Es war Sonntag. Gus und die Mädchen schliefen noch. Ich begann den Tag mit einer Kanne Kaffee. Ich hatte die ganze Nacht wach gelegen, hatte ständig an die Arbeit und an Alice denken müssen. Was die Arbeit anging, gab es eigentlich keinen Grund zur Sorge. Mein siebter Roman, Die Schwester des Dichters, war im April herausgekommen, und die davor erschienenen Bücher verkauften sich weiterhin gut. Mein neuestes Werk fand allerdings nicht ganz so viel Anklang wie seine Vorgänger, weshalb ich allmählich das Gefühl bekam, auf dem absteigenden Ast zu sein. Niemand sagte etwas in dieser Richtung, meine Agentin schon gar nicht, aber es lag auf der Hand. Jüngere, aufregendere Talente stürmten die Bestsellerlisten, und wenn ich nicht aufpasste, würde ich bald in Vergessenheit geraten.
Ich hatte viele Ideen, doch mir fehlte die Konzentration, sie weiterzuentwickeln. Ich musste ständig an Alice denken, sie ging mir einfach nicht aus dem Kopf.
Ich musste sie aus meinen Gedanken verbannen.
Doch eigentlich wollte ich das gar nicht. Es gefiel mir, an sie zu denken.
Alice tat mir gut. Sie inspirierte mich durch ihre Jugend. Sie besaß eine Lebendigkeit und Freiheit, die mir abhandengekommen waren. Ich steckte im Alltagstrott fest, doch durch Alice konnte ich die Welt wieder neu entdecken. Und wenn es mir gelänge, diese frische Energie mit der Weisheit der Erfahrung zu verbinden, gäbe mir das den ersehnten Kreativitätsschub.
Alice erinnerte mich daran, wie es war, jung zu sein. Ihre E-Mails brachten mich dazu, so ausgelassen zu lachen, dass ich für einen Moment das Gefühl hatte, wieder fünfundzwanzig zu sein. Es war herrlich. Ich wurde regelrecht süchtig danach. Ich wollte mehr davon.
Der Grund, warum ich ständig an sie denken musste, lag sicher in der Sehnsucht danach, wieder jung zu sein, ein sorgloses Leben zu führen, die ganze Nacht durchmachen und anschließend ausschlafen zu können, ohne sich um andere kümmern zu müssen.
Das war alles. Und diese Sehnsucht war stark; ich verzehrte mich geradezu nach der Frau, die ich einmal gewesen war. Aber das änderte nichts daran, dass ich tags zuvor stundenlang am Computer gesessen hatte, um Alice E-Mails zu schicken und von Liebe zu schreiben.
Ich nahm einen großen Schluck Kaffee, dann setzte ich mich an den Küchentisch und schminkte mich. Mein Make-up bewahrte ich in einem Täschchen auf dem Kühlschrank auf. Meistens legte ich nur Mascara und Lippenstift auf; das reichte, damit ich nicht verhärmt aussah und unsichtbar wurde. Als Alice zu Besuch gewesen war, hatte sie davon gesprochen, dass die Persönlichkeit eines Menschen in seinem Gesicht zum Ausdruck kam. Ich betrachtete mich im Spiegel. Was mein Gesicht der Welt wohl über mich verriet?
Christian hatte einmal gesagt, ich habe die Ausstrahlung einer schönen, kreativen Frau, die von einem dominanten Mann unterdrückt werde. Das war gar nicht so abwegig.
Ich legte den Spiegel und das Make-up wieder weg und ging in mein Arbeitszimmer, fest entschlossen, mich diesmal nicht von Facebook und E-Mails ablenken zu lassen. Meine Sehnsucht, von Alice zu hören, sollte mich nicht von der Arbeit abhalten. Ich wollte einfach nur schreiben, schreiben, schreiben. Egal, was. Ich wollte genau das tun, was ich Anfängern immer beibrachte: »Denken Sie nicht darüber nach, was Sie schreiben, sondern lernen Sie, das Schreiben an sich zu genießen, und warten Sie ab, was passiert.«
Also machte ich mich ans Werk. Mir kamen zwar nur flüchtige Ideen, doch ich schrieb wacker einen Absatz nach dem anderen, ohne innezuhalten. Ich kam in Fluss, so wie früher.
Um nicht abgelenkt zu werden, schloss ich die Tür ab.
Ich beschrieb eine Frau, die seitlings auf dem Bett lag: die weiße Kurve ihrer Brüste, die Wölbung ihres Bauches, das dunkle Haar zwischen ihren Beinen, das unter dem dünnen weißen Slip durchschimmerte.
Das Bild dieser schönen, entrückten, unnahbaren Frau verschlug mir den Atem. Diese Frau war Alice. Ich schrieb weiter. Eine weitere Frau erschien. Sie küsste Alice, liebkoste sie …
Ich zwang mich, aufzuhören. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Ich begehrte Alice. Eine Frau. Ich wollte sie bei mir haben, wollte, dass sie bei mir lag. Alice. Die wunderschöne Alice.
Ich war allein im Haus, mein Arbeitszimmer war abgeschlossen. Ich legte mich auf den Boden und ließ meinen Gedanken an Alice freien Lauf. Ich träumte von Leidenschaft und Ekstase. Ich stellte mir Alice vor, wie sie nackt auf dem Bett lag, so wie in meiner Beschreibung. Mein Atem ging schneller. Ich ließ die Hand unter meine Kleidung wandern, streichelte mich, erst sanft, dann immer fester, bis meine Finger nach unten glitten und in mich eindrangen. Und dabei malte ich mir aus, dass es Alice war, die mich berührte, sich eng an mich schmiegte und mich küsste. Und ich stöhnte und seufzte und dachte: Ach, wenn es doch nur wahr sein könnte.
Ich musste es mir endlich eingestehen. Alice ging mir deshalb nicht aus dem Kopf, weil ich sie liebte. Sie begehrte.
Doch das war vollkommen lächerlich. Ich war schließlich verheiratet. Abgesehen davon war Alice fünfzehn Jahre jünger als ich. Es war so verrückt, dass ich auflachte. Zwar hieß es immer, dass Liebe nicht auf Vernunft hörte, aber das war nun wirklich zu viel des Guten.
Nachdem ich die Mädels ins Bett gebracht und mir rasch einen Topf Nudeln gekocht hatte – Gus und ich aßen kaum noch zusammen –, sah ich nach meinen E-Mails. Alice hatte mir zwei Nachrichten geschickt, am Vormittag und am frühen Abend. In der ersten erzählte sie fröhlich, dass es mit dem Schreiben gut laufe und dass sie auf der Suche nach einer besseren Wohnung sei. Die zweite war nur kurz. »Du hast dich heute gar nicht gemeldet. Alles okay bei dir? Lass kurz von dir hören, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche. xxx«
Was sollte ich ihr antworten? »Ich habe mich deshalb nicht gemeldet, weil ich masturbierend im Arbeitszimmer lag und mir dabei vorstellte, dass du dich nackt und schwitzend an mich presst. Und diese Vorstellung war so fantastisch, dass du unbedingt herkommen und sie wahr machen musst.«
Stattdessen schrieb ich: »Hallo Alice. Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde. Als ich heute Morgen aufwachte, ist mir klar geworden, dass ich eine Pause brauche. Ehrlich gesagt, habe ich die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil ich ständig dachte: ›Ich muss Alice bitten, mir eine Weile keine E-Mails mehr zu schicken, damit ich den Kopf wieder freikriege.‹ Wäre das okay? Ich muss unbedingt mein Buch weiterschreiben. In letzter Zeit habe ich mich viel zu sehr ablenken lassen, aber das kann so nicht weitergehen …«
Ich drückte auf »Senden«. Die Antwort kam fast sofort: »Liebste Bo. Das braucht dir nicht leidzutun. Ich habe vollstes Verständnis dafür. Ich liebe dich im Stillen, aus der Ferne, bis in alle Ewigkeit.«
Dann kam noch eine Mail hinterher: »Sorry, wollte keinen auf Brontë machen. Ja, arbeite weiter an deinem Buch. Bis demnächst. A.«
Oh, Gott, dachte ich. Das darf nicht wahr sein. Ich bin in Alice verliebt und sie offensichtlich auch in mich.
Ich hätte jauchzen können vor Freude.
Doch es war unmöglich. Diese Liebe durfte nicht sein. Niemals. Wenn das nicht romantisch war … Es zerriss mir das Herz.