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Alice

Ich saß im Zug zurück nach Brighton. Wie es aussah, hatte ich eine Mentorin, aber warum? Was trieb diese wohlhabende, talentierte Bestsellerautorin namens Bo Luxton dazu, eine arme arbeitslose Versagerin namens Alice Dark unter ihre Fittiche zu nehmen? Nachdenklich betrachtete ich die Visitenkarte.

 

Bo Luxton

»The Riddlepit«, Nr Grasmere, Cumbria

Bo@BoLuxton.co.uk

07965 324762

 

Als ich am Morgen mit Ben und den anderen auf das Taxi zum Bahnhof wartete, verabschiedete sie sich von mir. Zuerst hielt sie Abstand, schaute mich an und wiederholte ihre Worte vom Vorabend: »Melden Sie sich.« Doch dann beugte sie sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange. Und als ich ihre Nähe spürte, ihren Duft, ihre Haut, die meine streifte, stockte mir der Atem.

Das ist Promigeilheit, schoss es mir durch den Kopf. Ich musste lachen. Ich war fünfundzwanzig und so aufgeregt wie eine Zwölfjährige mit einem Backstagepass für One Direction.

Genieß das Gefühl, dachte ich. Genieß es, so lange es anhält.

Denn es würde rasch verfliegen. Der Zug brachte mich fort aus dem kreativen Wunderland, zurück in mein stinknormales Leben. Meine Stimmung sank auf den Nullpunkt. Jake, der Nichtsnutz, wartete auf mich, schon halb besoffen vom Dosenbier, die dreckigen Klamotten mit Tabak vollgekrümelt. Allein die Vorstellung war zum Kotzen.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Ich stieg aus und ging hinunter zum Churchill Square und von dort aus weiter zur Strandpromenade. Der Weg war zwar länger als der über die High Street, aber ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Erwachsene Menschen wie Bo und Ben besaßen etwas Entscheidendes, das mir fehlte: das Gefühl, in der Welt verwurzelt zu sein. Und sie nahmen ihre Umgebung wahr. Sie waren in der Lage, jederzeit etwas über das Meer zu Papier zu bringen und dabei nicht in Klischees über Schiffe und blaue Wellen zu verfallen, sondern alle Details genau zu beschreiben. Wahrscheinlich waren sie sogar imstande, das Meer wirklich zu verstehen und daraus eine Vision zu erschaffen, die alle bisherigen Vorstellungen sprengte.

Ich dagegen tauchte nicht in meine Umgebung ein. Ich schwebte nur durch sie hindurch, ohne sie zu beachten. Meine Einzimmerwohnung zum Beispiel: Dort gab es lediglich ein Bett, eine Kiste, die als Tisch diente, und einen billigen Stoffkleiderschrank mit zwei Jeans, ein paar Oberteilen und einigen Überbleibseln aus meiner Zeit als Möchtegern-Clubberin. Alles fühlte sich so an, als sei es nur vorübergehend dort, als könne es im Handumdrehen abmontiert und woanders neu aufgebaut werden.

Ich musste endlich Wurzeln schlagen. Ich musste Jake verlassen, aus meiner winzigen Bude ausziehen und richtig Geld verdienen, damit ich mir endlich die Dinge leisten konnte, die einen als erwachsenen Menschen auszeichneten, zum Beispiel Slips, die zu meinen BHs passten, ein eigenes Auto und einen Wohnzimmerteppich.

An der Strandpromenade war viel los. Es war halb sechs. Die Mittagstrinker wurden allmählich von den Feierabendzechern abgelöst, während die Tagesausflügler aus Essex und Kent sich noch immer munter in die Shops unter den Arkaden drängten. Vor mir ragte das schwarze Skelett des West Pier in seiner ganzen morbiden Pracht aus dem Meer.

Ich rechnete fast damit, Jake über den Weg zu laufen. An sonnigen Tagen war er oft am Strand Richtung Hove. Dort konnte er besser herumhängen als an den Lanes, wo die Busse und Taxis ihm ihre Abgase ins Gesicht rülpsten und die leuchtenden Farben seiner Kunstwerke verqualmten.

Doch er war nirgends zu sehen. Ich beschloss, nicht erst zu mir, sondern direkt zu ihm zu gehen. Jake war bestimmt erst nachmittags aufgestanden und noch unterwegs (er führte ein Halbtags-, kein Ganztagsleben). Aber ich konnte ja auf ihn warten und solange mit Maria plaudern und später, wenn ich mit ihm Schluss gemacht hatte, zu mir gehen. Ich war fest entschlossen, Jake den Laufpass zu geben. Entweder ich trennte mich von ihm und fing endlich an zu leben, oder ich blieb mit ihm zusammen und ging zugrunde. Die Entscheidung war fast so schwer wie die zwischen Kapitalismus und Weltrettung.

Unterwegs überlegte ich, was ich ihm sagen wollte.

Du bist echt lieb, aber ich brauche jemanden, bei dem ich mich darauf verlassen kann, dass er sich nach einer Sauftour nicht in die Hose kackt.

Du brauchst eine Frau, die dich nicht nur bemuttern, sondern auch ficken will. Und ich will weder das eine noch das andere.

Ich weiß, es klingt albern, aber ich würde einfach gern mal mit Champagner und Austern verführt werden statt mit Dosenbier und Chips.

Wie sich herausstellte, war er zu Hause. Er stand in der Küche und schnippelte Gemüse mit der Präzision eines Herzchirurgen. Typisch Jake: Für zwei Möhren brauchte er eine halbe Stunde. Damit trieb er mich jedes Mal in den Wahnsinn.

Als ich hereinkam, sah er auf und strahlte mich an. »Hey, Süße«, sagte er, kam herüber und küsste mich. Seine Lippen schmeckten nur ganz schwach nach Gras.

»Hi.«

»War’s gut?«

Ich nickte. »Ja, super.« Wie sonst sollte ich ihm vermitteln, wie die Woche gewesen war?

»Zur Feier koch ich was für dich. Willst du was trinken?« Er öffnete den Kühlschrank. »Hab nur Stella da.«

Ich zuckte mit den Achseln und setzte mich. »Passt schon.«

»Und, hast du was geschrieben?«

»Ja. Und ich hab tolle Leute kennengelernt.«

»Ja? Cool. Lad sie doch mal ein.«

Ich nahm einen großen Schluck Bier und seufzte. Er sah so zufrieden aus, wie er dastand und Auberginen schnipselte, glücklich, mich wieder bei sich zu haben, glücklich mit dem unkonventionellen Leben, das ich nicht länger mit ihm teilen wollte. Ich hatte noch nie mit jemandem Schluss gemacht. Ich hatte keine Ahnung, wie das ging; wie es sich anfühlte, jemandem gegenüberzustehen, der Qualen litt, und dabei zu wissen, dass man selbst der Grund dafür war.

Vielleicht würde ich das gar nicht fertigbringen.

Um elf hatte ich es noch immer nicht geschafft. Wir hatten die Auberginenpampe gegessen, uns zwei Joints geteilt und ein paar Dosen Stella getrunken. Und weil ich eine ganze Woche lang weg gewesen war und noch immer nicht mit ihm Schluss gemacht hatte, musste ich nun mit ihm ins Bett und den Wiedervereinigungssex über mich ergehen lassen.

Er machte sich ans Werk. Ich tat so, als sähe ich die Pornobilder nicht und auch nicht die zusammengeknüllten, nach Sperma stinkenden Taschentücher neben der Matratze, die penetrante Schäbigkeit des Zimmers. Bo hätte nie im Leben Wiedervereinigungssex in so einem Zimmer. Sie hätte ihn auf einem frischen, blütenweißen Laken, mit einem Mann, der nicht wie ein Schwein grunzte, ihre zarte Haut mit seinen Bartstoppeln zerkratzte und sie dazu brachte, zu keuchen, zu stöhnen, die Schenkel breit zu machen und sich ihm lustvoll entgegenzuwerfen …

Oh, Gott, dachte ich. Oh, Gott.