Drei Tage nach meiner Rückkehr ging ich in die Stadt und kaufte mir ein iPad Mini, damit ich Bo rund um die Uhr E-Mails schicken konnte und nicht mehr zur Bücherei rennen musste. Die Computer dort waren so langsam, dass ich jedes Mal eine Stunde brauchte und noch dazu ein schlechtes Gewissen bekam, wenn andere Leute, die eine Bewerbung schreiben wollten, wegen mir warten mussten.
Das iPad war teuer, aber das war es mir wert, denn der Kontakt zwischen Bo und mir wurde immer intensiver.
An: AlicetheEighth@gmail.com
Gesendet am: 3. Juli 2015, 16:15
Betreff: Hallo
Liebste Alice,
wie geht es dir? Hier ist alles okay, aber es ist so still. Inzwischen bin ich beim dritten Kapitel, aber es geht nur im Schneckentempo voran. Falls ich mit diesem Buch je fertig werden sollte, wärest du dann bereit, es dir durchzulesen und mir (ehrliches!) Feedback zu geben? Im Ernst: Wenn es Schrott ist, musst du es mir sagen. Letztens war ich auf einer Konferenz und lernte dort einen Umweltforscher kennen, der sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf Großbritannien beschäftigt. Er wollte es lesen, aber ich habe abgelehnt, weil er garantiert nur ein frauenfeindlicher Flachwichser ist. (Meine Güte, ich klinge schon fast so wie du.)
Du fehlst mir. Gestern nach dem Abendessen ging ich ein paar Stunden wandern, denn ich liebe die Sommernächte in den Bergen, wenn die Dunkelheit sich über die Gipfel legt und man nur noch das Rauschen des Wasserfalles und das gelegentliche Knarren der Tannen hört. Und während ich wanderte, dachte ich, wie schön es wäre, dich hier bei mir zu haben.
Also, besuch mich bald wieder, liebste Alice.
xxxxx
Von: AlicetheEighth@gmail.com
Gesendet am: 3. Juli 2015, 16:49
An: Bo@BoLuxton.co.uk
Betreff: Re: Hallo
Dein Buch wird sicher besser werden, als du denkst, aber ja, sobald es fertig ist, kannst du es mir gern schicken, dann werde ich es lesen und es garantiert großartig finden. Ich hoffe, du kannst mit dieser Art von Kritik leben. Aber inzwischen weißt du ja, dass ich sowieso immer nur wiederholen kann, dass du großartig bist. Denn das bist du. Vielleicht ist das die Kritik, die du dir wünschst, aber dafür brauchst du mir nicht extra dein Buch zu schicken. Das kann ich dir auch so sagen. Und ich sage es dir gern, so oft du willst – bis dein Ego so gigantisch geworden ist, dass man es vom Weltraum aus sehen kann.
Du bist großartig.
Meine Wohnung ist die reinste Bruchbude … Ich habe beschlossen, auf deinen Rat zu hören und mir eine andere Bleibe zu suchen, aber zuerst muss ich einen neuen Job finden, seufz … Mein Boss an der Sprachschule hat meine Stundenzahl erhöht, aber das reicht trotzdem nicht, um etwas Besseres zu mieten. Vielleicht biete ich meine Eizellen auf eBay zum Verkauf an.
Deine Wanderung klingt toll. Ich wünschte, ich hätte dabei sein können.
Ax
Bos E-Mails sorgten für Ablenkung. Ich wollte unbedingt am Ball bleiben und etwas Neues schreiben, womit ich sie beeindrucken konnte. Das wollte ich mehr als alles andere: Bo beeindrucken und sie dazu bringen, mich zu lieben. Einen Moment lang kam ich mir erbärmlich vor; wie ein Kind, das sich verzweifelt nach seiner gewalttätigen, lieblosen Mutter sehnt. Freud hätte zweifellos seine Freude an mir gehabt.
Aber Bo war nicht meine Mutter. Bo war ein guter Mensch, sie war freundlich, liebevoll und brachte nur das Beste in mir zum Vorschein. Letzte Woche, als wir in ihrem Arbeitszimmer saßen, hatte sie mir sogar einen richtigen Motivationsschub gegeben. »Schreib«, hatte sie zu mir gesagt. Und genau das hatte ich vor.
Ich schaltete Radio Four ein. Irgendwer berichtete von einer neuen Website, die Interessierten Zugriff auf die Aufzeichnungen sämtlicher Kriminalfälle ermöglichte, die seit 1600 vor Gericht gekommen waren. Das klang interessant. Dann wurde der Fall eines bitterarmen Mädchens erwähnt, das einem anderen Mädchen ein Kleid gestohlen hatte und dafür nach Australien zwangsverschickt worden war. Ein ganzes Leben, das nicht hier, sondern in New South Wales stattgefunden hatte. Niemand wusste, was aus dem Mädchen geworden war. Der Richter hatte sein Urteil verkündet, das Mädchen war in Tränen ausgebrochen, und das war’s dann gewesen.
Ich fragte mich, wie das Leben dieses Mädchens wohl verlaufen war, und begann, mir Notizen zu machen, um später ihre Geschichte erzählen zu können.
Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, im Internet nach Zeitungsartikeln, Sträflingsbiografien und Fakten über das Leben in Botany Bay zu suchen. Um halb sieben machte ich mir Toast, dann öffnete ich ein neues Word-Dokument und begann zu schreiben.
Ich brauchte vier Stunden, doch es gelang mir, eine ganze Seite zu füllen. Drei Absätze mit sorgfältig konstruierten Sätzen, kein einziger davon über meine Mutter.
Freudestrahlend schrieb ich eine E-Mail: »Ich hab’s geschafft!« Dann fügte ich den Text als Anhang hinzu und klickte auf »Senden«.
Die Antwort kam zehn Minuten später: »Das ist großartig, Schätzchen, ich hab’s ja gleich gewusst. Mach weiter so!«
Erschöpft, aber glücklich fiel ich ins Bett und schlief direkt ein.
Der Nachrichtenton des iPads weckte mich auf.
Von: Bo@BoLuxton.co.uk
Gesendet am: 4. Juli 2015, 00:32
An: AlicetheEighth@gmail.com
Betreff: Hellwach
Kann nicht schlafen, bin also mitten in der Nacht wieder aufgestanden. Habe versucht zu arbeiten. Zu müde und unkonzentriert. Wünschte, du wärest hier.
Gute Arbeit heute. Schlaf gut, Schätzchen. Stelle mir gerade vor, wie du in deinem Bett liegst, und hoffe, du träumst was Schönes.
Hab dich lieb
Bxxxxx
Von: Bo@BoLuxton.co.uk
Gesendet am: 4. Juli 2015, 00:34
An: AlicetheEighth@gmail.com
Betreff: P.S.
Was ich noch sagen wollte: Verkauf deine Eizellen nicht auf eBay. Du wirst sie noch brauchen. Ich will diesen »Die Welt kann gut auf meine Gene verzichten«-Unsinn nicht mehr hören. Deine Gene würden die Welt zu einem besseren Ort machen!
x
Ich las beide E-Mails genau durch, Wort für Wort. Hab dich lieb. Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern. Hab dich lieb. Was hatte das zu bedeuten? Welche Art von Liebe meinte sie damit? Ich grübelte die halbe Nacht darüber nach.
Alles war herrlich und schrecklich zugleich.