Am Nachmittag spazierte Kerschbaumer auf dem Talrundweg, der einen so schönen Ausblick über den Ort bot. Und den konnte der Ermittler jetzt brauchen. Doch er sah nichts von Belang. Schneebedeckte Häuser. Die weißen, gesperrten Plätze des Tennisclubs. Hundebesitzer kamen ihm entgegen. Man grüßte freundlich. Alles recht idyllisch. Nicht nach einem Mord aussehend. Ein alter Mann holte Holz rein, kam an der Türschwelle ins Stolpern und ließ die Scheite zu Boden plumpsen. Die darauf folgenden Flüche hätten selbst hartgesottenen Sprachforschern die Röte in die Wangen getrieben.
Dann gelangte Kerschbaumer auf den Parkplatz der Kaiserburg, wo die ersten Skifahrer von ihrer Pistengaudi zurückkehrten, sich schwerfällig ihrer Schuhe entledigten, sich aus ihren dicken, wie gepanzert wirkenden Mänteln schälten und erschöpft in ihre Kombis plumpsten.
Und dann stand Kerschbaumer am Zielhang der Damen-Weltcup-Abfahrt, die hier alle zwei Jahre stattfand. Unten drängelten sich die bunten Gestalten, um noch ein letztes oder vorletztes Mal mit der Sechser-Gondel nach oben zu fahren. In der Après-Ski-Bar wurden schon Lieder gesungen, die den Intelligenzquotienten jedes Zuhörers um zehn, jedes Mitsingers um zwanzig Punkte senkten. Bier und Schnaps befeuerten die Feierseligen, die in Skistiefeln an den groben Holztischen saßen und wohl bald in denselben auf denselben tanzen würden.
Meine Güte. Was für eine Wand. Wenn man ganz nah herantrat, dann wirkte sie, als streckte sie sich in jede Richtung in unendlichem Weiß aus. Ein paar Skifahrer, die oben stürzten, konnten sich erst unten wieder aufrichten – es war so steil, dass es kein Halten mehr gab.
Kerschbaumer konnte passabel Ski fahren, jedenfalls für einen Wiener, aber so recht war die Liebe nie entflammt. Sein Herz schlug seit jeher für den Fußball. Bloß, dass er mit seinen Lieblingsvereinen, Rapid Wien und dem Hamburger Sportverein (wegen des mütterlichen Einschlags), schon seit Jahren wenig zu lachen hatte. Aber Leidensfähigkeit gehörte nun einmal zum Fan-Dasein dazu.
»Wie man da nur im Schuss runterfahren kann«, sagte er zu dem Mann, der neben ihm stand, einem braun gebrannten, kerngesund scheinenden, jugendhaften Mittsechziger.
»Oh, das ist ganz einfach. So tief wie möglich in die Hocke, Gewicht nach vorn, dann geht’s wie auf Schienen.«
»Das ist alles?« Kerschbaumer kam der Mann bekannt vor, aber er konnte ihn nicht recht einordnen.
»Dazu die Augen zukneifen und ein Mariahilf gen Himmel«, lächelte der Mann.
Und dann kam schon ein Übertragungswagen von ORF Kärnten herangespritzt und hielt mit quietschenden Reifen. Aufgeregte Redakteure sprangen heraus.
Kerschbaumer fuhr sich durchs Haar. Er hasste diese Spontaninterviews, aber die gehörten nun einmal zum Job. In Wien hatte er sogar zwei Schulungen machen müssen, in denen eine Schauspielerin vom Burgtheater erklärte, welche Gesten man vor der Kamera zu machen habe und welche nicht. (»Nie die Arme vor der Brust verschränken!«)
Also setzte er sich in Pose und wartete auf das Schlimmste. Was könnte er den Presseleuten schon groß sagen? Er würde auf die üblichen Phrasen zurückgreifen müssen. Dass man zwar noch keine heiße Spur habe, aber vielversprechende Ansätze verfolge, dass alle verfügbaren Polizeikräfte zusammengezogen seien und man mit Hochdruck an der Aufklärung arbeite. Oder so ähnlich.
Und da kamen sie auch schon auf ihn zu. Er drückte die Schultern zusammen und holte tief Luft.
Doch zu seiner Überraschung stürzten sie an ihm vorbei.
»Franz, Franz«, riefen sie. »Franz, hier, lass uns – ach nein, doch lieber hier! Aber unbedingt vor der Piste. Komm, solange wir noch etwas Tageslicht haben!«
Und sie umlagerten den Mann, mit dem sich Kerschbaumer gerade unterhalten hatte. Einer tupfte ihm schon im Gesicht herum, eine andere schnallte ihm ein Mikro ans Revers, eine Dritte, offenbar die Reporterin, machte sich selbst noch schnell hübsch.
Dann war ihm alles klar. Der Franz, das war der Franz Klammer. Der Klammer Franz. Der Nationalheld. Das Werbegesicht des Bundeslandes Kärnten und diverser Banken, Telefongesellschaften und Fruchtsaftkonzentrate. Jener Franz Klammer, nach dem genau diese Damen-Weltcup-Abfahrt überhaupt erst benannt war. Kerschbaumer schämte sich sehr. Aber der Franz, der winkte nur vergnügt.