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Ich schrieb alles auf und hängte den Zettel an den Kühlschrank, damit Gus während meines Aufenthalts in Northumberland nichts vergaß. Montag: Lola Ukulele-Club 18:00, Dienstag: Schwimmunterricht 16:00, Mittwoch: Maggie Theaterkurs, Keswick, 17:00, Donnerstag: Rechtschreibung üben, Freitag: Mathe-Hausaufgaben.
Ich kam mir wie eine Diktatorin vor, aber Gus hatte wirklich keine Ahnung. Ihm war natürlich klar, dass die Mädels zur Schule mussten, und er kannte auch den Weg dorthin, doch ansonsten war er mit dem Leben seiner Töchter nicht vertraut. Ich war diejenige, die ihre Hobbys, Freundinnen und Nöte kannte und wusste, was gerade angesagt war, egal, ob Loom-Bänder, Shopkins oder Moon Balls. Gus war siebenundvierzig, als wir uns kennenlernten, und hatte bereits drei erwachsene Kinder aus zwei früheren Ehen. Er war davon ausgegangen, dass die Sache mit uns auf einen bedeutungslosen One-Night-Stand hinauslief, aber ich war fünfundzwanzig und wollte unbedingt heiraten. Seit ich mit fünfzehn aus dem uralten Wohnwagen meiner Eltern nach London abgehauen war, hatte ich mich allein durchgeschlagen. Ich hatte auf alle möglichen Arten Geld verdient und zwischendurch Gedichte und Kurzgeschichten geschrieben, die ich dann auf Open Mic Nights zum Besten gab. Irgendwann machte jemand mich auf eine Organisation aufmerksam, die ein Mentoring-Programm anbot. Erfahrene und bekannte Autoren nahmen junge, enthusiastische Talente wie mich, die viel zu sagen hatten, unter ihre Fittiche, ließen sie an ihrem Erfahrungsschatz teilhaben und katapultierten sie in schwindelerregende Höhen. Das war 1994. Damals gab es Stipendien für Leute wie mich. Ich bewarb mich und bekam eine Bestsellerautorin als Mentorin. Sie nahm sich meiner an, und zwei Jahre später durfte ich sie auf eine Lesereise begleiten und meine eigenen Texte vorlesen, unter anderem auf dem Hay Festival.
Dort war ich Gus begegnet. Er kam in seinem Anzug hereinspaziert, war völlig fehl am Platz, hörte mir beim Lesen zu und stellte anschließend Fragen. Er sagte, dass er in der Werbebranche arbeitete. Wir tauschten Telefonnummern aus.
Ich gab mich natürlich unnahbar, hatte ihn aber längst im Visier. Er sah gut aus, war umgänglich und hatte Geld. Außerdem war er schon älter und hatte zwei gescheiterte Ehen hinter sich. Er suchte nicht mehr nach einer tiefen emotionalen Verbundenheit oder nach der großen Liebe. Und ich ebenso wenig. Denn ich misstraute der Liebe und dem, was sie Menschen antat, und der Gedanke an ihre düsteren Abgründe, in denen Angst und Schrecken lauerten, jagte mir Schauer über den Rücken. Sie schien mir ohnehin nicht zu liegen. Gus war stabil und zuverlässig; ihm reichte ein normales, ruhiges Leben in einem normalen, ruhigen Zuhause. Er war genau das, was ich wollte.
Wir heirateten, als ich neunundzwanzig war – »Ja, warum eigentlich nicht«, sagte er, als ich es ihm vorschlug –, und drei Jahre später wurde Lola geboren. Ich musste ihn dazu drängen, Kinder zu bekommen. Er meinte, er sei zu alt und Kinder seien anstrengend. Man müsse jung sein, um mit ihnen mitzuhalten, ihnen im Supermarkt hinterherzulaufen, wenn sie davonrannten, und ihnen alles beizubringen, was nötig war, wie Radfahren, Fußball oder Tennis. Seine Zeit als Vater liege hinter ihm.
Doch ich ließ nicht locker, und als sie schließlich auf die Welt kamen, war er glücklich. Im Kreißsaal brach er nach Lolas Geburt sogar in Tränen aus. Sein Alter war plötzlich gar kein Problem mehr. Die unerwartete Chance, endlich der Vater zu sein, der er gern schon bei seinen anderen Kindern gewesen wäre, gab ihm neuen Auftrieb.
Nach Maggie war allerdings Schluss. Noch mehr Kinder wollte er auf keinen Fall. Trotzdem versuchte ich manchmal, ihn umzustimmen. Erst eine Woche zuvor hatte der Gemeinderat ein Inserat in der Lokalzeitung veröffentlicht: Gesucht wurden anständige Bürgerinnen und Bürger als Pflegeeltern für Kinder, die auf ihre Adoption warteten. Ich las Gus die Anzeige vor. »Was meinst du?«, fragte ich.
»Ich denke, wir haben schon genug zu tun und sollten nicht auch noch versuchen, alle Waisenkinder der Welt zu retten.«
»Es wären ja gar nicht alle. Nur ein oder zwei, für eine begrenzte Zeit.«
Er schüttelte den Kopf. »Wir haben unsere eigenen Kinder«, sagte er dann. »Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, ihnen zu schaden, indem wir ihren Alltag fremden Kindern zuliebe auf den Kopf stellen. Unsere wichtigste Aufgabe besteht nun mal darin, dafür zu sorgen, dass es unseren Töchtern gut geht und dass sie behütet aufwachsen.«
Ich ließ das Thema fürs Erste fallen. Gus hielt mich für verrückt, und in gewisser Weise hatte er sogar recht. Meine Schwäche für die ungeliebten Kinder dieser Welt war vermutlich nicht ganz normal. Woher sie kam, war mir durchaus bewusst, doch es hatte keinen Zweck, zurückzuschauen und in alten Erinnerungen zu wühlen. Es war besser, im Hier und Jetzt zu leben.
Ich hörte Gus’ Schritte im Flur, dann ging die Küchentür auf. »Morgen«, sagte er.
Der Küchentisch war mit Manuskripten der Kursteilnehmer bedeckt, die ich in der kommenden Woche unterrichten sollte. »Kann ich ein paar davon beiseiteräumen?«, fragte Gus.
»Leg sie einfach auf den Boden. Ich bring sie gleich zum Auto.«
»Du fährst doch erst Montag.«
»Ja, aber im Arbeitszimmer habe ich keinen Platz dafür.«
Er blätterte eins der Manuskripte durch. »Und? Was Gutes dabei dieses Jahr?«
»Das Übliche«, sagte ich. »Morde, Drogenrazzien, Dystopien, feministischer Protest. Aber ein Text gefällt mir richtig gut.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Hier, schau mal. Alice Dark.«
»Das hier? ›Letzte Worte‹?«
»Ja.«
Er überflog es. »Hm, klingt ziemlich verstörend«, sagte er.
»Ja, aber es ist gut. Findest du nicht?«
»Ganz schön brutal.«
»Aber es steckt so viel Angst und Wut darin, und so viel Sehnsucht. Sehnsucht danach, dass alles wieder gut wird.«
Gus schwieg.
Alice Darks Text brachte mich immer noch zum Nachdenken. Es kam selten vor, dass Bewerbungen mich dermaßen beeindruckten. Ihr Text hatte tief in meinem Innern eine Saite zum Schwingen gebracht, an einem Ort, den ich eigentlich lieber mied. Doch zugleich war ich fasziniert. Der Schreibstil gefiel mir, und ich wollte seine Urheberin kennenlernen. Alice Dark war jung und verletzlich. Bestimmt brauchte sie jemanden, der sich um sie kümmerte. Ich verspürte den Drang, sie an die Hand zu nehmen und auf einen guten Weg zu führen.
»Ich finde, diese junge Autorin braucht Unterstützung«, sagte ich.
Gus lächelte. »Dir ist mal wieder ein streunendes Kätzchen über den Weg gelaufen«, sagte er nachsichtig, als sei mein Helfersyndrom eine liebenswürdige Macke. »Pass diesmal aber auf.«
Ich schnaubte und wandte mich dem Kühlschrank zu. »Willst du was zu Mittag essen? Ich wollte Suppe aus den Kürbisresten machen.«
»Nein, danke. Ich hole mir später was.«
Gus’ Tagesablauf war genau festgelegt. Vormittags las er Bücher, dann genehmigte er sich ein Sandwich zu den Mittagsnachrichten, und die Nachmittage verbrachte er mit der Gehirnjogging-App seines iPads. Währenddessen zog ich mich in mein Arbeitszimmer zurück und schrieb oder recherchierte. Abends aßen wir dann zusammen und tranken ein Gläschen Wein. So verlief unser Leben, seit Gus in Rente gegangen war. Die Tage waren lang, und wir verbrachten viel mehr Zeit zusammen als früher. Doch es funktionierte. Und es war genau das, was ich brauchte. Wenn er mich ständig in Beschlag genommen hätte, wäre ich gar nicht zum Arbeiten gekommen. Unser Leben war ruhig und gewöhnlich – so, wie ich es mir immer gewünscht hatte.
Um halb drei machte ich mich auf den Weg, um die Mädels von der Schule abzuholen. Gus hatte die Post noch gar nicht geholt. Normalerweise erledigte er das direkt nach dem Frühstück und gab mir nur die Briefe, die ich brauchte. Alles andere, mit dem ich seiner Meinung nach nicht klarkommen würde, warf er weg. Ich war mir nicht sicher, was davon er las, aber ich hatte den Verdacht, dass manche Dinge nie bis zu mir durchdrangen.
Als ich an dem kleinen roten Briefkasten am Ende unserer Auffahrt vorbeikam, blieb ich stehen und spähte hinein. Im Dunkeln konnte ich drei oder vier Umschläge erkennen, die Schrift darauf allerdings nicht. Ich wartete noch immer auf den Vertrag für mein neues Buch. Gus würde den Briefkasten sicher geleert haben, wenn ich wieder zurückkam.
Ich ging weiter und folgte dem Pfad am Wildbach entlang, dessen rauschende Fluten über schroffe Gebirgsfelsen zum Fluss hinabstürzten, der sich unten im Tal durch die Wiesen schlängelte.
Niemand konnte hier unglücklich sein. In der Natur gab es nichts Hässliches. Das Hässliche hatten die Menschen in die Welt gesetzt: Es war in den Städten mit ihren Fabriken, deren dunkler Rauch die Luft verpestete, in den grauen Himmeln, die sich in schwarze Flüsse ergossen, im Smog und in all der Zerstörung.
Unter dem gelbgrünen Laubdach der Buchen wanderte ich an uralten bemoosten Felsen vorbei, die der tosenden Gischt des Wasserfalls trotzten. Ich hatte auch deshalb hierherziehen wollen, weil solche Wanderungen mich nicht nur durch die Natur, sondern auch durch meine eigene Gedankenlandschaft führten. Beim Wandern konnte ich am besten über meine Arbeit nachdenken und kam auf die meisten Ideen.
Am Fuße des Berges lichtete sich der Laubwald. Ich trat aus dem Schatten und ging die Steintreppe hinunter, die zur Dorfschule führte. Der Schulhof hatte sich bereits gefüllt. Ich sprach kurz mit ein paar anderen Müttern, während ich darauf wartete, dass die Lehrerinnen ihre Klassen aus dem Gebäude führten.
Maggie kam zuerst heraus, in ihrem roten Karokleid. Ein Kniestrumpf saß noch ordentlich, der andere war heruntergerutscht. Sie ging gebeugt unter dem Gewicht ihres Ranzens, und die Haare fielen ihr ins Gesicht. Als sie mich sah, winkte sie mir zu und lächelte. Ich erwiderte ihr Lächeln, und als die Lehrerin sie gehen ließ, lief sie zu mir herüber und warf sich mir in die Arme. Ich umarmte sie ebenfalls, dann nahm ich ihr den Ranzen ab, strich ihr übers Haar und zog ihr die Strümpfe hoch. »Wie war’s?«, fragte ich.
»Langweilig«, sage Maggie und rümpfte die Nase. »Wir mussten die Sechserreihe üben, und die mag ich nicht.«
»Die ist auch ganz schön schwer«, sagte ich lächelnd.
Maggie nahm meine Hand. Dann erschien Lola, und das Ritual ging von vorn los.
Die beiden freuten sich immer so, mich zu sehen. Doch in das Glücksgefühl, das ich dabei empfand, mischte sich stets eine Spur von Bedauern, denn wie lange würde es noch so weitergehen? Wie viel Zeit blieb mir noch, bis sie mich nur noch als Last empfanden, als meckernde Alte, die ihnen mit den Hausaufgaben auf die Nerven ging und ihnen verbot, freitagabends nach Manchester in irgendwelche Clubs zu fahren?
Egal, dachte ich, als ich mir Lolas Ranzen ebenfalls über die Schulter schwang und ihre Hand nahm. Jetzt waren sie hier, und sie waren meine Mädchen, acht und sechs Jahre alt, und ich hatte sie so weit gebracht – sie waren glücklich, gesund, gut versorgt und in Sicherheit.
Ich war nicht so wie meine Mutter. Ganz und gar nicht.