Ich war jetzt lange in der Grotte, so lange, dass das Licht nur noch eine schwache Erinnerung ist, ein Flüstern aus einer Vergangenheit, die längst verblasst ist und ihre Bedeutung verloren hat.
Und als das Licht an mir zerrt, mich aus dem Boden reißt, bin ich zuerst überrascht und auch ein bisschen ängstlich, denn ich fühle mich inzwischen wohl in der Grotte. Meine Flügel sind stärker geworden und meine Augen schärfer und besser an die Dunkelheit angepasst. Ich brauche niemanden, und niemand braucht mich.
Das ist in vieler Hinsicht perfekt.
Aber das Licht zerrt an mir. Zieht mich nach oben, durch den Boden und fast bis an die Oberfläche. Ich bin nicht im Körper, aber ich bin auch nicht mehr in der Grotte. Ich schwebe hilflos irgendwo dazwischen, als steckte ich zwischen zwei Dimensionen fest – es ist ein bisschen, als würde man zwischen zwei Eisenbahnwagen stehen und könnte durch die Fenster in beide hineinblicken, aber die Tür zu keinem öffnen.
Am Ende lande ich im Körper, obwohl ich das gar nicht will. Spüre plötzlich jede verdammte Zelle und jeden Kubikzentimeter Fleisch und Knochen und Blut.
Und was ich spüre, ist Schmerz.
Aber mitten im Chaos, mitten im Schmerz, ist da auch das Alltägliche; die Fliege, die unverdrossen gegen die Fensterscheibe fliegt, der schwache Geruch des Waschmittels in der Bettwäsche und der Duft der frischgepflückten Rose, die in der Vase auf dem Nachttisch steht.
Ich höre auch Geräusche – jemand bewegt sich im Zimmer –, aber ich kann die Augen nicht öffnen, denn meine Augenlider scheinen mindestens hundert Kilo zu wiegen.
Die Panik erwacht zum Leben, und ein Schrei will in meiner Brust Gestalt annehmen, aber das Geräusch bleibt irgendwo in meiner Kehle hängen, wie ein Stück Kartoffel, das sich quergelegt hat.
»Jonas?«
Das ist Rakels Stimme, aber sie klingt anders, als läge ich in einer Badewanne unter Wasser und hörte ihr zu.
Eine Hand streicht über meine Haare, weiche Lippen drücken sich auf meine Wange.
»Geliebter Jonas!«
Ich drehe mich um und verpasse ihr eine harte Ohrfeige.
Aber nur in Gedanken, denn mein Körper ist so unbeweglich wie ein Sonntagsbraten in der Kühltruhe der Markthalle.
»Mein armer Liebling«, flüstert sie. »Jetzt bist du im Walfischbauch.«
Sie ist verrückt, denke ich mit distanziertem Interesse und habe das Gefühl, einen Film zu sehen – einen reichlich ausgeflippten Film, aber eben doch nur ein Film.
»Ich werde mich um dich kümmern«, sagt sie jetzt.
Sie legt ihre warme Hand auf meine und spricht in einem etwas härteren Tonfall weiter.
»Aber zuerst muss ich dafür sorgen, dass du sowas nicht noch einmal machst, Jonas. Das war eine große Dummheit von dir. Du bist noch nicht stark genug, um aus dem Haus zu gehen. Es hätte alles Mögliche passieren können. Du hättest über einen Felsen stolpern und dich verletzen oder ins Meer stürzen können oder …«
Ein ausgedehntes Schluchzen ist zu hören, Rakels Hand verschwindet, und Schritte nähern sich dem Fußende des Bettes.
»Ich könnte es nicht ertragen, dich noch einmal zu verlieren, hörst du?«
Metall auf Metall ist zu hören. Als ob sie mit Münzen in einer Blechschüssel scheppert. Dann folgen dumpfere Geräusche. Auch sie kommen von Metall, aber von größeren und schwereren Gegenständen.
Vielleicht von irgendwelchem Werkzeug.
Die Decke verschwindet von meinen Beinen. Kühle Luft umstreicht meine Waden.
»Ich weiß, dass du mich hören kannst«, sagt sie. »Und ich weiß, dass du dich nicht bewegen kannst. Ich bin kein Monster, aber ich darf dich nicht weglaufen lassen. Das hier ist zu deinem eigenen Besten.«
Eine Hand legt sich auf meinen Fuß, und ich spüre etwas Spitzes an meiner Ferse. Dann höre ich einen Knall, und meine Ferse explodiert in einem unvorstellbaren Schmerz. Das ganze Bein brennt, obwohl ich abgestumpft bin und eigentlich gar nicht ganz anwesend in meinem Körper, und ich brülle vor Schmerz und strampele mit den Beinen, so dass Rakel gegen die Wand geschleudert wird.
Aber nur in Gedanken.
Denn in der wirklichen Wirklichkeit liege ich still in Jonas’ Bett, während sie schlägt und schlägt und schlägt und der Schmerz in mir explodiert, wieder und wieder.
Als die Dunkelheit mich nach unten zieht, bin ich dankbar.
Ich will nicht mehr im Licht sein, ich will nicht im Körper sein.
Ehe ich durch das Bett sinke, kann ich noch analysieren, was geschehen ist, und eine Hypothese bilden. Aber die wirkt so krank, so verdammt gestört, dass ich es selbst kaum glauben kann.
Hat sie das wirklich getan?
Hat sie mir einen Nagel in die Ferse geschlagen?