Ich zwang mich, weiter an meinem Buch zu schreiben. Alice hatte mir sicher keine E-Mail geschickt, es hatte keinen Sinn, nachzuschauen. Meine Geschichte nahm allmählich Gestalt an. Im Mittelpunkt stand ein Paar, das durch eine Umweltkatastrophe voneinander getrennt worden war; die Jahre vergingen, der Mann galt als tot, die Frau machte sich allmählich von ihm frei …
Ich seufzte. Alles war so hoffnungslos.
Diese Liebe hatte keine Chance. Und Alice auch nicht. Sie war so naiv, so offen und zerbrechlich, das konnte nicht mehr lange gut gehen. Schon bald würde sie lernen, andere zu täuschen und sich hinter einer Maske zu verbergen. Das arglose Mädchen würde sich in eine mit allen Wassern gewaschene Frau verwandeln.
Noch nie hatte ich jemanden wie Alice getroffen. Sie war unglaublich sensibel, zugleich aber hatte sie einen wunderbaren Humor. Sie schaffte es, mich die Hölle ihrer Kindheit spüren zu lassen und mich kurz darauf zum Lachen zu bringen.
»Du bist wunderbar«, sagte ich dann. »Einfach wunderbar.« Und ich meinte es auch so.
Ich begriff nicht, wie ihre Mutter es geschafft hatte, sie so schlecht zu behandeln. Der Gedanke daran machte mich wütend. Aber Wut war zwecklos. Ihre Mutter war tot, und ich konnte nur den Scherbenhaufen einsammeln, den sie hinterlassen hatte.
Ich stand auf und ging in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen.
Gus blickte von seinem Stammplatz im Schaukelstuhl auf. »Und, wie geht es deiner jungen Freundin heute?«, fragte er leicht verächtlich, wie immer, wenn er über Menschen sprach, die sich für mich und für meine Arbeit interessierten, mit ihm jedoch nichts zu tun hatten.
»Gut«, sagte ich.
»Und wie viele E-Mails hat sie dir heute schon geschickt? Fünfzig?«
Er war also an meinem Computer gewesen und hatte mir hinterherspioniert, aus Eifersucht. Wie üblich.
»Drei«, antwortete ich.
»Genauso hat es damals mit Christian angefangen.«
»Christian war ein Ausrutscher. Er war labil. Und gefährlich. Und jetzt ist er tot.«
Zum ersten Mal, seit es passiert war, hatte ich es laut ausgesprochen. Ich war überrascht, wie unbeteiligt ich klang. Dabei schickte seine Mutter mir noch immer empörte Briefe.
Gus schwieg und widmete sich wieder seiner Zeitung.
Ich warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen, nur um zu sehen, ob er überhaupt noch in der Lage war, zu reagieren und sich aus seinem verdammten Schaukelstuhl zu erheben.
Mir kam der Gedanke, wie es wäre, wenn Alice an seiner Stelle dort säße. Nein – Alice würde ihre Tage niemals in einem Schaukelstuhl verbringen, selbst mit neunzig nicht (und Gus war erst Anfang sechzig). Sie würde auch mit neunzig noch Make-up und tolle Klamotten tragen, um die Häuser ziehen und unwiderstehlich sexy sein. Nie im Leben würde sie ihre Zeit damit verplempern, Lokalnachrichten über Schafe zu lesen.
Es war schon fast Mittag. Noch fünf Stunden, bis ich meine E-Mails checken durfte. Fünf Stunden. Das war unsere Abmachung. Eine Nachricht pro Tag. Abends. Sonst würden wir beide zu nichts anderem mehr kommen.
Wir wollten vernünftig sein, auf dem Boden bleiben. Die Sache zwischen uns – was auch immer es war – hatte keine von uns bisher offen angesprochen, aber wir waren uns einig, dass wir einander zu sehr ablenkten und zu viel Zeit mit Nachrichtenschreiben verbrachten.
Ich hatte das Gefühl zu verhungern, und sie war die Nahrung. Jeden Tag musste ich mich stundenlang gedulden, während ich pausenlos an sie dachte. Ich verzehrte mich nach ihr, wollte sie bei mir haben, in meinem Haus, in meinem Bett.
Ich kämpfte nicht länger dagegen an. Es hatte mich überwältigt.
Was soll’s, dachte ich, ging wieder ins Arbeitszimmer und schaltete den Laptop ein. Nur für den Fall, dass Alice sich gemeldet hatte. Hätte ja sein können.
Nichts.
Ich kehrte zurück in die Küche. Gus hatte sich inzwischen dazu bequemt, aufzustehen, um sich sein Mittagessen zuzubereiten. Irgendwie war er mir ständig im Weg.
»Was machst du heute Nachmittag?«, fragte ich.
Er stach mit dem Messer in die Butter. »Ich muss mir Zugtickets besorgen. Dave hat angerufen. Er braucht Unterstützung bei einem Projekt in Manchester, und ich habe eingewilligt. Natürlich gegen Honorar.«
»Du fährst nach Manchester?«
Gus nickte. »Es ist leichter, wenn ich vor Ort bin. Ich werde drei Tage weg sein.«
»Und wann fährst du?«
»Nächsten Dienstag.«
Ich ging sofort zurück ins Arbeitszimmer.
Von: Bo@BoLuxton.co.uk
Gesendet am: 11. Juli 2015, 12:17
An: AlicetheEighth@gmail.com
Betreff: Nächste Woche
Gus fährt nächsten Dienstag für drei Tage weg.
Komm zu Besuch.
Bitte. Du fehlst mir.
Bxxx