8. September. Am nächsten Tag sollte mein Umzug ins dreihundert Meilen entfernte Grasmere stattfinden, doch Bo hatte sich noch immer nicht gemeldet. Ich konnte es einfach nicht fassen. Warum verhielt sie sich so? Ich hatte schon überlegt, meinen Umzug zu canceln und doch in Brighton zu bleiben. Aber ich hatte das ganze Geld ja längst ausgegeben, mir sogar schon ein Zugticket besorgt. Und tief in meinem Herzen wusste ich, dass Bo, die wunderbare, liebenswerte Bo, mich niemals auf diese Weise abservieren würde. Sie bat mich nicht, in ihre Nähe zu ziehen, nur um mich dann wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen. Für all das musste es eine Erklärung geben.
Ob Gus wohl dahintersteckte? Ich kannte ihn kaum, aber was ich von ihm mitbekommen hatte, reichte mir schon. Ich wusste, dass er ihre Briefe und E-Mails las, dass er ständig schlecht gelaunt und aggressiv war und dass er Bo lieblos behandelte, ohne einen Funken Respekt. Und ich wusste, dass sie Angst vor ihm hatte. Das hatte sie mir schließlich klar genug zu verstehen gegeben.
Ich versuchte, mir keine Sorgen zu machen, aber ich musste ständig daran denken, dass er Bo vielleicht grün und blau geschlagen hatte oder ihr so viel Angst einflößte, dass sie es nicht wagte, mit mir Kontakt aufzunehmen.
Ich seufzte, während ich meine Sachen zusammensuchte. Viel gab es nicht zu packen, nur Klamotten und Bücher. Die Wohnung war möbliert, und das Einzige, was mir gehörte, war ein Fernseher mit dazugehörigem Tisch. Die Bücher hatte ich bereits in vier Kartons verstaut, um sie per Paketdienst nach Grasmere zu schicken. Es dauerte nicht lange, meine restlichen Habseligkeiten in den verschlissenen alten Rucksack zu stopfen, mit dem ich damals durch Afrika gereist war, als ich mir noch eingeredet hatte, dass eine tief greifende kulturelle Erfahrung darin bestand, in einer Bruchbude am Strand zu schlafen und sich den Magen mit vergammeltem Fleisch zu verderben.
Ich lehnte den Rucksack gegen den Küchenschrank und schickte Jake eine SMS. Bist du wach? Es war schon fast Mittag. Vermutlich schlief er noch.
Doch zu meiner Überraschung antwortete er direkt. Ja.
- Willst du meinen Fernseher haben?
- Brauchst du ihn nicht mehr?
- Ich ziehe morgen um. Fahre mit dem Zug. Kein Platz.
- Okay.
- Kann ich vorbeikommen?
- Klar.
- Jetzt sofort?
- Ja.
- Bin in 10 min da.
- OK
Ich schleppte den Fernseher zur Bushaltestelle und betete, dass mir keiner über den Weg lief, der mir anbot, den Fernseher für mich zu tragen. Es war mir schon zu oft passiert, dass ich die Hilfe von irgendeinem Kerl angenommen und dann als Gegenleistung mit ihm gevögelt hatte. So sollte mein Liebesleben nicht mehr aussehen.
Mein neues Stadtviertel Kemptown gefiel mir; ich wäre gern noch ein Weilchen dortgeblieben. Ich mochte die schrulligen Bars und Läden wie Doggy Fashion, wo Leute ihre Hunde frisieren und mit Diamanthalsbändern ausstatten ließen, oder den Buchladen, der gleichzeitig als Galerie für noch unbekannte Künstler fungierte, oder Honey Pot, eine Bar nur für Frauen, wo dreihundert verschiedene Sorten Gin angeboten wurden, weil die Besitzer annahmen, dass Frauen darauf standen.
Aber nun zog ich in den Lake District, weil ich Bo kennengelernt hatte. Schon seltsam, welche Wendungen das Leben nahm.
Als der Bus kam, zwängte ich mich mit dem Fernseher durch die Tür, lehnte sämtliche Hilfsangebote ab, bezahlte die Fahrkarte und setzte mich. Der Bus fuhr langsam die St George’s Road herunter; er war offenbar speziell für die komfortable Beförderung von Senioren entwickelt worden. Ich fischte mein iPhone aus der Tasche. Den Vertrag dafür – 25,99 Pfund pro Monat – hatte ich unterschrieben, als ich aus meiner winzigen Einzimmerwohnung ausgezogen war und begonnen hatte, Vollzeit zu arbeiten. Ich musste in Grasmere unbedingt einen Job finden. Hoffentlich gab es dort wirklich Arbeit, so wie Bo gesagt hatte. Sie hatte schon so viel gesagt …
Ich warf einen Blick in meinen Posteingang. Nichts von Bo. Ich schaute in meinen »Gesendet«-Ordner. Am Tag zuvor hatte ich ihr meine letzte E-Mail geschickt:
Von: AlicetheEighth@gmail.com
Gesendet am: 7. September 2015, 16:22
An: Bo@BoLuxton.co.uk
Betreff: Mittwoch
Bo, ich habe keine Ahnung, was in deinem Kopf vorgeht. Ich habe versucht, die Kündigung meines Mietvertrags in Brighton rückgängig zu machen, aber es gibt schon eine Nachmieterin, also müsste ich mir etwas Neues suchen. (Ich bin stinksauer darüber, wie viel Geld mich das gekostet hat.) Ich komme Mittwoch um 14 h in Oxenholme an, also dürfte es für dich kein Problem sein, mich am Bahnhof abzuholen und zu der Wohnung nach Grasmere zu bringen, bevor du deine Töchter von der Schule abholen musst. Ich hoffe sehr, von dir eine Erklärung für dein Schweigen zu bekommen, wenn wir uns sehen.
Ich steckte das Handy in meine Tasche zurück. Bo tat mir das nicht absichtlich an, dessen war ich mir sicher. Sie ging sehr sorgsam mit anderen Menschen um. Sie war kein dämonischer Engel, der sich ein Opfer krallte, sich damit zum Himmel emporschwang und es dann einfach fallen ließ. So war sie nicht.
Bestimmt war ihr etwas passiert. Ich musste wieder an Gus denken.
Vielleicht ist sie tot, dachte ich. Vielleicht ist nur ein kleiner Teil von ihr übrig, ein Knochen oder ein Fingernagel. Aber ich könnte sie trotzdem identifizieren. Selbst wenn es nur ein kleiner Hautfetzen wäre, ich bräuchte nur kurz darüberzustreichen, um zu wissen, ob er von ihr stammt. Und wenn es eine Haarsträhne wäre, würde ich sie am Geruch erkennen.
Gus wäre dazu nicht imstande gewesen. Wenn er doch Alzheimer bekäme, dachte ich. Dann vergäße er, mit wem er verheiratet war, und könnte irgendwo vermodern. Einmal hatte ich zu Bo gesagt: »Sag diesem despotischen Schwachkopf, dass er gefälligst verschwinden soll. Dann können wir endlich zusammen sein.« Jetzt tat es mir fast leid. Ich hatte das natürlich nur im Spaß gesagt, aber vielleicht hatte ich Bo damit verletzt. Gus war immerhin ihr Mann. Sie hatte zwar behauptet, außer mir noch nie jemanden richtig geliebt zu haben, selbst ihn nicht, und dass sie ihn nur geheiratet hätte, weil sie unbedingt ein Haus und Kinder wollte und es deshalb okay für sie gewesen wäre, einmal pro Woche mit ihm zu vögeln. Trotzdem hätte ich es mir verkneifen können, über ihn herzuziehen. Das machte es auch nicht leichter für sie.
Aber vielleicht hatte Gus etwas getan, um sie daran zu hindern, ihre Nachrichten zu beantworten. Vielleicht hatte er ihr E-Mail-Konto gelöscht.
Während der Bus sich durch den dichten Verkehr schob, holte ich Notizbuch und Kuli aus meiner Tasche hervor und kritzelte rasch eine Nachricht.
B, ich weiß nicht, ob du meine E-Mails erhalten hast. Ich komme am Mittwoch den 9. September um 14 h in Oxenholme an. Bitte hol mich am Bahnsteig ab. Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen. Ax.
Der Bus hielt in Jakes Straße. Als ich ausstieg, wurde mir auf einmal ganz wehmütig ums Herz, als spazierte ich in mein altes Leben zurück, ein einfacheres Leben, das zwar weniger erfüllend, aber unbeschwerter gewesen war.
Plötzlich war mir, als hätte ich meine Jugend verloren.
Ich hämmerte gegen Jakes Tür. Er ließ mich herein und nahm mir den Fernseher ab.
»Danke«, sagte er. »Bist du sicher, dass du ihn nicht behalten willst?«
»Ja. Ich benutze ihn sowieso nie. Und da, wo ich hinziehe, gibt es keinen Platz dafür.«
Ich setzte mich aufs Sofa. Jake nahm mir gegenüber Platz. Auf dem Beistelltisch zwischen uns herrschte das übliche Chaos: leere Tassen, Zigarettenpapier, Tabak, überquellende Aschenbecher und Take-away-Schachteln.
»Wo ziehst denn hin?«, fragte Jake, ohne mich anzuschauen.
»Nach Grasmere.«
»Nie gehört. Was soll das sein?«
»Ein Dorf im Lake District.«
»Lebt diese Frau dort?«
Ich nickte.
»Ich hatte geahnt, dass das passieren würde«, sagte Jake.
»Echt?«
Jake nickte. »Ja. Du scheinst gerade eine lesbische Phase durchzumachen. Frauen törnen dich an. Vor allem intellektuelle Frauen. Diese Shakespeare-Dozentin …«
Ich ging nicht darauf ein, sondern wechselte das Thema. »Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass …«
»… du mir nicht gesagt hast, dass du bei mir ausgezogen bist?«
»Ja.«
»Schon gut. Ich bin wohl ohnehin der geborene Single. Und außerdem war es ja auch nicht besonders nett von mir, einfach abzuhauen.«
»Vergiss es«, winkte ich ab.
Jake drehte sich eine Zigarette und reichte mir die Tabakpackung.
»Dann bist du jetzt also wirklich unter die Lesben gegangen?«
Ich lachte. »Keine Ahnung. Sieht jedenfalls so aus.«
»Aber sie ist doch verheiratet, oder?«
»Ja, und Kinder hat sie auch.«
Jake stieß einen leisen Pfiff aus. »Auch das noch.«
»Tja.«
»Und du ziehst jetzt bei ihr ein?«
»Nein. Ihr Mann ist ja noch da. Nein, ich hab ’ne Wohnung im Dorf gefunden. Dann können wir uns wenigstens sehen, während sie in Ruhe überlegt, was sie als Nächstes macht.«
Jake zog an seiner Selbstgedrehten. »Wow. Alice, die lesbische Ehezerstörerin. Wer hätte das gedacht.«
»Halt die Klappe.«
»Aber es stimmt doch.«
»So einfach ist das nicht.«
»Das ist dann wohl die große Liebe, was?«
»Ja.«
»Es muss ihr wirklich ernst sein, wenn sie es so weit hat kommen lassen.«
»Ja. Jedenfalls dachte ich das. Sie hat das Ganze schließlich vorgeschlagen. Aber seit ein paar Tagen herrscht Funkstille. Genauer gesagt habe ich schon seit einer Woche nichts mehr von ihr gehört.«
»Im Ernst?«
»Langsam werde ich echt sauer.«
Jake warf mir einen kurzen Blick zu. »Und du bist wirklich absolut sicher, dass das Ganze kein Missverständnis ist?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja … Bist du wirklich sicher, dass sie dasselbe für dich empfindet?«
Plötzlich geriet ich ins Wanken. War ich mir wirklich sicher? Ja, sagte mein Bauchgefühl. Aber in meinem Kopf herrschte Chaos.
»Sie liebt mich, das weiß ich«, sagte ich.
»Dann mach dir keine Sorgen. Es gibt bestimmt einen Grund dafür, dass sie sich nicht meldet.«
»Glaubst du wirklich?«
»Du etwa nicht?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich kapiere nicht, warum sie ausgerechnet jetzt nichts von sich hören lässt. Das Ganze ist ein Riesenschritt für mich – ich ziehe weit weg, an den Arsch der Welt, wo ich niemanden kenne, und gebe meinen Job und meine Wohnung für jemanden auf, der verheiratet ist. Gerade jetzt wäre es verdammt hilfreich, wenn sie mir das Gefühl vermitteln würde, dass ich nicht komplett verrückt bin.«
Jake schaute mich nachdenklich an. Dann sagte er: »Kein Mensch würde dich dazu bringen, diesen Schritt zu wagen, wenn es ihm nicht wirklich ernst mit dir wäre. Mach dir keine Sorgen.«
»Danke«, sagte ich. Meine Befürchtungen in Bezug auf Gus behielt ich lieber für mich.
»Und wenn es nicht funktioniert, kommst du einfach wieder zurück«, fügte Jake hinzu.
»Ich bin pleite, Jake. Ich hab mein ganzes Geld da reingesteckt.«
»Du könntest wieder hier einziehen«, sagte Jake. »Im Ernst, wenn sie wirklich kalte Füße bekommt, kannst du eine Weile hier bei mir wohnen. Du müsstest zwar auf dem Boden schlafen, aber du bräuchtest zumindest keine Miete zu zahlen.«
Ich lächelte. »Danke, Jake. Die Sache hat mich in den letzten Tagen echt fertiggemacht. Ich frage mich andauernd, ob ich mir das alles nur eingebildet habe. Vielleicht bin ich ja verrückt.«
»Also, auf mich wirkst du überhaupt nicht verrückt, sondern völlig klar im Kopf. Willst du einen Kaffee?«
»Gern«, sagte ich. Während er Kaffee kochte, dachte ich über seine Worte nach. Inzwischen bekam ich immer mehr das Gefühl, dass Bo vielleicht einen Rückzieher gemacht hatte, aber zu feige war, es mir zu sagen. Und nun saß ich hier, auf dem Sprung nach Grasmere, und war völlig pleite. Aber ich konnte es mir noch anders überlegen, ohne obdachlos zu werden. Jake hatte mir eine Rettungsleine zugeworfen.
Doch ich wollte es mir nicht anders überlegen. Bo würde mich bestimmt am Bahnhof abholen, und dann würden wir über alles reden. Und falls sie kalte Füße bekommen hatte, würde ich mich verständnisvoll zeigen und meinen unwiderstehlichen Charme spielen lassen, um sie zurückzuerobern.
Ich würde ihre Angst mit meiner Liebe besiegen.