2

Alice

Ich stieg an die Oberfläche des Schlafes empor, wo mich der übliche Kater erwartete. Resigniert blinzelte ich Richtung Uhr. 12:36. Noch ein Tag, der sich ohne mich ereignete.

Neben mir döste Jake. Der ungepflegte Klotz machte sich mal wieder viel zu breit auf der Matratze. Die Matratze war das Symbol unseres Scheiterns. Wir waren so unfähig, dass wir noch nicht mal ein richtiges Bett hatten. Wir waren hoffnungslose Fälle. Uns würde es nie gelingen, die knallharte Welt der Kunst zu erobern.

Ich stand auf und stieg über Aschenbecher, Tabakpackungen und die leeren Bierflaschen von gestern Abend hinweg, Richtung Bad. Von nebenan drangen die Geräusche von Chris und seiner Freundin zu mir, sie vögelten. Meine Güte, in diesem Haus waren wirklich alle arbeitslos. Sie ließen sich treiben, als hätten sie endlos Zeit, und alles, was sie taten, war schlafen, rauchen, saufen, ficken und darüber reden, wie berühmt sie eines Tages sein würden.

Dabei hatte mich anfangs genau das an Jake so fasziniert: Er verweigerte sich dem Mainstream, wollte sich auf keinen Fall anpassen. Als wir uns begegneten, erzählte er mir, er sei Maler. Das sei seine einzige Leidenschaft; er könne und wolle nichts anderes machen. Und er hatte sogar einen Weg gefunden, davon zu leben. Jeden Samstag schleppte er seine bunt gemusterten Triptychen zu den Lanes runter und wartete darauf, dass aufstrebende Karrieretypen aus London sie ihm abkauften. Das war Brighton in den Augen dieser Leute: ein Ort, wo man an jeder Straßenecke Originale von armen, unbekannten Künstlern kaufen konnte. Eines Tages, wenn einer von ihnen den Turner Prize einheimste, wäre das Bild ein Vermögen wert, und bei jeder Dinnerparty würden die Gäste den Käufer darum beneiden, dass er dieses Genie entdeckt hatte.

Natürlich war das alles Bullshit, und Jake wusste das auch. Seine hippen Bilder waren Müll. Er schmierte sie freitagabends auf die Leinwand, rauchte dabei Selbstgedrehte, kippte ein Dosenbier nach dem anderen und jammerte über den miesen Geschmack der Leute, die sich diesen Scheiß zu Hause an die Wand hängten, während seine anderen Sachen – die richtig guten, bei denen er sich total ins Zeug legte – keine Sau interessierten.

Bei unserer ersten Begegnung letzten Herbst hatte Jake gerade ein richtig gutes Bild vollendet. Er hatte vor, in den kommenden Monaten so viel zu malen, dass es für eine Ausstellung reichte; eine Galeristin hatte nämlich eines seiner Werke gesehen und war ganz begeistert, doch er musste ihr mehr Material liefern, damit sie ihn unter Vertrag nehmen konnte.

»Das klingt ja toll!«, hatte ich gesagt. »Das musst du unbedingt machen!«

Er hatte vor seinem Bier gehockt und mich schüchtern angegrinst. »Ja«, hatte er gesagt. »Unbedingt.«

Damals hatte ich gedacht, dass Jake genau der Richtige für mich war. Ein Mann, der dem Spießertum den Rücken gekehrt hatte und seinen eigenen Weg ging. Das wollte ich eigentlich auch. Ich war schon so lange in meinem Bürojob gefangen, dass ich Gefahr lief, in einem Strudel nichtssagender Word- und Excel-Dateien unterzugehen.

Ich wusste, wo ich landen würde, wenn ich so weitermachte: in der Sackgasse der Leere, in der endlosen Tretmühle der Langeweile, die alles aus einem heraussog, bis der Blick trüb wurde, der letzte Funken Verstand aus dem Gesicht wich und man sich jeden Tag den Feierabend herbeisehnte, um dann im Fernsehen zuzusehen, wie andere Leute sich bei dem verzweifelten Versuch, ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit zu entkommen, zum Affen machten: lieber in Erinnerung bleiben, weil man jemandem live auf Channel 4 einen geblasen hatte, als gar nicht bemerkt zu werden. Und mir war sonnenklar, dass ich zugrunde gehen würde, wenn es so weiterging. Diese Art von Leben war nichts für mich.

Die Uni hatte mich verdorben. Eigentlich war das Studium ja dazu gedacht gewesen, mich aufs Arbeitsleben vorzubereiten, aber ich hatte lieber drei relaxte Jahre an der York verbracht und getan, wonach mir der Sinn stand: ein Modul Shakespeare, ein Modul Romantik und nur so zum Spaß ein Modul namens Schreiben von Kurzgeschichten. Damals hatte ich noch nicht kapiert, dass ich spätestens mit zweiundzwanzig auf irgendeinem Gebiet ein Genie sein musste, weil ich ansonsten gezwungen sein würde, auf alles, was mir Spaß machte, zu verzichten (niemand wurde nur fürs Rumsitzen und Lesen bezahlt) und mich stattdessen mit einem Leben abzuplagen, das die Bezeichnung »Leben« überhaupt nicht verdiente.

Deshalb wurde es irgendwann schwierig für mich, bei den Dingen, die mir Spaß machten, am Ball zu bleiben. Die Energie sickerte aus mir heraus, bis keine mehr übrig war für das, was mir am Herzen lag. Meine Tutoren am College waren zwar von mir beeindruckt gewesen, aber leider gab es keine Stipendien für Leute wie mich, die lediglich Bestnoten und eine Leidenschaft fürs Schreiben vorweisen konnten. Es gab einfach zu viele von meiner Sorte. Für ein Stipendium wurde mehr verlangt, aber was genau, blieb unklar. Irgendetwas Undefinierbares, hieß es. Magie.

Doch Magie spielte dabei überhaupt keine Rolle. Nur für Leute, die selbst nicht schrieben, hatte Schreiben etwas Magisches. Aber für mich war Schreiben ein Handwerk, und man brauchte Zeit, um es zu lernen. Jedes Wort, das man hervorbrachte, war wie eine kleine Geburt. Das Schreiben fehlte mir.

Zwei Wochen nach meiner Begegnung mit Jake machte ich Nägel mit Köpfen und gab meinen Job auf. Ich kündigte nicht; ich wachte einfach eines Morgens auf und beschloss, nicht mehr hinzugehen. Dann schaltete ich mein Handy aus, setzte mich an meinen Tisch – eigentlich war es gar kein richtiger Tisch, nur eine große Kiste mit einer Zebrastreifendecke darüber – und schrieb drauflos. Drei Tage lang. Alles, was dabei herauskam, war eine wutentbrannte Tirade gegen meine Mutter, die aus achthundert Wörtern bestand. Doch immerhin, es war ein Anfang. Ich schickte mein Werk kurz entschlossen an die Stiftung für junge Autorinnen und Autoren, die Kurse für Nachwuchstalente auf diversen alten Landsitzen in Devon, Yorkshire, Derbyshire und Northumberland veranstaltete. Ich rechnete mir allerdings keine großen Chancen aus. Der Kurs, für den ich mich bewarb, war sehr begehrt: die Schreibwerkstatt für Fortgeschrittene. Man musste wirklich ziemlich gut sein, um einen Platz zu ergattern. Und das Ganze kostete auch noch 650 Pfund. Den Antrag für ein Stipendium schickte ich gleich mit.

Der Kurs sollte im Mai stattfinden. Inzwischen war Ende April, und ich hatte noch immer nichts gehört. Das konnte wohl nur heißen, dass es nicht geklappt hatte.

Ich stieg aus der Dusche, wickelte mir ein feuchtes, muffiges Handtuch um und ging zurück ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Jake schlief immer noch, also veranstaltete ich möglichst viel Lärm, um ihn aufzuwecken. Er hatte um Viertel nach eins einen Termin beim Arbeitsamt, und wenn er den versäumte, kassierte er einen Verweis und bekam kein Geld mehr. Dieser Zwanzig-Minuten-Termin, zu dem er alle zwei Wochen erscheinen musste, war seine einzige Verpflichtung – und trotzdem schaffte er es jedes Mal nur mit Ach und Krach, dort aufzuschlagen.

Jake war ein sogenannter Langzeitarbeitsloser. Einmal hatte ich ihn zum Amt begleitet. Als die Sachbearbeiterin Jakes Sozialversicherungsnummer in den Computer eingab, leuchtete auf dem Bildschirm ein roter Kasten auf: »Diese Person ist seit fünfzehn Jahren arbeitslos.« Ein Nichtsnutz. Ein Zeitverschwender, ein Geldverschwender. Einer, der sein Potenzial vergeudete. Aber ich fand, dass er Talent besaß, ein Talent jenseits der Norm, das Förderung verdiente.

Jake war inzwischen sechsunddreißig; ich war fünfundzwanzig. Seit wir zusammen waren, redeten wir immer wieder darüber, dass wir uns engagieren wollten: füreinander, für unsere Zukunft als Künstler, dafür, uns zusammen ein gutes Leben aufzubauen. Bislang hatte er sein Vorhaben, ein erfolgreicher Maler zu werden, allerdings nicht in die Tat umgesetzt. Er hatte noch immer nichts für eine Ausstellung, abgesehen von dem Bild, das kurz vor unserer Begegnung fertig geworden war.

Er rührte sich nicht, als ich geräuschvoll durchs Zimmer ging, Sachen von Kleiderbügeln nahm, Tassen voller Kaffeesatz einsammelte und meine Flasche mit Feuchtigkeitslotion gegen das Regal schepperte. Ich warf ihm einen angewiderten Blick zu. Jake war fleischgewordener städtischer Verfall: Er war mit Zigarettenasche und Tabakkrümeln bedeckt, stank nach Schmutz und Schweiß, und neben ihm auf dem Boden lagen eine Tüte Gras und drei ausgeschnittene Fotos von nackten Frauen, natürlich gephotoshoppt, die ihm als Wichsvorlage dienten, wenn ich keine Lust auf Sex hatte.

Ich ging runter in die Küche. Maria war gerade dabei, ein Arrangement aus Roter Bete und Koriander zu fotografieren. »Das ist für das neue vegetarische Restaurant in der Ship Street«, erklärte sie. »Wenn ich denen ein paar Arbeitsproben zeige, engagieren sie mich vielleicht als Food-Fotografin. Ich könnte die Bilder für ihre Speisekarte machen.«

»Haben die so was nicht längst?«

Sie zuckte die Achseln. »Einen Versuch ist es wert. Wo steckt Jake denn?«

»Der schläft noch.«

»War ja klar. Auf dem Tisch liegt ein Brief für dich.«

Ich stöhnte innerlich. Wahrscheinlich wieder eine Mahnung wegen der Rechnung, die ich dem Mistkerl zu verdanken hatte, der mir vor zwei Jahren mein Handy geklaut und damit ein Vermögen vertelefoniert hatte, bevor es mir gelungen war, das Handy sperren zu lassen. Das war die einzige Art von Post, die ich bekam.

Ich goss mir kalten Kaffee aus Marias Maschine ein und stellte die Tasse in die Mikrowelle.

Maria schlang sich die Kameratasche um. Beim Hinausgehen sagte sie: »Erinnere Jake daran, dass er mir noch seinen Anteil an der Stromrechnung schuldet. Ich besorg erst dann wieder Bier, wenn er mit der Kohle rausrückt.«

Ich nickte, dann wandte ich mich dem Brief zu. Er war von der Stiftung für junge Autorinnen und Autoren. Ich hatte Jakes Adresse angegeben, weil ich ohnehin nie bei mir zu Hause war. Ich wappnete mich für eine höfliche Mitteilung, dass es diesmal leider nicht geklappt hätte, aber vielleicht beim nächsten Mal, und ob ich vielleicht an einem der anderen Kurse interessiert sei, die allerdings 2000 Pfund mehr kosteten, weil Teilnehmende, die so minderbemittelt waren wie ich, einer besonders intensiven Förderung bedurften.

Doch weit gefehlt: Mir wurde mitgeteilt, dass man sich freue, mir einen Platz in dem Kurs anzubieten, inklusive Stipendium und Verpflegung. Die Dozentin sei die berühmte Bo Luxton, und man empfehle mir, vor Beginn des Kurses ein paar ihrer Bücher zu lesen.

Ich war so geschockt, dass ich den Brief ein weiteres Mal in Zeitlupe lesen musste. Dann schnappte ich mir meine Jacke vom Sofa und ging zu City Books um die Ecke. Von Bo Luxton hatte ich zwar schon gehört, aber noch nichts von ihr gelesen.

Die Türglocke klingelte, als ich eintrat. Die Frau hinter der Theke sah auf.

»Haben Sie irgendetwas von Bo Luxton?«, fragte ich sie.

»Ihr neuestes Buch ist gerade erschienen«, antwortete sie und führte mich zum Ausstellungstisch in der Mitte des Ladens.

Die Schwester des Dichters. Ich las den Klappentext. »1800. Ihrem Bruder William zuliebe verzichtet Dorothy Wordsworth auf Heirat und Familie. Sie umsorgt ihn und führt seinen Haushalt in Grasmere, während er Meisterwerke der Dichtkunst verfasst. William kommt ohne sie nicht zurecht, doch eines Tages verlobt er sich mit Mary, einer gemeinsamen Freundin aus Kindertagen. Wie wird Dorothy diesen Verlust verkraften, und was steckt tatsächlich hinter der seltsam innigen Geschwisterliebe, die in der Bevölkerung als ›unnatürlich und verdorben‹ gilt?«

Ich kaufte das Buch und ging wieder hinaus.

Statt zu Jake zurückzukehren, spazierte ich zu meiner eigenen Bude am Brunswick Place. Ich war seit Wochen nicht mehr dort gewesen, denn ich hasste die deprimierende Einzimmerwohnung mit dem braunen Teppich, den schmierigen Wänden und der Kochecke mit dem rostigen Miniherd, der kaum funktionierte. Und den Stromzähler, der gierig meine Münzen schluckte, bis ich keine mehr hatte und im Dunkeln sitzen musste, hasste ich ebenfalls.

Aber immerhin hatte ich dort meine Ruhe. Niemand besuchte mich dort.

Ich kroch ins Bett und schlug das Buch auf. Zuerst las ich die Widmung: »Für Lola und Maggie.« Dann blätterte ich weiter zum Anfang:

 

»Endlich war ich wieder draußen im Garten, mit meinem Bruder. Der letzte Schnee war verschwunden, und überall im Gras sprossen Narzissen, die mit ihren Blüten die letzten Sonnenstrahlen des Tages auffingen.«

 

Ich las weiter, und erst nach fünfzig Seiten ließ ich das Buch wieder sinken. Ich beneidete die Autorin um diese lyrische Schönheit. Bo Luxton muss wirklich ein Engel sein, dachte ich. Sonst hätte sie solche Sätze niemals schreiben können. Ich war ganz begierig darauf, von ihr zu lernen, und hoffte, dass sie mich von der Rohheit meines eigenen Stils wegführen würde. »Die Japaner verbrennen ihre Toten immer.« Bam! Bam! Bam! Meine Sätze waren wütende Schläge.

Bo Luxton war anders. Ihre Sätze klangen ganz sanft. Sie schrieb bestimmt mit einer Feder.

Jetzt musste ich nur noch irgendwie das Geld für die Fahrt nach Northumberland auftreiben. In dem Brief stand, ich solle den Zug nach Alnmouth nehmen und von dort aus ein Taxi zum Dorf. Leider war ich völlig pleite. Seit ich meinen Bürojob hatte sausen lassen, arbeitete ich vier Vormittage pro Woche an einer Sprachschule. Der Schulleiter bezahlte mich in bar und meinte, falls jemand von der Behörde käme, solle ich mich als Praktikantin ausgeben. Das Geld reichte kaum für die Miete. Das Buch von Bo Luxton konnte ich mir eigentlich gar nicht leisten.

Ich rief bei der Bahn an und erkundigte mich nach Frühbucherangeboten. Hin und zurück 147 Pfund. Das ging auf gar keinen Fall.

Außer …

In meiner Schublade lag ja noch die Schachtel mit dem Armband, das meine Mutter mir zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, am Tag bevor sie …

Ich musste eine Weile in meiner Unterwäsche wühlen, bis ich die Schachtel mit dem Armband fand. Es sah teuer aus. Ich hatte es nie getragen.

Ich zog mir wieder die Jacke über, ließ das Armband in meine Tasche gleiten und machte mich auf den Weg zum Computerraum der Bücherei. Auf eBay würde ich das Ding bestimmt schnell loswerden. Das Ganze war allerdings nicht ohne. Meine Mutter steckte nämlich ebenfalls in einer Schachtel, die ich tief in meinem Inneren verstaut hatte. Früher kamen Gedanken an meine Mutter nur dann hoch, wenn irgendein Therapeut versuchte, in mein Unterbewusstsein vorzudringen (weshalb ich die Therapeutenbesuche schließlich auch sein ließ). Doch nun tauchte sie jedes Mal, wenn ich schrieb, aus der Versenkung auf. Ich war machtlos dagegen. Und wenn ich mich an sie erinnerte und daran, dass sie mich im Stich gelassen hatte und dass der Bruch zwischen uns nicht mehr zu kitten war, packte mich stundenlang die Wut.

Danach brauchte ich immer ein paar Tage, um mich zu erholen.

Ich hastete durch die Stadt, an Schnäppchenjägern, Touristen, Bettlern und Straßenkünstlern vorbei, den Blick hoffnungsvoll nach vorn gerichtet. Da sah ich sie plötzlich.

Sie stand an der Ecke Bond Street, einen Kaffeebecher in der Hand, und lächelte so liebevoll und mütterlich, dass es mir den Atem verschlug.

»Alice«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. »Alice.«

Ich blieb einen Moment wie angewurzelt stehen. Dann ging ich langsam auf sie zu und streckte ihr ebenfalls die Hand entgegen.

Als sie verwirrt die Stirn runzelte, begriff ich, dass sie nicht Alice gesagt hatte, sondern einen anderen Namen. Sie hatte ein anderes Kind gemeint, ein kleines Mädchen.

Das kleine Mädchen nahm ihre Hand, und dann gingen sie zusammen weg, weg von mir, bis ich sie in der Menschenmenge aus den Augen verlor.