Zehn Minuten auf dem Laufband für die Katharsis. Geschwindigkeit sieben km/h, Steigung zwei Prozent. Etwas schneller atmen, um gleichzeitig den Kopf freizubekommen. An die Atmung denken, um an nichts anderes mehr zu denken. Kerschbaumer suchte die Meditation in der Bewegung, von der ihm seine laufenden und sportelnden Freunde immer wieder berichtet hatten, jenen Endorphinen, die auf alle Fälle irgendwann strömten, sobald man einfach nur dabei bliebe. Doch Kerschbaumer spürte nichts. Vorerst war es weiterhin nur eins: eine Qual.
Immerhin: An den Hanteln machte er sich schon besser. Er absolvierte Bankdrücken und Military Presses mit der Freihantel, Schrägbankdrücken mit Kurzhanteln, Lat-Züge und Rudern an den Seilzügen und dann noch ein paar Sätze in der Beinpresse. Letzteres sah Werner gar nicht gern und wies Kerschbaumer immer wieder auf klassische Kniebeugen hin. Die Gewichte jedenfalls wurden schwerer, auch wenn die Muskeln noch nicht so recht wachsen wollten.
»Kommt noch«, sagte Werner. »Immer weitermachen. Immer weiter. Und weiter.«
Werner schaute nicht mehr ganz so verstört wie bei Kerschbaumers letztem Besuch und war in seine Rolle als sympathischer Schleifer zurückgefallen; er schien davon überzeugt, noch einmal davongekommen zu sein, und tatsächlich dachte auch Kerschbaumer an alles Mögliche, aber nicht an irgendwelche illegalen Schlankheitspillen. Beziehungsweise, als er einmal ganz kurz doch an die Pillen dachte, kam ihm der unkeusche Gedanke, dass die ihm ja vielleicht auch nützlich sein könnten.
Dann betraten drei Männer den Raum. Junge Männer. Kerschbaumer atmete verblüfft ein: Es handelte sich um Swetlanas Bruder Mirko und seine beiden Begleiter Tschip und Tschop. Alle drei trugen Adidas-Trainingsanzüge, von denen schwer zu sagen war, ob sie nun Vintage oder Retro waren, also tatsächlich aus den Siebzigern stammten oder erst kürzlich für viel Geld nachgefertigt. Sie nickten dem Ermittler ohne Veränderung ihrer Gesichtszüge zu und machten sich über die Hanteln her, ohne über solch Albernheiten wie vernünftiges Aufwärmen nachzudenken. Sie behielten Kerschbaumer ziemlich unverhohlen im Auge. Der fühlte sich genötigt, noch ein paar mehr Scheiben aufzulegen, als gut für ihn war. Aber ein paar Wiederholungen gelangen ihm immerhin.
Bis er von einem Gleichaltrigen neben sich abgelenkt wurde, der alles hatte, was Kerschbaumer wollte: dicke Muskeln, wenig Bauch, Körperfett unter fünf Prozent. Aber an dem Gesicht war irgendetwas merkwürdig. Es sah aus wie die geliftete Visage eines Siebzigjährigen. Er beschloss, nach dem Training Werner zu fragen.
Die drei Slowenen pumpten weiter fleißig vor sich hin. Dabei hatten sie etwas Komisches, beinahe Niedliches an sich, weil alles, was sie taten, wohl bedrohlich aussehen sollte, dabei war doch nichts so albern und so leicht durchschaubar wie falsche Selbstsicherheit.
Kerschbaumer ließ es darauf ankommen: Er tat so, als sei sein Training beendet, und ging in die Umkleidekabine, die sich in ihrer trostlosen Schäbigkeit von keiner Umkleidekabine aller anderen Fitnessstudios dieser Welt unterschied: gummierter Fußbodenbelag, wacklige Holzbänke, schwer angestoßene Aluminiumspinde. Meistens fehlten die Schlüssel.
Und tatsächlich: Mirko, Tschip und Tschop ließen die Hanteln fallen und folgten ihm. Kerschbaumer verbarg sich jedoch hinter der nach innen aufgehenden Tür, und sobald die drei in der Umkleidekabine standen, marschierte er sogleich wieder hinaus und ließ sie dumm aus der Wäsche schauen. Kerschbaumer nahm vergnügt sein Training wieder auf, die düpierten Schatten erklärten den Tag dagegen für beendet und verließen nach einer Weile das Fitnessstudio. Warteten sie vielleicht draußen auf ihn?
Nach dem Training hatte Kerschbaumer zwei Fragen. Die erste lautete: »Hast du die drei von vorhin hier schon mal gesehen?«
Werner schüttelte den Kopf. »Erstes Mal.«
Die zweite Frage leitete Kerschbaumer mit einem Nicken des Kinns in die Richtung des schwer in Form scheinenden Vierzigjährigen ein, der sich gerade an der Beinpresse mächtig einen abkrampfte. »Ist der geliftet? Hat der sich Botox gespritzt?«
Werner grinste. »Gym Face.«
»Was bitte?«
»Zu viel Training kann nach hinten losgehen: Wer in dem Alter wie der da viel Sport betreibt, läuft Gefahr, auch dort Fett zu verlieren, wo man es vielleicht am wenigsten möchte: im Gesicht.«
»Verstehe. Der Körper sieht jung und straff aus, weil das Fett verschwindet …«
»… aber auch das Gesichtsfett schmilzt dahin. Und das macht hohle Wangen und scharfe Falten. Und es ist nicht nur der Fettverlust: Auch das Laufen schadet der straffen Haut. Die ständigen Erschütterungen, verstehst du?«
»Ach was? Das ist ja nicht schön. Und mein Spazierengehen?«
»Mach dir da mal keine Sorgen, Herr Chefinspektor.«
Der Blick des Angesprochenen fiel auf ein Exemplar der Österreich Heute Aktuell , das am Tresen auslag.
»Der macht ganz schön Wind, oder?«, sagte Werner, der dem Blick des Ermittlers gefolgt war.
»Kann man wohl sagen.«
»Na ja, kein Wunder. Die waren ja zusammen.«
»Wer war mit wem zusammen?«
»Die Swetlana mit dem Reporter.«
Bloß gut, dass Kerschbaumers Unterkiefer fest am Oberkiefer montiert war, denn Ersterer fiel ihm jetzt tief hinab. »Du meinst, mit dem Kluibnschädl?«
»Genau der. Mit dem Franz Ferdinand.«
Wieso erfuhr er das erst jetzt? Und dann auch noch von Werner? »So richtig zusammen?«, fragte er ungläubig.
»Na ja, so richtig zusammen waren sie nicht. Sie hatte halt viele Freundschaften mit den Kerlen.«
»Herrje, was denn nun?«
Werner hob die Schultern. »Na, so genau weiß ich’s auch nicht. Ich habe ihr ja nur, äh …«
»Illegale Pillen verkauft …«, winkte Kerschbaumer ab. »Schon gut. Wann hast du sie zum letzten Mal zusammen gesehen und wo?«
»Als ich ihr, ähem, die Pillen … also, da hat er draußen auf dem Parkplatz gewartet.«
»Wann genau?«
Auf dem Parkplatz war die Luft rein gewesen, kein Mirko hatte auf ihn gewartet. Kerschbaumer war zurück nach Bad Kleinkirchheim gefahren und hatte eine Runde Aperitivo einberufen.
»Vier Tage vor ihrem Tod war sie mit diesem komischen Kluibnschädl zusammen«, referierte der Chefinspektor und hob sein Weißbier. Hilde und Feiersinger stießen mit ihm an. »Und nicht nur das: Der gute Werner hat uns belogen. Er hat Swetlana noch wenige Tage vor ihrem Tod die Pillen verkauft. Aber viel wichtiger ist die Sache mit dem Journalisten.«
»Glaubst du denn, dass das was heißt?« Hilde wischte sich mit der Zungenspitze den Weißbierschaum von der Oberlippe.
»Schwer zu sagen. Aber es ist schon merkwürdig, dass es uns niemand in Bad Kleinkirchheim erzählt hat.«
»Vielleicht wollte der Journalist es geheim halten«, vermutete Hilde.
»Wer will schon in aller Öffentlichkeit mit einer Prostituierten gesehen werden?«, fragte Feiersinger.
»Und wer weiß, in welcher Beziehung sie überhaupt zueinander standen?«, grübelte Kerschbaumer. »Es ist ja nicht strafbar, mit einem Mordopfer bekannt oder befreundet zu sein.«
»Und du hast den Kluibnschädl nicht erreicht?«, fragte Hilde.
»Drei Mal versucht, zwei Nachrichten hinterlassen.«
»Was ist mit einer offiziellen Vorladung?«
»Nicht durchzubekommen. Die Presse ist heilig.«
Die drei gingen alles noch einmal ganz genau durch. Den Mord. Den Fund der Leiche. Ihr Umfeld. Ihre Freunde. Ihren Arbeitsplatz. Ihre Kunden. Die familiäre Situation und die Erbschaft. Doch am Ende starrten sie ratlos auf den Bierschaum in den ausgetrunkenen Gläsern. Und Kerschbaumer, du liebe Zeit, der hatte ja noch ein Date. Das er angesichts der Umstände aber lieber für sich behielt.