Ich hatte seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen. Früher hatten Jake und Maria abwechselnd gekocht, und dann hatten wir zusammen gegessen. Manchmal war Maria sauer gewesen, weil ich mich bei Jake als Dauergast einquartiert hatte. Einmal meckerte sie darüber, dass ich nie kochte. »Ich kann nicht kochen«, sagte ich. »Ehrlich nicht. Ich kann gern Pizza für alle bestellen, aber du würdest es wirklich bereuen, wenn ich uns was koche.«
»Versuch es doch mal«, sagte Maria.
Also versuchte ich es, und von da an fragte sie mich nie wieder. Ich steuerte Zigaretten und gelegentlich ein Tütchen Gras zum Haushalt bei. Das genügte wohl.
Doch seit ich allein in meiner winzigen Bude hockte, bestanden meine Mahlzeiten aus zwei Zigaretten und einem Cappuccino. Ich hatte mir extra eine neue Espressomaschine und einen Milchaufschäumer gegönnt. Wenn schon, denn schon. Ernährung wurde ohnehin überbewertet. Ich kannte mal eine, der zwei Bananen am Tag reichten. Ich dagegen brauchte Koffein und Nikotin zum Überleben.
Allerdings erwartete Bo bestimmt einen gesunden Lebensstil von ihren Besuchern. Es war vermutlich keine gute Idee, ihre idyllische Berghütte jeden Tag mit fünf Päckchen Marlboro Gold zu verpesten (die konnte ich mir übrigens leisten, seit ich das Geld meiner Mutter geerbt hatte – adieu, Billigmarken). Ob ich es wohl eine Woche lang ohne Kippen aushalten würde? Am besten tauchte ich mit frisch gewaschenen Klamotten dort auf, versuchte, keinen Blödsinn zu reden, und verkniff mir das Rauchen. Das bekam ich doch sicher auf die Reihe. Andere Leute lebten schließlich die ganze Zeit so. Das war wohl der Grund, weshalb sie ein Nullachtfünfzehn-Dasein durchhielten und ich nicht.
Ich sah auf die Uhr. 8:30. So früh war ich nicht mehr aufgestanden, seit ich vor sechs Monaten meinen Job an den Nagel gehängt hatte. Es fühlte sich gut an, einen konkreten Grund zum Aufstehen zu haben, statt planlos in den Tag hineinzuleben.
Noch vierzig Minuten, bis der Zug fuhr. Ich überprüfte meine Tasche. Jeans, Oberteile, Unterwäsche, Notizbuch, Stift, Make-up und Brighton-Rock-Zuckerstangen für Bos Töchter. Mir war kein anderes Mitbringsel für sie eingefallen; ich hatte keine Ahnung, was bei den Kids gerade angesagt war. Bos Mädchen waren sicher anders als normale Kinder. Wahrscheinlich standen sie eher darauf, Namen für Wildblumen und seltene Vogelarten zu erfinden, als haufenweise Neonplastik über den Boden zu schieben. Wahrscheinlich hatten sie alles von Austen und Dickens gelesen. Schon jetzt schüchterten sie mich ein. Lola und Maggie. Das waren sicher coole Mädels. Coole Mädels waren clever und kamen mit allem durch, weil sie ihre Cleverness nutzten, die Geheimnisse anderer Leute aufzudecken, einschließlich der ihrer Eltern.
Ich hängte mir meine Tasche um und schaute mich noch einmal in meiner winzigen Wohnung um. Eine schreckliche Vorstellung, hierher zurückzukehren. Ich trat hinaus und schloss die Tür hinter mir zu. Als ich die Treppe hinunterlief, nahm ich zwei Stufen auf einmal und betete, dass mir kein anderer Mieter begegnete. Die Leute, die hier wohnten, waren arm – richtig arm, nicht bloß bohèmemäßig arm so wie ich. Ich würde dieser Misere natürlich eines Tages entkommen. Doch die anderen Mieter kamen aus Familien, die seit Generationen nichts anderes kannten als Armut und Elend. Sie waren in Einzimmerwohnungen aufgewachsen, von den Eltern vernachlässigt und ohne anständiges Essen; sie waren auf schlechten Schulen gewesen, von Menschen verprügelt worden, die sie eigentlich hätten lieben sollen, und die graue Trostlosigkeit ihrer Umgebung hatte jeglichen Ehrgeiz, den sie vielleicht hätten entwickeln können, im Keim erstickt. Nun vegetierten sie hier vor sich hin und kamen kaum über die Runden mit ihren Nullstundenverträgen. Manche holten sich Lebensmittelpakete von der Tafel: Billigsuppe, Billignudeln, Pudding aus der Dose. Es war zutiefst deprimierend, inmitten dieser Hoffnungslosigkeit zu leben.
Ich schaffte es zum Ausgang, ohne gesehen zu werden. Nun musste ich nur noch die Western Road entlang und den Berg hoch bis zum Bahnhof. Hoffentlich lief Jake mir nicht über den Weg. Es war zwar eher unwahrscheinlich um diese Uhrzeit, aber denkbar war es schon, dass er mir auf dem Heimweg von irgendeiner Party halb bewusstlos entgegentorkelte. Seit er Freitagabend aus der Versenkung aufgetaucht war, hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Am Sonntag hatte er mir eine SMS geschickt, wo steckst du denn süße. Ich hatte nicht reagiert. Seitdem herrschte Funkstille.
Draußen war es warm und sonnig. Die Straßen füllten sich bereits mit Kauflustigen und Straßenmusikern, und die Cafébesitzer stellten ihre Werbetafeln für Frühstücksbagel und Vollwertkram vor die Türen. Ich lief schnell weiter. Ich wollte mich nicht von den Geschäften ablenken lassen. Ständig hatte ich die 5000 Pfund (abzüglich der Kosten für Mascara, Espressomaschine und Milchaufschäumer) im Hinterkopf. Oh, wie schön, dachte ich, wenn ich all die verlockenden Dinge in den Schaufenstern sah, die ich eigentlich überhaupt nicht brauchte. Nein, vergiss es. Hör auf Bo und leg das Geld beiseite.
Als ich am Bahnhof ankam, stand mein Zug schon am Gleis. Rasch stieg ich ein. Ich hatte einen Sitzplatz in einem Wagen mit Ruhezone reserviert. Es ging mir auf die Nerven, wenn ständig Handys klingelten oder Leute sich laut unterhielten und so in mein Leben eindrangen. Außerdem hatte ich die letzten beiden Romane von Bo dabei, die ich ungestört lesen wollte, damit ich mir kluge Kommentare ausdenken konnte. Schließlich sollte Bo ihr Angebot, meine Mentorin zu sein, nicht bereuen. Ich musste es wert sein. Ich musste gut sein.
Ich verstaute mein Gepäck auf der Ablage über meinem Sitz, dann nahm ich Platz und prüfte noch einmal mein Ticket. Ich warf einen Blick auf das Datum: 23. Juni. Plötzlich wurde mir bewusst, dass es bald ein Jahr her war, seit meine Mutter gestorben war. Am Freitag nämlich. Aber dann war ich ja bei Bo, abgelenkt und geborgen im Schoß ihrer wunderbaren Familie.