41.Ein Geier der unteren Hackordnung

Die Sportalm Gruber war zweigeteilt. Es gab die klassische Stube mit allerlei alpinen Anklängen, alten Skiern an der Wand und vergilbten Pokalen, und es gab den modernen Anbau mit dem Pizzaofen, den großen Fenstern und den Familientischen. Kerschbaumer dachte sich: Wenn schon Alpen, denn schon – und bat um einen Platz in der alten Stube.

Er genoss die Stille des solitären Abends. Er liebte die unaufdringliche Einsamkeit, die ihn im Restaurant umhüllte wie ein vertrauter, gut sitzender Wollpullover. Der Ermittler hatte sich ein Buch mitgebracht, in dem er sich zu versenken gedachte, die Abhandlung eines US-amerikanischen Wissenschaftlers darüber, dass die Roboter in spätestens zwanzig Jahren uns alle beherrschen würden. Kerschbaumer mochte es, sich wohlig zu gruseln, was eine wahre Erholung gegenüber der harten Wirklichkeit echter Verbrechen war.

Doch wie man seinen eigenen Namen in einem vielstimmigen Rauschen heraushört, so hörte Kerschbaumer nach nur wenigen Minuten eine wohlbekannte und sehr geschätzte Stimme aus dem Nebenraum. Die Stimme klang aufgeregt, besorgt, nicht gerade glücklich.

Ob es Trance oder Pflichterfüllung war: Kerschbaumer erhob sich und beschloss, nach dem Rechten zu sehen.

Und tatsächlich saß dort Hilde Hofgärtner, und der Mann, der ihr gegenübersaß, musste ihr Ex-Freund sein. Hilde wirkte erst überrascht, dann etwas verlegen, aber auch erleichtert. Sie stellte die beiden Männer einander vor.

»Ah, der Kollege aus Wien«, freute sich Fridolin Viehböck.

»Ja, ich wollte nur fragen, ob hier alles in Ordnung ist.«

Fridolin sah in etwa so aus, wie Kerschbaumer ihn sich vorgestellt hatte: ein braun gebrannter Lebemann, der sich darum bemühte, jünger auszusehen. Seine Nase war klein und bogenförmig. Er bezeichnete sie gern als Habsburger Nase , doch Kerschbaumer fühlte sich eher an einen Geier der unteren Hackordnung erinnert. Er trug sein volles weißes Haar im Undercut-Stil eines zwanzigjährigen Fußballprofis. Die Augenbrauen waren gestutzt, die Hände manikürt. Seine Augen wirkten merkwürdig, und es dauerte ein paar Minuten, bis Kerschbaumer erkannte, was so verstörend war – die Augäpfel schienen nicht rund, sondern zweidimensional zu sein, richtig platt, wie aufgemalt.

»Natürlich, natürlich! Setzen Sie sich doch zu uns«, johlte Fridolin leutselig.

»Nein, ich denke, das werde ich nicht tun.«

»Doch, doch! Sie müssen doch mit anhören, was mir Ihre bezaubernde Kollegin vorwirft, ganz die korrekte Beamtin, die sie nun einmal ist. Niemand kann raus aus seiner Haut, nicht wahr?«

Da war sie, diese plötzliche Aggressivität, mit der Kerschbaumer nach Hildes Andeutungen gerechnet hatte. Ein funktionierender Alkoholiker, der den ganzen Tag einen gewissen Pegel halten konnte, ohne dabei wirklich auffallend zu sein. Es gab sie bis in die höchsten Gesellschaftsschichten, und mit geübtem Auge waren sie gut zu erkennen, etwa an dem leicht glasigen Blick, der immer etwas zu lauten Tonlage und an den Stimmungsschwankungen – an denen vor allem.

»Wie gefällt es denn einem Weltstädter wie dir bei uns in der Provinz?« Der Ex-Freund wechselte das Thema, und das plötzliche Duzen war nicht einmal das größte Problem, er schaffte es, dass jedes einzelne Wort verächtlich klang – dabei war das doch eine ureigene Spezialität der Wiener.

»Es gefällt mir ganz außerordentlich gut hier«, lächelte Kerschbaumer freundlich und dachte darüber nach, wie er Fridolin durch das Fenster nach draußen und den Hang hinab schmeißen könnte, ohne dass es jemandem groß auffallen oder seinem beruflichen Fortkommen im Polizeidienst schaden würde.

»Na, jedenfalls, wo war ich …«

»Fridolin, ich glaube, das dürfte dem Chefinspektor herzlich egal sein«, bemühte sich Hilde um Schadensbegrenzung.

»Na, fragen wir doch ihn!«

Wie unangenehm laut seine Stimme war! Doch drum herum saßen nur holländische Familien, die mit dem Pizzakäse beschäftigt waren, der sich in langen Streifen vom Belag bis zu den Mündern zog, was für viel Gejuchze sorgte.

Der Ex-Freund blickte den Inspektor abschätzig an. »Also gut. Geschäftsidee. Sushi und Burger. Schickes Fast Food. Unten in Radenthein. Beides ist im Trend, beides fehlt in Bad Kleinkirchheim.«

»Wenn es in Bad Kleinkirchheim fehlt, warum dann unten in Radenthein?«

Der Jungunternehmer verdrehte die Augen. »Die Ladenmieten sind günstiger, Konzessionen leichter zu bekommen. Außerdem will ich, dass das Restaurant nichts ist, was man im Vorbeigehen mitnimmt, weil man Hunger hat, sondern ein Erlebnis, das zelebriert wird. Ein Event . Kommt, heute essen wir Sushi und Burger. Heute gehen wir zu Uncle Sam’s Sushi & Burger Stop!«

Einen Namen hatte er also auch schon. Kerschbaumer hielt die Idee für ausgesprochen dämlich. Er hatte gute Lust, sich in den nächsten zehn Jahren zu einem bedeutenden Restaurantkritiker hochzuarbeiten, um Fridolins Restaurant in Grund und Boden zu schreiben.

»Und was das mit Inspektorin Hofgärtner zu tun hat, wirst du mir sicher gleich verraten?« Der Wiener duzte erbarmungslos zurück.

»Schaut einmal, ihr beide mit eurem regelmäßigen Gehalt, ihr macht euch einfach keine Vorstellung, wie das bei uns Unternehmern tagaus, tagein so läuft. Bei mir gibt es gerade eine gewisse … Knappheit an liquiden Mitteln. Und es wäre eine dringend notwendige Anschubfinanzierung von zehn-, fünfzehntausend Euro zu leisten in den nächsten Tagen …«

Kerschbaumer verstand nur zu gut. Der Jungunternehmer brauchte dringend Geld und wollte Hilde um ihre Ersparnisse bringen. Er sah den Autoschlüssel, der über dem Handy auf dem Tisch lag. Der Schriftzug darauf war unverkennbar.

»911er?«, fragte Kerschbaumer.

»Targa 4S!«, gab Fridolin glücklich zurück.

»So ein schönes Auto ist doch schnell verkauft?«

Fridolin schüttelte den Kopf, als müsste er einem Sechsjährigen erklären, warum Meerwasser salzig ist, Flusswasser aber süß. »Das Geheimnis heißt asset allocation , oder? Der Targa 4S wächst jedes Jahr im Wert. Ihn zu verkaufen … Das wäre ja, als würde man Aktien abstoßen, von denen man genau weiß, dass sie steigen!«

Diese ganze Idee ist mehr als wacklig, dachte Kerschbaumer. »Diese ganze Idee ist mehr als wacklig«, sagte Kerschbaumer.

Der Ex-Freund fühlte sich jetzt so gekränkt, dass er aufsprang, und Hilde schlug beschämt die Hände vors Gesicht.

»Ich zahle in einem Monat an Steuern, was du in einem Jahr verdienst«, rief er erregt und fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Kerschbaumers Gesicht herum.

Der Ermittler blieb entspannt, blieb, wie er es gelernt und so oft in Konfliktsituationen angewandt hatte, frontal vor dem Aggressor stehen. Ein Schritt zurück wäre die typische Verteidigungshaltung gewesen, die, wie man längst wusste, Aggressoren nur bestärkt. Doch wer offen und freundlich stehen blieb, sorgte schnell für eine Deeskalation. Jedenfalls bei achtundneunzig Prozent aller Aggressoren. Kerschbaumer musste hoffen, dass Fridolin Viehböck nicht zu den zwei Prozent Vollpsychopathen gehörte, die im Zweifel ohne Vorwarnung hart zuschlugen.

»Setz dich«, zischte Hilde mit vor Ärger verzerrter Miene ihren Ex-Freund an.

»Du überschätzt vielleicht unser Gehalt«, lächelte der Ermittler.

Fridolin dachte nach, ob das eine Beleidigung war, und schloss richtig, dass dem nicht so war. Er lächelte und ließ etwas Luft ab. Schließlich setzte er sich. Hildes Gesicht sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

»Du musst entschuldigen, Freund aus Wien. Die Leidenschaft für unsere Projekte, das ist es doch, was uns Unternehmer antreibt, nicht wahr? Das ist der Geist, auf dem unsere Gesellschaft beruht. Wir denken gewissermaßen für euch alle mit, riskieren Kopf und Kragen dafür, dass es den anderen gut geht.«

»Du redest wirr«, sagte Hilde, inzwischen mit reichlich Resignation in der Stimme.

»Ich denke, ich lasse euch jetzt allein. Wir sehen uns morgen früh«, nickte Kerschbaumer Hilde zu.

Hilde nickte und lächelte kraftlos. Und Fridolin war schon wieder ganz mit sich selbst beschäftigt. Diesen Kerl hatte diese feine Kollegin wirklich nicht verdient.

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Da stand er, der Porsche Targa 4S. Die Farbe war unter den nächtlichen Laternen nur schwer zu erkennen, das Weiß verwandelte sich bei genauem Hinsehen in einen Creme-Ton, der an Kaffeesahne erinnerte. Kerschbaumer sah den Auspuff und überlegte, ob eine Banane, die man ins Rohr schob, wirklich den Motor lahmlegen würde. Wäre eine Kartoffel nicht besser? Oder was wäre mit Bauschaum aus der Druckpistole, der den Auspuff schön ausschäumen würde?

Dann besann sich Kerschbaumer und versuchte, sich auf andere Gedanken zu bringen, denn was konnte das schöne Auto für seinen kretinösen Besitzer?

Also setzte er sich in seinen eigenen Kombi, der einem Frührentner mit Halbglatze ähnelte, und schlitterte auf müden Winterreifen ins Tal, seiner Minibar, der 0,375-Liter-Flasche Wein und den Erdnüssen entgegen.