Seit zwei Tagen streife ich nun schon auf Marholmen herum. Ich bin über die steinigen Strände gelaufen, bin auf die Felsen geklettert. Ich habe unter üppigen Farnwedeln und zwischen hohen Kiefern gesucht. Habe systematisch Grundstücke durchsucht und bin planlos durch den Wald gewandert.

Aber nirgendwo war er, mein Samuel.

Der dicke Polizist, Manfred, war gestern Abend wieder hier und wollte mich überreden, nach Hause zu fahren. Er sagte, es gäbe nichts, was ich noch tun könnte. Dass sie Marholmen durchgekämmt hätten und dass Samuel nicht dort sei.

Dass er verschwunden sei.

Und als er das sagte, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Meine Tränen strömten, und ich bin neben dem Auto zu Boden gesunken. Spürte das starre Gras an meiner Wange und die Kälte, die aus dem Boden aufstieg, wie eine Vorbotin der Trauer, die noch kommen würde.

Ich konnte es ihm nicht erklären, habe nicht einmal versucht zu erklären, warum ich hier auf Marholmen bleiben will.

Was hätte ich sagen sollen?

Dass Samuel mein Kind ist? Dass ich ihn in meinem Körper getragen habe, aber dass ich ihn trotzdem öfter im Stich gelassen habe, als ich zählen kann?

Nein.

Also bin ich nach Hause gefahren. Habe geduscht. Versucht, etwas zu essen.

Dann habe ich den Fehler gemacht, den Fernseher einzuschalten. Dort war die Rede von den Morden und von Samuel. Sie haben Bianca Diaz interviewt, die Freundin eines der Opfer. Etwas an der zurückhaltenden Verzweiflung der schwangeren jungen Frau hat mich aus meinem eigenen Kummer gerissen und mich tätig werden lassen. Ich weiß nur zu gut, wie schwer es ist, allein ein Kind großzuziehen.

Ich habe sie im Internet gefunden und bin zu ihrer Wohnung in Jordbro gefahren. Habe die Sporttasche mit dem Geld an ihre Tür gehängt, geklingelt und bin davongestürzt.

Ich nehme an, ich habe versucht, Buße zu tun, als könnte mir das Samuel zurückgeben.

Dann bin ich wieder nach Marholmen gefahren, denn was soll ich zu Hause ohne mein Kind?

Ich blinzele und öffne die Schokokekse, die ich in der Tasche habe. Breche ein Stück ab und stecke es mir in den Mund. Schaue durch die halboffene Tür zu der Amsel hin, die im Gras neben dem Auto in ihrem Käfig sitzt. Der Wind fängt einen Fetzen des Zeitungspapiers ein, das den Käfigboden bedeckt. Trägt es zum Gitter, wo es hängen bleibt.

Die Amsel ist kein Junges mehr, sondern ein fast ausgewachsener Vogel, der nicht in einem Käfig eingesperrt sein sollte.

Ich weiß, dass Samuel der sein sollte, der den Vogel freilässt. Aber jetzt, wo er das nicht kann, werde ich ihm diesen Gefallen tun.

Ich schaue zu dem Haus hoch, das Rakel von der alten Leuchtturmwärterstochter gemietet hatte, die ihr ganzes Leben hier verbracht hat. Das Haus steht stumm und still hinter den blauweißen Absperrbändern.

»Wo bist du nur, Samuel?«, flüstere ich, werfe die Wasserflasche auf den Rücksitz und schließe die Autotür. Dann nehme ich den Vogelkäfig in die Hand, gehe über den Kiesweg und denke an diesen seltsamen Traum, den ich heute Nacht hatte.

Ich habe von dem weisen König Salomo im Buch der Könige geträumt, der den Streit zwischen zwei Frauen schlichten sollte, die beide dasselbe Kind für sich beansprucht haben.

Salomo bittet um ein Schwert, und als es gebracht wird, sagt er: »Hackt das Kind in zwei Hälften und gebt jeder Frau eine.«

Im Traum waren Rakel und ich die Frauen, und Samuel war das Kind.

Wieder denke ich, dass es nicht wahr sein darf. Dass er nicht tot sein darf.

Zwei Tage. Niemand kann im Wasser so lange überleben, hat Manfred gesagt.

Aber wenn sie ihn nun nicht ins Wasser geworfen hat?

Dann hätten wir ihn gefunden.

Manfreds Worte hallen in meinen Ohren wider.

Die Dunkelheit senkt sich über die Insel, aber die richtige Finsternis liegt weiterhin in ihrem Versteck, wartet geduldig darauf, dass sich der Sommer zurückzieht und dem Herbst Platz macht. Der Himmel hängt schwer über uns, geschunden und in blauen und lila Tönen. Allerlei Mücken schwirren um mich herum, aber ich verscheuche sie. Kratze zerstreut an den Stichen, die ich schon habe, und starre zwischen die kupferroten, schuppigen Stämme der Kiefern. Überall am Straßenrand schäumt Wiesenkerbel, und hier und dort leuchten die gelben Blüten des Johanniskrauts.

Es ist so schön, dass mir die Brust wehtut.

Der Duft von Sumpfporst und Labkraut – das Liebfrauenbettstroh – hängt in der Luft.

Ich denke an Vater, der alles über Flora und Fauna wusste, er hätte diese Blume nie so genannt, denn Unsere Liebe Frau hat auf einem Bett aus echtem Stroh gelegen, nicht aus Labkraut.

Das hatten sich dumme Bauern nur ausgedacht.

Hier ist es gut, denke ich und stelle den Käfig auf den Boden. Öffne die kleine Klappe und warte darauf, dass der schwarze Vogel hinausfliegt.

Aber der sitzt nur still da und sieht mich aus seinen gelbgeränderten Knopfaugen an.

Am Ende schiebe ich die Hand in den Käfig und scheuche die Amsel heraus.

»So, ja. Braver Vogel. Und jetzt flieg!«

Die Amsel hüpft ein paar Schritte, dann setzt sie sich in das hohe Gras am Straßenrand. Ich mache einen Schritt auf sie zu, um sie zum Auffliegen und zum Genießen dieser Freiheit zu zwingen. Sie soll den Sommer, den Wald, die kühle Abendluft genießen.

Das Leben, das so kurz und trügerisch ist.

Der schwarze Vogel fliegt auf, kommt an meinem Gesicht vorbei und landet auf einem nur wenige Meter von mir entfernten Zweig. Dann dreht er sich zu mir um. Legt das Köpfchen schräg und sieht mich wieder an.

»Jetzt sollte Samuel dich mal sehen«, sage ich laut.

Und in diesem Moment.

In diesem Moment begreife ich, dass er wirklich nicht mehr da ist. Dass Samuel nie mehr zurückkehren wird und dass der dicke Polizist recht hatte.

Mein Körper verkrampft sich, zwingt mich in die Knie und drückt meine Stirn auf den Kiesweg. Mein Körper nimmt mir alle Tränen und zwingt mich zur Unterwerfung. Und ich lasse es geschehen. Ich schreie meinen Schmerz aus mir heraus, während ich am Wegesrand knie wie eine Gebärende.

Nach einer Weile versiegen die Tränen, und mein Atem beruhigt sich. Ich registriere wieder die Geräusche des Waldes, höre die Vögel singen, den Wind in den Baumkronen flüstern und rauschen. Höre das Rascheln und Ächzen eines Astes irgendwo hoch über mir. Das Klopfen eines Spechts, der sich in einen Baumstamm vorarbeitet.

Als ich mich gerade erheben will, um mir den Kies von meinem schmutzigen und nach Schweiß stinkenden Kleid zu wischen, sehe ich den schwarzen Vogel wieder.

Er sitzt am Straßenrand.

Aber ich sehe noch etwas anderes – eingeklemmt zwischen zwei Steinen neben der Amsel.

Ich mache zwei Schritte, gehe in die Hocke, strecke die Hand aus und greife die blaue Glasperle mit Daumen und Zeigefinger. Lasse sie auf meiner Handfläche ruhen, blank und noch warm von der Sonne. Als ich die Hand darum schließe, rollt sie über meine Handfläche und kommt neben dem Daumen zur Ruhe.

Ich schaue mich um. Suche mit Blicken in den langen Schatten, suche zwischen trockenem Laub und Steinen.

Aber ich sehe nur den hellbraunen Kiesweg, der zwischen den Kiefern verschwindet.

Dann ahne ich etwas sehr kleines, aber sehr rotes, mitten auf dem Weg, nur einige Meter vor mir. Ich schnappe nach Luft, stürze hin, sinke in die Hocke und hebe eine weitere Glasperle auf. Drehe sie um und sehe einen Buchstaben.

M.

Wieder kommen die Tränen, aber diesmal sind es Freudentränen.

Die Energie kehrt zurück, als ich begreife, was ich zu tun habe, und ich beginne, am Wegesrand zu suchen.

Ich finde weitere Perlen. Eine blaue, eine gelbe, eine braune. Sie scheinen in regelmäßigen Abständen am Wegesrand verteilt zu sein. Fast als wären sie mit Absicht ausgestreut worden.

Ich mache eine hohle Hand und halte sie hoch. Verschiebe die Perlen mit dem Zeigefinger, um das Wort zu bilden.

MAMA .

»Samuel«, flüstere ich. »Ich komme!«

Ich suche weiter nach den kleinen Glasperlen, finde noch drei, aber dann ist Schluss.

Erst als ich schon fast aufgegeben habe, sehe ich den kleinen Weg, der nach links abbiegt.

Es ist dunkel unter den hohen Bäumen, deshalb ziehe ich mein Handy hervor, schalte die Taschenlampe ein und leuchte zwischen die Baumwurzeln. Eine riesige Fichte versperrt mir teilweise die Sicht, aber hinter ihrem nadellosen Unterkleid ahne ich eine Art Ruine, die von Gestrüpp und Büschen fast überwuchert ist.

Ich ziehe den Kopf ein, drücke die trockenen Zweige zur Seite und gehe auf das verfallene Gebäude zu. Auf halber Strecke bleibe ich stehen, bücke mich und hebe eine weiße Perle auf, die in ihrem Bett aus trockenen Nadeln und Moos leuchtet. Dann richte ich mich auf und schaue mich um.

»Samuel?«, flüstere ich.

Aber ich höre nur das schwache Rauschen der Baumkronen und die um meinen Kopf schwirrenden Mücken.

Ich lasse den Lichtkegel umherwandern.

Rechts von der Ruine gibt es einen alten Brunnen, und daneben …

Moment.

Ein frischer Zweig mit welkenden Blättern ragt heraus, eingeklemmt zwischen Brunnenrand und Deckel, als wäre der Deckel erst vor kurzem geöffnet worden und der Zweig dann steckengeblieben.

Ich gehe zum Brunnen und beuge mich vor. Neben dem rauen Stein liegt etwas Oranges. Der kleine Gegenstand glitzert im Licht der Taschenlampe.

Es ist ein Marienkäfer. Oder, genauer gesagt, ein Emailohrring, der einen Marienkäfer darstellt.

Ich stecke Perlen und Ohrring in die Tasche und greife vorsichtig nach dem rostigen Handgriff des Brunnendeckels. Er ist schwer, und ich muss mein ganzes Körpergewicht einsetzen, um ihn zu bewegen.

Der Deckel gibt ein scharrendes Geräusch von sich und bewegt sich ein paar Zentimeter nach rechts.

Ich lasse los und ringe um Atem. Keuche und stemme mich gegen den Brunnen.

Es ist schwer, schrecklich schwer.

Eine Sekunde darauf höre ich es.

Ein Klopfen aus dem Brunnen lässt mich zusammenfahren. Ich schreie auf, aber dann erwacht die Hoffnung in meiner Brust zum Leben.

Ich klopfe so hart auf den Brunnendeckel, dass die Haut meiner Fingerknöchel zu bluten beginnt.

Klopf-klopf-klopf.

Es dauert einige Sekunden, bis die Antwort kommt, wie ein Echo, das lange durch das Gebirge unterwegs war.

Klopf-klopf-klopf.

Ich packe den rostigen Handgriff ein weiteres Mal. Ziehe, bis mir schwarz vor Augen wird. Ich ziehe und ziehe, und mein einziger Gedanke ist, dass ich den Deckel hochheben muss. Dass ich dieses Höllenloch öffnen muss, ehe es zu spät ist.

Jedes Mal wenn ich mich hin und her bewege und mich mit den Beinen abstoße, bewegt sich der Deckel einige Zentimeter. Am Ende klafft mir aus der Unterwelt eine Mondsichel aus Finsternis entgegen.

Ich nehme mein Handy und richte die Taschenlampe auf das schwarze Loch.

Und da ist er.

Mein Kind.

Er schaut zu mir hoch und blinzelt einige Male.

Unter ihm liegt ein im Wasser versunkener Leichnam. Die Wasseroberfläche ist teilweise mit winzigen grünen Blättern bedeckt, aber an einer Stelle kann ich eine Hand herausragen sehen.

»Ich habe gewusst, dass du kommen würdest«, sagt Samuel.