Von: AlicetheEighth@gmail.com
Gesendet: 18. Juli 2015, 10:32
An: Bo@BoLuxton.co.uk
Betreff: Hallo, meine Schöne
Meine wunderschöne, wunderbare Bo,
ich spare es mir, diese Nachricht mit Gejammer darüber zu beginnen, wie sehr ich dich vermisse, denn das weißt du ja längst. Stattdessen sollst du einfach nur wissen, dass ich in meine neue Wohnung gezogen bin. Sie ist hell und schön, und eigentlich sollte ich glücklich sein, aber ich bin es nicht, weil du nicht hier bist.
So, das reicht.
Nun zu meiner neuen Bleibe. Ich sitze gerade im Wohnzimmer, das vornehmlich aus Holz besteht. Eigentlich finde ich es furchtbar, dass für diesen Luxus majestätische Bäume gefällt wurden, aber bis mir jemand eine Alternative anbietet, muss ich der Bequemlichkeit halber wohl weiter unseren Planeten plündern wie alle anderen auch.
Das Wohnzimmer also: Holzdielen, ein altes Sofa und ein Regal mit Büchern, die meisten davon Werke von dir. Manchmal betrachte ich sie und denke an … Egal.
Vom Wohnzimmer geht eine kleine Küche ab. Sie ist wirklich winzig: links zwei Kochplatten, rechts ein Kühlschrank. Eigentlich verdient sie die Bezeichnung »Küche« gar nicht. »Kochnische« trifft es auch nicht. Für winzigen Einrichtungsbullshit dieser Art müsste eigentlich eine ganz neue Sprache erfunden werden. Ich vermute, diese Küche war früher ein Schrank. Die korrekte Bezeichnung wäre dann wohl »Kühlschrankschrank«, aber das klingt natürlich nicht besonders einprägsam.
Vielleicht sollte ich mich bei einer Wörterbuchredaktion bewerben, als Erfinderin bescheuerter Immobilienbegriffe.
Sobald man die Küche durchquert hat (dafür braucht man ein bis zwei Schritte, je nach Beinlänge), landet man beim Doppelbett, sprich: im Schlafzimmer. Und damit wäre die Beschreibung meines bescheidenen neuen Heims auch schon beendet. Du, liebste Bo, schwelgst im bourgeoisen Luxus. Und ich schmore in der Bohème-Hölle.
Aber kommen wir zum nächsten Punkt. Ich habe deine Kurzgeschichten gelesen. Sie haben mir das Herz gebrochen. Jetzt ist mir alles klar. Aber keine Sorge. Ich werde nie wieder davon sprechen, außer du willst es. Danke, dass du mir davon erzählt hast. xxx
Ich sollte besser aufhören. Mein Chef hat mir noch mehr Arbeit aufgehalst, ich darf den Schülern jetzt Konditional I und Konditional II beibringen. Eigentlich ist das gar nicht mal so uninteressant. Vielleicht kannst sogar du dabei noch etwas lernen. Hier sind zwei Sätze für dich. Achte auf den Bedeutungsunterschied:
1) Wenn Bo Luxton mich heiratet, werde ich bis an mein Lebensende glücklich sein.
2) Wenn Bo Luxton mich heiraten würde, wäre ich bis an mein Lebensende glücklich.
Verstehst du? Wahrscheinlich schon, denn du bist ja sehr klug und verstehst solche Dinge auch ohne die Hilfe deines Schützlings. Hier ist trotzdem die Erklärung, nur für alle Fälle:
Das Erste verwendet man, um über etwas zu sprechen, das ziemlich wahrscheinlich ist.
Das Zweite verwendet man, um über etwas zu sprechen, das eher unwahrscheinlich ist. Anders ausgedrückt: Wunschdenken.
Viele halten mich für einen Nerd, weil ich so auf Grammatikregeln abfahre, aber manchmal lassen sich die Gedanken einer Person allein anhand der von ihr verwendeten Sprache ablesen. So kann man feststellen, ob sie einen an der Waffel hat. Beispiel: »Wenn Bo Luxton mich heiratet, werde ich bis an mein Lebensende glücklich sein.«
Da siehst du es. Ich habe wirklich einen an der Waffel, aber von dieser Vorstellung kann ich einfach nicht lassen …
Ich liebe dich
Alice xx
Ich las die E-Mail auf meinem Handy und seufzte, antwortete aber nicht. Jedenfalls nicht sofort. Die liebe, süße Alice. Sie sehnte sich so verzweifelt nach mir.
Ich schaute mich um, betrachtete meine Küche, die großartige Aussicht auf die Berge und dachte an Alice, die einsam in ihrer kleinen Wohnung hockte. »Ich habe wirklich einen an der Waffel, aber von dieser Vorstellung kann ich einfach nicht lassen …« Da war sie, die stillschweigende Bitte, mich festzulegen. Ich war sehr geübt darin, zwischen den Zeilen zu lesen, und was Alice eigentlich meinte, war: »Bitte sag mir, dass wir eine Zukunft haben.«
Oh, Gott. So war es auch bei Christian gewesen. Ich erinnerte mich noch an sein wunderschönes, junges Gesicht, seinen vertrauensvollen Blick. Er hatte auch gewollt, dass ich mich festlegte, mich vollkommen auf ihn einließ. Und ich versuchte es auch. Ich versuchte es wirklich, aber es ging nicht. Ich ertrug die Vorstellung einfach nicht; ich blickte in einen Abgrund aus Liebe und Schmutz, Erstickung, Entsetzen, Tod.
Ich schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.