitze und sieht uns über den Rand mit ernstem Blick an.
»Könnt ihr mir folgen?«
»Das schon, aber?«, frage ich unsicher.
Hanne hebt die Hand und fährt fort:
»Das Lamm liebte die Taube, aber die Taube wies die Zärtlichkeitsbekundungen der Taube zurück. Das steht hier: Dein Mund wiederholte sein Nein. Deine Gedanken wohnten überall, aber niemals hier bei mir.«
»Na gut«, sagt Malin, und ich kann sehen, wie ihr Blick zur Kuckucksuhr an der Wand wandert.
»Dann ist der Taube etwas passiert«, fährt Hanne fort. »Das Lamm war verzweifelt und begegnete einem Löwen. Der die Taube tötete. Das wird hier so beschrieben: Aber die Zähne waren so spitz, und die Krallen waren so lang, dass er deinen Körper zerriss, als er dich fangen wollte.«
Malin rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.
»Das Lamm trauerte«, sagt Hanne, runzelt die Stirn und legt den Kopf schräg. »Das Lamm trauerte, aber der Löwe brachte ihr eine neue Taube. Hört euch das an: Aus Tränen weinte ich mir ein Meer / Und legte mich zum Sterben hin / Auf die weichen Kissen der Trauer.
Doch dann war der Löwe wieder da / Und in seinem riesigen Schlund trug er / Eine unbefleckte Taube.«
»Entschuldige«, sagt jetzt Malin. »Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich begreife nicht, worauf du hinauswillst.«
»Warte«, sage ich und beuge mich so weit vor, dass die brennende Kerze auf dem Tisch fast meine Wange berührt. »Warum sagst du, dass der Löwe ihr eine neue Taube bringt? Woher weißt du, dass das Lamm eine Sie ist?«
Hanne lächelt strahlend. Streckt die Hand nach dem Block aus und schlägt eine leere Seite auf. Dann legt sie den Block so, dass wir sehen können, was sie schreibt.
»Rakel ist ein Name aus dem Alten Testament, das wisst ihr vielleicht?«
»Das ist nicht gerade mein Fachgebiet«, murmelt Malin und unterdrückt ein Gähnen.
»Rakel bedeutet im Hebräischen Lamm oder Mutterschaf«, sagt Hanne und schreibt auf den Block:
Lamm = Rakel.
Malin sieht mich mit offenem Mund an.
Hanne lächelt und fügt hinzu:
»Und ratet mal, was Jonas im Hebräischen bedeutet?«
Malin schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. In ihrem Gesicht ahne ich Faszination und Unruhe zugleich.
»Jonas ist eine schwedische Form des Namens Jona, und der bedeutet Taube. Auch das ist ein Name, der in der Bibel mehrmals auftaucht, wie ihr sicher wisst.«
Der Kugelschreiber kratzt über das dünne Papier, als Hanne eine weitere Zeile schreibt.
Taube = Jonas.
»Großer Gott«, flüstere ich. »Du meinst doch nicht …?«
»Wer immer das Gedicht geschrieben hat, hat Rakels Beziehung zu ihrem Sohn dargestellt, erzählt von seinem Unfall und seinem … Tod?«
Malins Stimme ist kaum zu hören.
»Aber die Taube wurde doch von dem Löwen getötet«, sage ich. »Wer ist der Löwe?«
Hannes Gesicht wird ernst. Das Lächeln verschwindet, und ihre Augen scheinen im flackernden Kerzenlicht dunkel zu werden. Sie greift zum Kugelschreiber und schreibt vier Buchstaben auf das Papier.
Olle =
»Und was bekommen wir, wenn wir ein l wegnehmen und das o und das andere l vertauschen?«, fragt sie rhetorisch.
Das Papier wird unter dem Kugelschreiber ein wenig zerknittert, als sie die letzte Zeile vollschreibt, ohne unsere Antwort abzuwarten:
Olle = Leo
»Und Leo ist das lateinische Wort für …«
»Löwe«, sage ich.
Hanne nickt und schreibt das letzte Wort.
Olle = Leo = Löwe.
Dann richtet sie sich auf und legt vorsichtig den Kugelschreiber neben den Block.
Malin springt auf, läuft in der Küche hin und her und schlägt sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche.
»Verdammt«, faucht sie. »Verdammte Scheiße. Warum geht uns das erst jetzt auf?«
Hanne und ich schweigen.
»Lies die letzten Zeilen noch mal vor«, sage ich zu Hanne.
Hanne streckt die Hand nach dem Gedicht aus und liest vor:
»Aus Tränen weinte ich mir ein Meer und legte mich zum Sterben hin / Auf die weichen Kissen der Trauer.
Doch dann war der Löwe wieder da / Und in seinem riesigen Schlund trug er / Eine unbefleckte Taube.«
»Und wie zum Teufel sollen wir das nun deuten?«, frage ich.