48.Der Anschlag

Kerschbaumer schreckte hoch. Was für ein wunderlicher Traum! Aktenschränke waren über ihn zusammengestürzt, dicke Ordner mit ungelösten Fällen, meist Kleinkram zwar, aber in der Masse – und darniederstürzend zumal – doch von einigem Gewicht, genug jedenfalls, dass er nach Luft schnappte. Die übereinander gestürzten Regale knirschten noch im Nachhall des bürokratischen Unglücks, und Kerschbaumer öffnete die Augen.

Doch da war noch ein Nachhall, ein unbestimmtes Knarren. Er knipste die Nachttischlampe an. Und in diesem Augenblick, als sich das Hotelzimmer mit Licht füllte, schlug die Zimmertür zu, und Schritte entfernten sich rasant im Flur. Kerschbaumer griff zum Stuhl, auf dem er seine Dienstwaffe stets abzulegen pflegte, die geliebte, verlässliche, gut in der Hand liegende Glock 17, die er seit dem aufreibenden Prozess gegen einen bulgarischen Rocker- und Drogendealerring Tag und Nacht in Griffweite hielt.

Doch als er mit der Hand auf dem Sessel herumfuhr, fasste er in nichts Hartes, Kühles, Metallisches, sondern nur in den Stoff seiner Kleidung.

Natürlich: Er war ja in den Urlaub gefahren. Und hatte die Waffe gar nicht dabei.

Also stürzte er zur Tür und sah gerade noch eine Gestalt, die sich über den Korridor entfernte und die Treppe nach unten nahm. Kerschbaumer blickte kurz an sich herab – wie immer war er zu müde gewesen, die Schlafanzughose anzulegen und war nur mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet. Er sah nicht gerade aus wie James Bond. Aber egal, um diese Uhrzeit würde ihn hoffentlich niemand sehen.

In der Stille konnte er die Schritte gut hören, die im Treppenhaus vom zweiten Stock bis ins Erdgeschoss und dort an der Rezeption vorbeiführten, wo sich gerade ein müder Nachtportier aus dem Hinterraum schlich, der wohl auch die Schritte gehört hatte, doch seine Augen waren noch auf halbmast, als auch Kerschbaumer an ihm vorbeirauschte.

Die Gestalt sprintete die Treppe ins große Wellnesszentrum hinab. Der Ermittler folgte ihr.

Das Spa bei Nacht war gespenstisch. Kühle Luft, die nach nassen Bergkräutern roch. Dunkle Schatten, wo sonst die Saunas und Hamams waren. Es war kaum etwas zu erkennen, nur das stetige Wabern der Wellen im Pool, der von flackernden Unterwasserlampen schwach beleuchtet wurde.

Die Schritte waren verstummt, die Gestalt hatte sich irgendwo verborgen.

Aber wo?

Kerschbaumer fand einen Lichtschalter. Die Lampen flackerten müde, dann sprangen sie an. Das Licht blendete ihn, doch irgendwo weiter hinten klickte es, und das Licht erlosch. Er versuchte es noch einmal, doch es war dasselbe Spiel. Entweder spielte er es weiter, oder er musste riskieren, sich im Dunkeln auf die Suche nach der Gestalt zu begeben. Vorsichtig setzte er die Schritte. Langsam, zu langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er ging vorsichtig am Pool entlang, wo ihm das flackernde Violett Geleit gab.

Dann spürte er einen Stoß im Nacken. Dunkelheit brach über ihn herein. Er verlor das Bewusstsein.

Dann wachte er auf, lange konnte die Ohnmacht nicht gedauert haben. Als Erstes spürte er, dass das Wasser warm war, doch das war auch das Einzige, das derzeit für eine positive Sicht der Dinge sprach, denn Kerschbaumer befand sich unter Wasser, und als er aufzutauchen versuchte, wurde er niedergehalten. Etwas hing an seinem Fuß. Etwas, das nicht nachgeben wollte. Es war wie eine Schlinge. Wie eine Kette. Ein Gewicht, ja, ein Gewicht. Er tauchte zu seinem Fuß hinab, doch in dem aufgewühlten Wasser bekam er keinen klaren Blick. Das Gewicht schien sehr schwer, so schwer wie er mindestens. Im Wasser, ohne jeglichen Halt und gut eine Armlänge vom Beckenrand entfernt, kam er nicht dagegen an, so sehr er auch strampelte. Er kraulte verzweifelt nach vorn und zur Seite, doch das Gewicht schleifte schwer auf dem Grund, das unnachgiebige Geräusch von Eisen auf Kacheln war unter Wasser erschreckend klar zu hören. Wendelin Kerschbaumer kam weder an die Oberfläche noch näher an den Beckenrand. Und die Luft ging ihm aus. Ein letzter Kraftakt, ein gewaltiger Ruck, der ihm fast den Knöchel ausrenkte, doch es war nichts zu machen. Und so endeten sie also hier, die Ermittlungen im Mordfall Swetlana Kastelic. Jedenfalls für ihn. Und auch mit der Diät hatte es sich nun vollends erledigt, und wer würde es Hilde sagen und wie würde sie es auffassen? Verzweifelt schnappte er nach Luft, doch es schoss nur gechlortes Wasser in seine Lungen, und er wurde erneut ohnmächtig.