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Den Ausdruck »im siebten Himmel schweben« kannte ich natürlich, doch erst jetzt verstand ich, was er eigentlich bedeutete. Ich fühlte mich wunderbar leicht und beschwingt. Bo liebte mich, wollte mit mir zusammen sein, riskierte alles für mich. Es war atemberaubend, überwältigend und kaum zu fassen.

Am Morgen brachten wir die Mädchen zur Schule, und danach wanderten wir weiter durch den Wald bis zum Loughrigg Tarn. Es war ein warmer Tag, die Sonne leuchtete golden über dem dunklen See. Ich nahm Bos Hand in meine. Ich wollte nicht an die Zukunft denken.

Schweigend gingen wir nebeneinanderher. Ich war ganz selig vor Glück. Doch als ich Bo ansah, erwiderte sie meinen Blick nicht. Schon war es mit der Seligkeit vorbei.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich.

Sie schwieg.

Vor der Sonne zogen Wolken auf. Ich fröstelte. Bo sah mich noch immer nicht an. Ich hielt weiter ihre Hand, klammerte mich regelrecht daran fest, und sagte nichts weiter aus Angst, alles kaputt zu machen.

* * *

Beim Abendessen sagte Bo: »Ich kann nicht so tun, als käme Gus nicht zurück.«

» Und wie geht es dann weiter?«, fragte ich.

»Ich kann dir nichts versprechen«, sagte sie.

»Bereust du es?«, fragte ich.

Sie schwieg.

Ich verbrachte die Nacht im Gästezimmer und wartete auf sie.

Doch sie kam nicht. Ich weinte.

* * *

Am nächsten Morgen war sie wieder in Hochstimmung. Sie plauderte munter, als wir den Mädchen Frühstück machten. Ich stellte Porridge in die Mikrowelle, Bo steckte Brot in den Toaster und servierte Saft und Kaffee. Zwischendurch warf sie mir immer wieder Blicke zu und lächelte mich an, als wolle sie mit mir flirten, und wenn sie mich im Vorbeigehen streifte, durchzuckte uns beide ein Verlangen, das stärker war als wir selbst.

Als es dunkel wurde, war alles wieder gut. Es war unser letzter gemeinsamer Abend.

* * *

Zwei Uhr früh. Wir lagen im Bett, noch immer wach.

»Ich habe ein Gedicht geschrieben«, sagte Bo.

»Lies es mir vor«, sagte ich.

Es war ein trauriges Gedicht über das Gefangensein im Paradies.

Als sie es zu Ende gelesen hatte, nahm ich ihre Hand und sagte: »Es klingt so traurig. Nach Angst und Einsamkeit, und einer großen Sehnsucht, zu entkommen.«

Bo wurde auf einmal angespannt, und ich bereute meine Worte sofort. Doch dann lachte sie und sagte: »Natürlich sehne ich mich danach, zu entkommen! Vor allem dieser verdammten Katze. Jeden Tag hoffe ich, dass sie tot umfällt, damit ich endlich wieder in Urlaub fahren kann.«

»Und mehr steckt nicht dahinter?«, fragte ich.

Sie schwieg.

Nach einer Weile sagte ich: »Du weißt alles über mich, aber wenn ich etwas über dich erfahren möchte, blockst du jedes Mal ab.«

Tatsächlich hatte ich mehrmals versucht, mit Bo über Gus zu reden und darüber, wie er sie behandelte. Ich hatte sie auch gefragt, warum sie so geringschätzig von ihrer Mutter sprach und warum es ihr so wichtig war, in dieser Abgeschiedenheit zu leben. Doch sie wich meinen Fragen stets aus; statt zu antworten, wechselte sie einfach das Thema oder stellte mir eine Gegenfrage.

»Wie gehst du damit um, wenn du so wütend wirst wie jetzt gerade?«, fragte sie.

»Was?«

»Du bist wütend. Wie gehst du mit diesem Gefühl um?«

»Ich versuche doch nur, mit dir zu reden. Ich bin nicht wütend. Nur frustriert.«

»Aber was machst du normalerweise, wenn du wütend bist?«

»Ich bin nicht …«

»Doch, du bist wütend, Schätzchen. Du hast auch allen Grund dazu. Du bist wütend auf deine Mutter …«

»Ich …«

»Du musst einen Weg finden, dich von deiner Wut zu befreien, damit es dir wieder gut geht. Alkohol und Zigaretten sind allerdings der falsche Weg.«

Ich schwieg verwirrt.

»Wenn du wütend bist, gehst du am besten spazieren. Geh raus an die frische Luft und wandere durch die herrliche Landschaft. Wenn du den Boden unter den Füßen spürst, wirst du merken, dass du selbst ein Teil der Natur bist. Nimm die Schönheit deiner Umgebung mit all deinen Sinnen auf, dann wird sie dich heilen. Aber genug geredet. Lass uns schlafen.«

Ich spürte einen seltsamen Knoten im Magen, als wäre ich zurechtgewiesen worden. Aber das war Quatsch. Bo hatte mich bestimmt nicht zurechtgewiesen. Sie hatte es lieb gemeint, wollte mich nur an ihrer Lebenserfahrung teilhaben lassen. Ich schloss die Augen und genoss das Gefühl, in Bos Armen zu liegen. Alles war gut.

* * *

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich niedergeschlagen. Unser letzter Tag war angebrochen. Mein Zug ging um drei Uhr nachmittags. Ich dachte an meine Heimreise, meine leere Wohnung, mein leeres Leben. Am liebsten wäre ich bei Bo und ihren Töchtern geblieben. Ich sehnte mich nach einer Familie.

Die Mädels hatten natürlich keine Ahnung davon, was zwischen Bo und mir lief. Offiziell schlief ich im Gästezimmer. Dort hatte ich meine Sachen, und dorthin schlich ich morgens, bevor sie aufwachten, zurück. Wie eine große Schwester, die nachts heimlich außer Haus war. Oder wie eine miese Ehezerstörerin. So wollte ich mich aber nicht sehen.

Unten in der Küche hörte ich Bo und die Mädchen frühstücken. Ich blieb oben, duschte, zog mich an, packte langsam meinen Rucksack und weinte still beim Gedanken daran, wegfahren zu müssen und nicht zu wissen, wann ich das nächste Mal zu Besuch kommen konnte.

Nach einer Weile stürmten Lola und Maggie die Treppe hoch, um sich für die Schule fertig zu machen. Sie stritten sich über irgendetwas. Ich konnte nicht verstehen, worüber, und es interessierte mich auch nicht. Sie stritten sich andauernd. Meine Mutter hätte beiden den Hintern versohlt, aber Bo war stets die Ruhe selbst, die geduldige Vermittlerin.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und ging nach unten. Bo räumte gerade das Frühstück weg. Als sie mich sah, lächelte sie.

»Guten Morgen, Schatz«, sagte sie. Ihr fröhlicher Tonfall ärgerte mich. Ich wollte, dass sie traurig war. Ich wollte das Gefühl haben, nicht die Einzige zu sein, die den bevorstehenden Abschied bedauerte.

Doch bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Ich muss heute arbeiten. Am besten gehst du spazieren. Das wird dir helfen, auf andere Gedanken zu kommen und dich in Ruhe und Gelassenheit zu üben.« Sie reichte mir ein grünes Buch mit dem Titel Wanderführer Grasmere.

Wortlos starrte ich auf das Buch. Ich hätte schon wieder heulen können. Uns blieben noch knapp sechs Stunden Zeit füreinander, aber Bo wollte lieber arbeiten. Plötzlich schämte ich mich, als hätte ich mich in einen ungebetenen Gast verwandelt, der ausgestoßen wird.

Ich blätterte in dem Buch. »Welche Strecke würdest du denn empfehlen?«, fragte ich kühl.

»Es gibt eine sehr schöne Tour, die am Dove Cottage beginnt und der Sargroute nach Rydal folgt. Dort überquerst du einfach die Straße zum See und läufst am Seeufer entlang zurück zum Dorf. Die Strecke ist nur etwa sechs Meilen lang. Gegen Mittag bist du wieder zurück.«

Ich lachte bitter. »Sargroute. Wie passend.«

»So nennt man den Pfad, auf dem früher Särge zur Trauerfeier getragen wurden. Manche Dörfer hatten keine eigene Kirche. Der Weg ist ziemlich steil.« Bo lächelte, dann fügte sie hinzu: »Das waren wirklich leidvolle Zeiten damals.«

Ich schwieg.

»Ich habe dir ein Lunchpaket gemacht«, sagte Bo. »Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht, Schatz. Ich muss heute Vormittag wirklich mal was tun. Geh raus an die frische Luft. Das wird dich inspirieren, glaub mir!«

»Alles klar«, sagte ich. Bo gab mir das Lunchpaket und eine Flasche Wasser. Ich bedankte mich, und da mir nichts anderes übrig blieb, ging ich hinaus.

* * *

Bo hatte recht gehabt. Die Strecke war wirklich schön. Der Weg führte hinauf in die Berge und bot einen herrlichen Ausblick auf den See, der still im Sonnenlicht glitzerte. Aber der Spaziergang brachte mich leider nicht auf andere Gedanken. Ich grübelte die ganze Zeit vor mich hin. Ich wollte nicht allein durch die Gegend wandern. Ich wollte lieber mit Bo zusammen sein.

Ich trottete weiter. Vielleicht klammerte ich zu sehr. Bo war immerhin eine erfolgreiche und viel beschäftigte Schriftstellerin. Da war es doch kein Wunder, dass sie mich weggeschickt hatte. Natürlich brauchte sie Zeit zum Schreiben. Warum hatte ich das nicht gespürt? Eigentlich hätte ich von selbst darauf kommen können, spazieren zu gehen, um ihr so Raum zum Arbeiten zu geben. Stattdessen hatte ich sie in die Verlegenheit gebracht, mich mit einem Lunchpaket vor die Tür setzen zu müssen.

Ich wurde knallrot vor Scham.

Nach einer Kurve führte der Weg ein Stück bergab zur Straße. Ich überquerte sie und lief über eine Holzbrücke zum Seeufer. Ein paar Familien machten dort Picknick, die Kinder paddelten im Wasser oder schwangen kühn an dem Seil, das an einem der Bäume befestigt war.

Ich spazierte um den See. Es inspirierte mich nicht, im Gegenteil. Es fühlte sich an wie eine Strafe.

* * *

Als ich ins Dorf gelangte, trödelte ich noch eine Weile dort herum, weil ich Bo nicht zu früh bei der Arbeit stören wollte. Ich bummelte durch die Geschäfte, schaute mir Bücher, Taschen und andere Dinge an, die ich nicht brauchte. Um halb zwei machte ich mich schließlich auf den Rückweg zu Bos Haus. Mir blieb gerade noch genug Zeit, meine Sachen abzuholen, mich zu verabschieden und zum Bahnhof zu gehen.

Als ich vor Bos Haus stand, war ich unsicher, ob ich einfach hineingehen oder besser anklopfen sollte.

Aber Bo hatte schon am Küchenfenster nach mir Ausschau gehalten und öffnete mir die Tür. Sie wirkte sehr erleichtert, mich zu sehen.

»Du warst aber lange unterwegs«, sagte sie und küsste mich fordernd.

»Ich hab mich noch ein bisschen im Dorf umgeschaut«, sagte ich leichthin.

»Schade, dass du so spät dran bist«, sagte Bo. »Jetzt bleibt uns kaum noch Zeit miteinander … Was ist denn los, Schätzchen?«

Ich schaute weg. Ich hatte Tränen in den Augen, aber ich war fest entschlossen, ihr keine Szene zu machen. »Nichts.«

Bo trat auf mich zu und schloss mich in die Arme. »Ach, Alice«, sagte sie. »Tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe.«

Sie hielt mich lange fest.

Als sie mich wieder losließ, sagte sie: »Ich wollte unbedingt arbeiten, weil ich mir so zu Herzen genommen habe, was du mir gestern Nacht gesagt hast – dass ich jedes Mal abblocke, wenn du etwas über mich erfahren willst. Du hast recht. Bitte vergib mir, Schätzchen, ich bin einfach nicht gut darin. Es fällt mir wirklich schwer, über mich selbst zu reden. Deshalb habe ich heute Vormittag zwei kleine Geschichten geschrieben, nur für dich, damit du sie im Zug lesen kannst. Sie enthalten sozusagen meine Lebensgeschichte.«

Die furchtbare Schwere, die den ganzen Vormittag auf mir gelastet hatte, war im Nu verflogen.

Ich lächelte. »Danke. Ich dachte …« Ich hielt inne und schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte Bo und drückte meine Hand. »So ist es nicht.«