BEGEGNUNG
Bo
In den Bergen war es noch dunkel. Der Frost wütete, und eisiger Wind peitschte über die Gipfel. Dort oben herrschte noch Winter, doch unten im Tal hielt der milde Frühling schon Einzug. Die Sonne tauchte das Dorf ins Licht, ließ an den Bäumen das erste Grün sprießen und brachte den stillen See zum Leuchten. Die Jahreszeiten lieferten sich immer einen Wettstreit in diesem entlegenen Winkel der Erde.
Meine liebste Zeit des Tages war die Wanderung zurück zu unserem Haus in den Bergen, nachdem ich die Mädchen zur Schule gebracht hatte. Unser Haus lag zwei Meilen vom Dorf entfernt, doch als wir hierhergezogen waren, hatte ich darauf bestanden, dass unsere Töchter bei jedem Wetter zu Fuß zur Schule gingen. Darin lag schließlich der Sinn einer Kindheit im Lake District, jedenfalls in meiner Vorstellung: den langsamen Wechsel der Jahreszeiten mitzuerleben, die klare Luft zu atmen, dem Plätschern des Gebirgsbachs zu lauschen und durch die Natur zu toben, bis sie einem die Schuhe abgewetzt hatte.
Zu meiner Überraschung hatten die Mädchen damals kaum Widerstand geleistet. In Oxford hatten sie sich immer geweigert, zu Fuß zu gehen. Kälte, Glatteis und die morgendliche Dunkelheit waren vor allem Maggie ein Gräuel gewesen, ganz zu schweigen von den Autos, die im Regen an ihr vorbeirasten und sie nass spritzten. Aber in den Bergen hatten sie entdeckt, wie viel Spaß es machen konnte, zu Fuß zu gehen. Wir waren im September umgezogen, pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahrs. Zwei Jahre war das inzwischen her. Die Mädchen waren richtig fasziniert davon, wie das Laub langsam bunter und das Licht immer herbstlicher wurde. Sie liebten es, in den Morgennebel hinauszustürmen und zuzuschauen, wie der Dunst sich auflöste und den Blick auf die goldrot leuchtenden Berge freigab. Und ihre Taschen füllten sie eifrig mit Kastanien und Tannenzapfen, um ein Bett für den Igel zu bauen, den sie den Winter über bei sich aufnehmen wollten.
Wenn ich meinen Töchtern dabei zuschaute, erfüllte mich eine tiefe Zufriedenheit. Ich vertrat schon seit Langem die Theorie, dass der Mensch Heimweh nach draußen hatte (Gus spottete natürlich, wie hippiemäßig das klänge, aber das kümmerte mich nicht). Dieser seltsame Drang, den Elementen zu entfliehen und sich in Häusern, Autos und Büros zu verschanzen im Glauben, sich so vor Wind, Regen und krebserregenden Sonnenstrahlen schützen zu können – er machte die Leute krank. Dabei gab es ein ganz simples Heilmittel: Nach draußen gehen. Spazieren gehen. Atmen. Leben.
Der Umzug in den Lake District war hauptsächlich aufgrund meiner Arbeit erfolgt, aber er hatte uns allen gutgetan. Damals war ich mit einem Projekt über das triste Dasein von Frauen im Dunstkreis romantischer Dichter beschäftigt gewesen; Frauen, die sich aus freien Stücken für geniale, aber gestörte Männer aufgeopfert hatten.
»Ich muss dafür unbedingt nach Grasmere«, hatte ich verkündet.
Gus hatte einen Urlaub vorgeschlagen, doch das reichte mir nicht: »Ich werde mindestens ein Jahr dafür brauchen, vielleicht sogar zwei.«
»Wir können die Mädels unmöglich so lange aus ihrem gewohnten Umfeld reißen«, hatte Gus entgegnet. »Entweder wir ziehen dauerhaft um oder gar nicht.«
Auf diese Antwort hatte ich gewartet. Im Laufe der Jahre hatte ich die Fähigkeit perfektioniert, in Gus Wünsche aufkeimen zu lassen, die eigentlich meine eigenen waren, und ihre Verwirklichung dann in seine Hände zu legen. So hatte er stets das Gefühl, dass es unsere gemeinsame Idee war oder – noch besser – seine eigene.
Als wir umzogen, war Gus schon in Rente; zweiundzwanzig Jahre lagen zwischen uns. Ich hatte mir gedacht – und er war der gleichen Ansicht gewesen –, dass er nun für ein ruhigeres Leben auf dem Land bereit war, fern von Abgasen, der grauen Themse und einkaufswütigen Menschenmassen.
»Im Lake District ist aber auch viel los«, hatte Gus gesagt. »Da fallen ständig Touristen ein, selbst im Januar.«
Das stimmte jedoch nur teilweise. Richtig war, dass die Touristen sich in den Tälern, an den Seen und in den Ortschaften tummelten; sie schleppten ihre Kinder zum Peter-Rabbit-Abenteuerpark, ruderten über den Windermere und taten sich anschließend an Cream Tea gütlich. Sie brachten den obligatorischen Besuch im Dove Cottage hinter sich, der ihnen wieder ins Gedächtnis rief, warum sie Wordsworth in ihrer Schulzeit gehasst hatten. Doch nur die wenigsten Touristen kamen in die Berge. Kaum einer erlebte, wie der Helvellyn im Schnee verstummte; kaum einer wusste, wo das Gestein dunkel schimmernde Bergseen preisgab. Und deshalb kam fast nie eine Menschenseele zu unserem Haus.
Als der Gebirgspfad einen Schlenker machte, sah ich unser Cottage: gekalkte Wände, Schieferdach und ein Spalier mit Rosenzweigen, die in der Brise sanft gegen das Gitter schlugen – kein Vergleich zu dem dreistöckigen Stadthaus, das wir in Oxford bewohnt hatten.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Ich ging durch den alten geziegelten Flur, der zur Küche führte. Gus saß im Schaukelstuhl am Kaminofen und las die Westmorland Gazette, die vermutlich die üblichen Meldungen über gestohlene Schafe, einen Aufruf zur Rettung des Postamts und eine Mitteilung über die Sperrung eines bröckelnden Fußwegs in Buttermere enthielt. Überregionale Nachrichten interessierten Gus nicht mehr. Seiner Ansicht nach gab es nur einen einzigen Weg, mit dem allgemeinen Weltgeschehen (dem Klimawandel, der Flüchtlingskrise und dem Terrorregime der Tories) klarzukommen: indem man es geflissentlich ignorierte. Früher war er nicht so gewesen. Als er noch zwischen Oxford und Paddington hin- und herpendelte, las er täglich den Guardian, und jeden Abend um sieben schaute er die Nachrichten und dann noch mal um zehn die Spätnachrichten, um sich auf dem Laufenden zu halten. Aber diese Zeiten waren vorbei. Stattdessen verfiel er immer häufiger in missmutige Grübeleien, sodass ich lieber einen Bogen um ihn machte.
Als ich hereinkam, blickte er nicht auf. Im Laufe der Jahre hatte es sich irgendwie so ergeben, dass wir kaum noch miteinander sprachen. Wir machten uns nicht mehr die Mühe, einander zu begrüßen oder uns zu erkundigen, wie es dem anderen ging. Wir waren einander zu Möbelstücken geworden: für die Bequemlichkeit zwar unverzichtbar, doch ansonsten Teile der Umgebung, die nur dann bemerkt wurden, wenn Besuch kam.
Doch es störte mich nicht, im Gegenteil; es gefiel mir sogar. Jeder lebte sein eigenes Leben, und trotzdem waren wir einander kameradschaftlich verbunden. Wir waren schon so lange zusammen, dass wir uns ein Leben ohne den anderen kaum noch vorstellen konnten. Und abgesehen davon fehlte mir die Energie, mich darüber aufzuregen. Die Mädchen waren wichtiger. Sie forderten all meine Aufmerksamkeit. Schon als sie noch ganz klein und schlaflose Nächte die Regel waren, hatte ich begriffen, wie schnell diese Zeit vorbei sein würde. Also gab ich ihnen alles, was ich geben konnte. Selbst wenn ich mich danach sehnte, mehr Zeit für meine Arbeit zu haben – einen Tag, nur einen einzigen Tag! –, war mir immer klar, dass es in meinem Leben nie wieder etwas geben würde, was so wichtig war wie meine beiden Töchter. Sie brachten mich pausenlos an meine Grenzen, doch ich liebte sie über alles.
Ich löffelte Kaffee in die Espressomaschine und stellte sie auf den Herd, dann schäumte ich Milch im Aeroccino auf. (Als Gus seine Umweltkrise hatte, durfte ich keine bunten Kapseln mehr benutzen. Meinen Einwand, dass sie recycelbar waren, ließ er nicht gelten; das sei von Nestlé erfundener Unsinn; natürlich wurden sie nicht wiederverwertet, sondern landeten auf der Müllkippe. Mein Mann hatte hehre Prinzipien, die es allerdings nicht gerade leicht machten, mit ihm zusammenzuleben.)
Der Duft frisch gebrühten Kaffees vermischte sich mit dem Geruch aus der Brotmaschine. Es störte mich nicht, dass ich das Klischee einer Spießerin verkörperte; ich liebte diesen Geruch. Er passte perfekt zu meinem Haus: warm und heimelig, ein Ort, an den man immer wieder gern zurückkehrte.
Ich trug den Kaffee in mein Arbeitszimmer – ein kleiner Raum, der von der Küche abging und in früheren Zeiten als Stube gedient hatte – und setzte mich an meinen Schreibtisch. Er war mit Stapeln bedeckt: Ein Stapel bestand aus meinem Manuskript, ein anderer aus Büchern über die Frauen im Leben von Samuel Taylor Coleridge und ein weiterer aus Bewerbungen von aufstrebenden Autorinnen und Autoren, die hofften, einen Platz in dem Kurs zu ergattern, den ich im folgenden Monat halten sollte. Der Anblick der Bewerbungen war deprimierend. Aus über hundert Kandidatinnen und Kandidaten musste ich sechs auswählen, und das erforderte weitere Stapel: nein, vielleicht, ja. Der Nein-Stapel war besonders betrüblich, weil er naturgemäß viel höher war als der Ja-Stapel. Doch der Ja-Stapel gab Anlass zur Hoffnung, denn in ihm verbarg sich vielleicht ein vielversprechendes Talent, das ich unter meine Fittiche nehmen konnte. Ich sehnte mich regelrecht danach.
Als ich vier Bewerbungen – drei Nein und ein Vielleicht – geprüft hatte, wurde ich unterbrochen. Zu meinen größten Schwächen zählte, dass ich nicht imstande war, das Klingeln des Telefons oder das »Ping« einer ankommenden E-Mail oder Facebook-Benachrichtigung zu ignorieren. Das raubte mir enorm viel Zeit. Ohne diese Ablenkungen hätte ich sicher schon mehr Bücher veröffentlicht.
Meine Mutter war dran. Diesmal klang sie vorwurfsvoll: Sie habe seit Monaten nichts von mir gehört; sie sei fünfundsiebzig und brauche Hilfe beim Einkaufen; sie habe seit acht Tagen mit keiner Menschenseele mehr gesprochen, nur mit dem Postboten, der es allerdings extrem eilig hatte; sie fühle sich krank; sie sei einsam; sie habe nachts Angst in ihrem Wohnwagen, zu dem jeder sich Zutritt verschaffen konnte; sie fühle sich regelrecht im Stich gelassen, seit ich mit den Kindern so weit in den Norden gezogen sei.
Ich hörte gar nicht hin. Meine Bekannten hatten ganz ähnliche Probleme mit ihren Eltern. Sie meinten, es läge am Alter, da würden die Leute eben schwierig. Aber meine Mutter war schon immer so gewesen; ständig verlangte sie, dass sich alles nur um sie drehte, dass alle sich um sie kümmerten. Und wenn sie das nicht taten, liebten sie sie nicht genug.
Irgendwann sagte ich: »Im Sommer kommen wir dich wieder besuchen.«
Doch meine Mutter jammerte weiter. Ich blendete sie aus, hielt den Hörer ein Stück weg und rief mir ins Gedächtnis, dass es mir bisher recht gut gelungen war, nicht so wie sie zu werden und den Wahnsinn früherer Generationen nicht an meine eigenen Kinder weiterzugeben. Ich war anders als sie. Ich machte alles wieder gut.
Dann war das Telefonat zu Ende. Ich war nicht auf den Anruf vorbereitet gewesen und saß eine Weile wie erschlagen da. Die alte Wut flammte zwar nicht wieder auf, das war lange vorbei. Aber dem schlechten Gewissen darüber, dass mir meine alternde, jammernde Mutter scheißegal war, konnte ich trotzdem nicht ganz entrinnen.
Schließlich wandte ich mich wieder dem Bewerbungsstapel zu. Es waren die üblichen vorhersagbaren Geschichten über Autounfälle, Morde, Drogenrazzien und Homosexuelle, die ihr Coming-out hatten, bevor sie dazu bereit waren, und sich dann das Leben nahmen. Immer wieder derselbe Mist, es war wirklich unglaublich.
Doch dann stieß ich auf eine Geschichte mit dem Titel Letzte Worte, die mich dermaßen fesselte, dass ich sie bis zum Schluss las.
Die Japaner verbrennen ihre Toten immer. Danach werden die Knochen aus dem Ofen geholt und von den Familienangehörigen mit Essstäbchen aufgehoben. Jeder greift sich einen Knochen, legt ihn in ein Glas, nimmt ihn mit nach Hause und begräbt ihn dort. Dieses seltsame Ritual hat etwas Dämonisches, zumindest für meinen Geschmack. Das muss an den Essstäbchen liegen. Da bleiben Gedanken an Kannibalismus nicht aus. Mir wird jedenfalls übel bei der Vorstellung, die Knochen meiner Mutter mit Messer und Gabel aufzuheben. Aber ihr würde die subtile Symbolik sicher gefallen. Schließlich habe ich ihr ja seit dem Tag meiner Geburt gierig das Mark aus den Knochen gesogen.
Meine Mutter liegt im Sterben. Sie hat Krebs, was sonst, und keinen Lebenswillen mehr. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich sechzehn war. Damals machte sie sich aus dem Staub, um Ehemann vier (den Psychopathen) zu heiraten und mich Ehemann drei (dem Säufer) sowie Ehemann eins (dem Vater) zu überlassen, den ich ab und zu am Wochenende besuchte. Ehemann zwei (der Gute) war bei einem Verkehrsunfall gestorben, als ich sechs war.
Meine Familie ist die perfekte Besetzung für eine Tragödie, oder besser gesagt, sie wäre es, wenn der Mangel an hehren Gefühlen uns nicht alle auf Seifenopernniveau hätte sinken lassen. Scheidungen sind unsere Familiendisziplin, und meine Mutter ist die amtierende Meisterin, wobei ihr Rekord natürlich wie alle anderen auch jederzeit gebrochen werden kann.
Ich werde ihr den Titel allerdings nicht streitig machen, denn ich halte andere Menschen lieber auf Distanz.
Seit ich denken kann, verstecke ich mich vor meiner Mutter. Ich hatte schon sehr früh gelernt, mich unsichtbar zu machen. Ich blieb still und ertrug sie. Ihre Schläge waren nur Eis.
Alles in allem war es gut, dass sie ging. Als sie weg war, brauchte ich nicht mehr zu hoffen, dass sich unter der gewalttätigen Hexe eine gute Fee im Blümchenkleid verbarg, die nach Weichspüler duftete. Alle sagten, dass sie es bereuen würde. Oft stellte ich mir vor, wie sie allein in ihrer Villa saß und blutige Tränen vergoss.
Vor drei Jahren entdeckte ich sie dann auf Facebook. Emma Butterworth. Immer noch sein Nachname, aber das hieß ja nicht, dass es gehalten hatte. Ich klickte regelmäßig auf ihr Profil, schickte ihr aber keine Freundschaftsanfrage. Aus der Distanz bekam ich mit, dass sie ab und zu ihr Profilfoto änderte. Irgendwann durchsuchte ich ihre Freundesliste nach Leuten, die ich kannte. Doch da war niemand. Meine Mutter hielt nicht lange Kontakt zu anderen Menschen.
Einmal lud sie ein Foto von uns beiden als Profilbild hoch, auf dem ich noch ein Baby war. Darauf betrachtete sie mich so hingebungsvoll wie Maria das Jesuskind. Dazu schrieb sie: »Ich vermisse sie.« Es folgten ein paar Kommentare: »Tut mir leid, dass du einen schlechten Tag hast, Emma.« »Sei nett zu dir selbst.« »Lass die Schuldgefühle los.« »Du hast dein Bestes getan.«
Eine Selbsthilfegruppe voller Unterstützerinnen. Danach klickte ich nie wieder auf ihr Profil, blockierte sie aber auch nicht.
So fanden sie mich schließlich. Eines Tages bekam ich eine Nachricht von einer gewissen Liz Elegant: »Liebe Alice. Deine Mutter hat mich gebeten, dich zu kontaktieren. Ich weiß, dass euer letzter Kontakt schon lange zurückliegt, aber Emma liegt im Krankenhaus und wird bald sterben. Bitte melde dich, wenn ich dir die Adresse des Krankenhauses geben soll.«
Drei Tage lang reagierte ich nicht, dann schickte ich eine Antwort.
Nun sitze ich hier im Wartebereich. Durch das Fenster sieht man über die Straße in den Park. Kleine, intakte Familien tummeln sich auf dem Spielplatz in der Sonne. Ich schaue zu ihnen hinaus. Dann schaue ich wieder weg. Früher habe ich oft davon geträumt, eine eigene Familie zu haben, aber damals wusste ich noch nicht, wie mühsam der Weg dorthin war. Ich habe immer gedacht, es würde einfach passieren, weil ich es verdiente. Ich hatte schon genug mitgemacht, genug Zerrüttung erlebt. Eines Tages käme sicher jemand angeritten und entführte mich in eine herrliche Zukunft. Reichte mir den goldenen Apfel der Liebe.
Stattdessen legte ich mich für sie auf den Boden. Ich zog mir die Haut ab und ließ sie mit genagelten Stiefelsohlen auf meinem Fleisch tanzen. Mein Blut gibt ihnen literweise Kraft, noch heute.
Inzwischen habe ich es verstanden. Die Welt kann gut auf meine Gene verzichten.
Die Tür zu ihrem Zimmer ist zu, seit ich hier bin. Eigentlich habe ich keinen Grund zu warten. Ich brauche nur Zeit, um mich zu sammeln.
Ich gehe über den Flur, klopfe leise an ihre Tür, dann gehe ich hinein.
»Emma«, sage ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie sieht elend aus.
Langsam dreht sie den Kopf. Sie sieht mich lange an. Ich setze mich auf den Stuhl neben ihrem Bett.
»Alice«, sagt sie.
Ich sage nichts.
Sie greift nach meiner Hand. Ich lasse zu, dass sie sie mit ihren Knochen umklammert.
»Danke«, flüstert sie, die Stimme rau wie Sandpapier.
Ich schweige.
»Mach es wieder gut«, sagt sie und umklammert meine Hand noch fester. »Vergib mir und mach es wieder gut.«
Der goldene Apfel der Liebe. Ich ziehe meine Hand weg. Schweiß glitzert auf meiner Handfläche, wie Gift.
Ich legte die Geschichte beiseite. Der Text war autobiografisch, zweifellos. Normalerweise verschwendete ich meine Zeit nicht mit solchen Texten, aber in diesem Fall konnte ich eine Ausnahme machen. Die Autorin war jung und unerfahren, sie hatte noch kein Thema finden können, das über ihre Mutter hinausging. Und sie litt. Ihre Worte klangen brutal, und ihre Sprache war überaus kontrolliert, doch darunter spürte ich ihre Verletzlichkeit: die unendlich große, aber unerfüllt bleibende Sehnsucht nach der Liebe der Mutter.
Ich schaltete meinen Laptop ein und schrieb eine E-Mail an die Leiterin des Bildungszentrums auf dem Landsitz, wo der Kurs stattfinden sollte.
Betreff: Auswahl der Kursteilnehmer, Schreibwerkstatt für Fortgeschrittene mit Bo Luxton
Dann gab ich den ersten Namen ein und markierte ihn als Hinweis, dass die Studentin meiner Ansicht nach ein Stipendium verdiente.
Alice Dark.