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Sie war so normal. Das faszinierte mich am meisten. Diese erfolgreiche, berühmte, wohlhabende und intelligente Frau führte ein ganz normales Leben. Sie putzte die Küche, klebte Pflaster auf die Schürfwunden ihrer Töchter, kochte Kaffee, schnürte Lunchpakete und bereitete das Abendessen zu. All das erschien mir außergewöhnlich. Weil es so normal war. Trotz ihres Ruhms und Reichtums war Bo bescheiden geblieben.

Eines Morgens, als ich die herrliche Berglandschaft betrachtete, fragte ich Bo: »Vermissen Sie den Londoner Trubel gar nicht? All die glamourösen Partys?« Eine Party mit lauter berühmten Autoren hätte ich durchaus verlockend gefunden.

Doch Bo schüttelte entschieden den Kopf. »Im Gegenteil, ich hasse das«, erwiderte sie. »Es gibt natürlich auch ein paar nette Leute in der Londoner Literaturszene, aber insgesamt ist das ein knallhartes und verlogenes Geschäft. Ich ertrage das nicht. Ich lebe lieber hier, wo ich mich in Ruhe um meine Kinder kümmern und meiner Leidenschaft frönen kann. Es ist wirklich ein Luxus, zurückgezogen zu leben, mit niemandem wetteifern zu müssen und die Freiheit zu haben, man selbst zu sein.«

Als ich zu Bo kam, war auf einmal alles so einfach. Ich wurde sofort integriert. Überall im Haus war Familienleben spürbar, laut, lebendig, gesund. Es war ganz anders als das Zuhause, in dem ich aufgewachsen war und wo es nur Wut, Schmerz und verletzte Menschen gegeben hatte, die nicht aufhören konnten, einander weiter zu verletzen.

Lola und Maggie waren tolle, quirlige Kinder, die gern zur Schule gingen. Und sie bekamen so viel Liebe. Sie wurden geradezu mit Liebe überschüttet. Wie gern wäre ich an ihrer Stelle gewesen. Am liebsten hätte ich auch den Kopf auf Bos Schoß gelegt, damit sie mir sanft übers Haar strich, mich zärtlich küsste und sich mit unendlicher Geduld um mich kümmerte.

»Ihre Töchter haben es wirklich gut. So eine Kindheit kann sich jeder nur wünschen.«

Bo lächelte zufrieden.

Von Gus hielt ich allerdings nicht so viel. Er machte sich überall breit, war stets mürrisch und verlor kaum ein Wort. Am Freitagmorgen fuhr er nach Manchester und ließ Bo und mich mit den Mädels allein. Wenn er abends zurückkam, seufzte Bo und sagte: »Gleich ist es vorbei mit der guten Stimmung.« Und genauso war es auch. Gus war barsch zu den Mädchen, und als die altersschwache Katze in die Küchenecke kackte, schrie er Bo an, bevor er hinausstürmte und die Tür hinter sich zuknallte.

»Scheiße«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel. Ich hatte keine Ahnung, wie ich einer Frau, die siebzehn Jahre älter war als ich, Trost spenden sollte. Wäre sie eine meiner Freundinnen aus Brighton gewesen, hätte ich sofort gesagt: »So ein Arsch. Auf den kannst du echt verzichten.« Dann hätten wir ein, zwei Monate herumdiskutiert, ob sie wirklich ohne ihn klarkommen würde, und irgendwann hätte sie dann gesagt: »Ja! Den werfe ich jetzt raus!«

»Keine Sorge, Alice«, sagte Bo sanft. »So benimmt er sich immer, wenn er mitbekommt, dass ich Freundinnen habe und mein Leben sich nicht ausschließlich um ihn dreht.«

Ich sah sie skeptisch an.

»Wirklich«, sagte sie. »Ich komme damit klar.«

Ich glaubte ihr. Sie wirkte nicht wie jemand, der sich leicht einschüchtern ließ.

Gus hatte die Post von draußen mitgebracht und auf den Tisch gelegt. Normalerweise tat er das direkt nach dem Frühstück, aber an diesem Tag war er bereits weg gewesen, als der Postbote kam, und obwohl Bo und ich im Laufe des Tages mehrmals am Briefkasten vorbeigekommen waren, hatte sie ihn nicht geleert.

Wahrscheinlich wäre es mir überhaupt nicht aufgefallen, wenn Bo nicht gesagt hätte: »Hoffentlich ist nicht schon wieder ein böser Brief für mich angekommen.«

Ich hatte sie fragend angeschaut, aber mehr hatte sie nicht gesagt.

Nun griff sie nach dem weißen, bedruckten Umschlag, der auf dem Tisch lag, und betrachtete ihn argwöhnisch. Dann riss sie ihn auf, nahm den Brief heraus und begann zu lesen. Als sie fertig war, legte sie ihn nieder und atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie sich ein Glas Wasser holte.

Nach einer Weile fragte ich: »Alles okay?«

Sie lächelte mir zu. »Ja, ja. Der Brief war nur nicht besonders erfreulich, das ist alles. Ich …«

Sie hielt inne. Dann kam Gus zurück in die Küche, und ich hatte keine Gelegenheit mehr, ihr weitere Fragen zu stellen.

»Gus, könntest du den Brief in den Müll werfen? Er ist von unserer alten Freundin.«

»Oh, den muss ich übersehen haben«, sagte Gus und griff nach dem Brief, um ihn zu lesen.

»Nein, lass«, sagte Bo und hielt ihn davon ab. »Wirf ihn einfach nur weg, ja? Danke.«

Gus murmelte irgendetwas vor sich hin, dann warf er den Brief in den Abfalleimer, sah Bo eindringlich an und sagte: »Wir müssen uns überleg…«

»Später, Gus.«

Ich schaute die beiden verwundert an. Ich kapierte nicht, was da los war, aber Bo biss sich auf die Unterlippe, als versuchte sie, nicht in Tränen auszubrechen.

Als sie Maggie später ins Bett brachte und ich mit Lola am Küchentisch saß, bekam ich mit, wie Gus den Abfalleimer durchwühlte. Er fischte den Brief heraus und studierte ihn sehr gründlich.

* * *

Am nächsten Morgen war Bo wieder ganz die Alte. Sie machte den Mädchen Lunchpakete und half ihnen beim Anziehen. Dann brachten wir sie zur Schule, wanderten zum Haus zurück und begaben uns in Bos Arbeitszimmer. Ich beneidete sie um diesen großzügigen, friedlichen Raum mit seinem herrlichen Blick auf die Berge und das Tal, wo der schiefergraue See schimmerte. Wenn doch nur alle Schriftsteller so eine Aussicht hätten.

Bo kramte auf ihrem Schreibtisch herum und zog ein paar Manuskriptseiten hervor. »Darf ich Ihnen etwas vorlesen?«, fragte sie. »Die ersten zwei Kapitel meines neuen Buches? Diesmal wage ich mich auf neues Terrain.«

»Wow«, sagte ich. »Ja, klar.«

»Ich brauche eine zweite Meinung, weil ich nicht sicher bin, ob es gut ist«, sagte sie. »Gus kann ich nicht fragen, er hat keine Ahnung von Literatur. Aber Ihnen vertraue ich. Sie kennen sich damit aus.«

Ich fühlte mich geschmeichelt, aber es wäre mir natürlich nicht im Traum eingefallen, Bos Arbeit zu kritisieren. Ich hatte schnell gemerkt, dass sie trotz ihres ganzen Erfolgs unsicher war. Sie schien nicht glauben zu können, dass sie so gut war, wie alle sagten, sondern sich eher wie eine Blenderin vorzukommen. Ich fand es schade, dass sie so wenig Selbstvertrauen hatte, und machte Gus dafür verantwortlich. Er war wirklich gemein zu Bo. Ein richtiger Mistkerl.

Bo begann vorzulesen, und ich hörte zu. Das Ganze spielte fünfzig Jahre in der Zukunft: Eine Umweltkatastrophe hatte Großbritannien zerstört und alle Einwohner zu Flüchtlingen gemacht, doch der Rest der Welt zeigte ihnen die kalte Schulter. Allein der Anfang klang sehr düster und beklemmend.

Als Bo aufhörte zu lesen, sah ich sie an und sagte einfach nur: »Wow.«

Bo lächelte. Sie wirkte erleichtert. »Gefällt es Ihnen wirklich?«

»Ja, es ist toll! Ehrlich! Einfach toll. Oh, Gott, ich bin so neidisch auf Ihr Talent!«

Bo lachte. Dann wurde sie ernst. »Ich möchte, dass Sie heute etwas schreiben. Egal, was. Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, aber bringen Sie etwas zustande, bevor Sie heute zu Bett gehen. In der Küche ist Kaffee; bedienen Sie sich einfach. Ich werde auch schreiben. Ich muss an meinem Buch weiterarbeiten, obwohl mir momentan gar nicht danach ist. Aber dank Ihnen fällt es mir nicht ganz so schwer. Wir können zusammen kreativ sein und uns gegenseitig motivieren. Was meinen Sie?«

»Klingt super«, sagte ich.

»Dann lassen Sie uns loslegen.«

Den Rest des Tages verbrachten wir zusammen in Bos Arbeitszimmer. Wir sprachen nicht miteinander, lediglich das Kratzen unserer Kugelschreiber auf dem Papier und das Klappern der Tasten waren zu hören, ab und an untermalt von nachdenklichen Seufzern. Die Erfahrung war so intensiv, dass es mir manchmal fast vorkam, als wären wir ein und dieselbe Person.

Gegen Nachmittag fragte Sie: »Wollen Sie mir vorlesen, was Sie bisher geschafft haben?«

Ich zögerte. »Das ist nur Müll, Bo. Totaler Schrott, ehrlich. Egal, was ich versuche, irgendwie lande ich doch immer wieder bei meiner toten Mutter.«

»Seien Sie nicht so streng mit sich selbst, meine Liebe. Es ist doch erst ein Jahr her, dass Ihre Mutter gestorben ist. Das steckt man nicht einfach so weg. Natürlich beschäftigt es einen. Bei mir war das am Anfang genauso.«

»Wirklich?« Ich war regelrecht erpicht darauf, zu hören, dass sie wie ich gewesen war.

»Aber selbstverständlich! Wenn man anfängt, kreativ zu werden, ist das so, als würde man einen alten Wasserhahn aufdrehen. Zuerst kommt nur braune Brühe heraus, weil man den Schmutz aus der Seele spült. Doch sobald man den Schmutz los ist, wird das Wasser klar. Glauben Sie mir.«

»Danke«, murmelte ich.

»Wenn Sie möchten, erzählen Sie mir ruhig von Ihrer Mutter, falls es Ihnen hilft«, sagte Bo sanft.

Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind einfach nicht miteinander klargekommen.«

Bo nickte. »Ich verstehe«, sagte sie, und ich glaubte ihr. Sie verstand mich wirklich, ohne dass ich es weiter erklären musste.