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Nachdem ich die Mädchen zur Schule gebracht hatte, wanderte ich nach Hause. Oben auf den Gipfeln lag schon Schnee, doch auf unserer Höhe war es noch herbstlich. Vor dem Küchenfenster fielen die Blätter von den Ahornbäumen und tauchten das ausgehende Jahr in leuchtendes Gold. Die Schönheit des Herbstes hat etwas Besinnliches, dachte ich, als ich die Haustür öffnete und meinen Mantel an die Garderobe hängte. Doch in der sanften Brise schwingt schon der düstere Klang des Winters mit.
In der Küche hielt ich kurz inne, um diesen symbolträchtigen Gedanken zu notieren. Eines Tages würde ich ihn in ein Gedicht einfließen lassen (vielleicht eines über die Liebe im Alter, über die Warmherzigkeit reifer Liebe und die wachsende Hinfälligkeit der alternden Liebenden), und dieses Gedicht würde die Kritiker dazu bringen, meine Einfühlsamkeit und subtile Genialität zu bewundern, obwohl Künstler und Schriftsteller schon seit Jahrhunderten Vergleichbares von sich gaben und ich nur wiederkäute, was andere erlebt und empfunden hatten. Sie waren warmherzig und menschlich gewesen, imstande, ihre eigenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Ich dagegen war kaltherzig und isoliert. Im Kern tot. Gus und ich wurden beide älter, aber ich wurde überhaupt nicht warmherziger, im Gegenteil.
Meine Liebe war eiskalt.
Ich ging zur Vorratskammer, holte Hefe, Öl, Salz und Mehl heraus und befestigte den Knethaken an der Küchenmaschine. Maggie hatte mich schon wieder gebeten, Minibaguettes zu backen. Ich kaufte zwar jede Woche welche für die Mädchen, aber selbst gebackene mochten sie lieber. Wenn ich mit dem Schreiben gut vorankam, ließ ich deshalb manchmal die Arbeit liegen und verbrachte den Vormittag stattdessen mit Backen. Dabei kamen mir oft gute Ideen.
Doch als ich diesmal die Zutaten in die Teigmaschine gab und das Gerät einschaltete, musste ich an Alice denken. Sie machte mir wirklich Angst. Sie würde sich bestimmt rächen wollen. Sie hatte eine enorme Wut im Bauch und nun mehr als genug Zeit, vor sich hinzubrüten und Pläne zu schmieden. Sie war gestört und aggressiv.
Die verrückte Alice. Ihre unzähligen E-Mails bewiesen ja, wie maßlos und fordernd sie war.
Und ihre Liebe …
Diese selbstlose Liebe, die keine Grenzen kannte … Anfangs hatte ihre Hingabe mir den Atem verschlagen. Doch nun kam sie mir nur noch krankhaft vor. Alice hatte sich sozusagen selbst das Herz aus der Brust gerissen und es mir auf dem Silbertablett serviert. Und ich war es noch nicht einmal wert. Ich war zwar berühmt, doch letzten Endes nur eine ganz normale Frau mittleren Alters, die innerlich tot war. Wahrscheinlich sogar verfault.
Ich nahm eine Schüssel, fettete die Innenseite mit Olivenöl und gab den fertigen Teig hinein. Dann bedeckte ich das Ganze mit dem Geschirrtuch der Schulpflegschaft, das ich gegen eine Spende erworben hatte, als Lola in die zweite Klasse gekommen war. Zweiundzwanzig Selbstporträts von Lola und ihren Klassenkameraden, darunter die Namen in Schnörkelschrift. Lola Hartley. Unsere Töchter hatten den Nachnamen von Gus. Als ich heiratete, wollte ich meinen Mädchennamen behalten. Zuerst hatte ich überlegt, ihn zu ändern, um mich von meiner Mutter abzugrenzen, aber dann war mir dieser Schritt doch zu langweilig und konventionell erschienen, ganz zu schweigen davon, dass meine Mutter es ohnehin nicht mitbekommen hätte. Also behielt ich ihn.
Alice würde ihren Namen bestimmt auch nicht ändern, dachte ich. Sie war ein feministischer Freigeist.
Anfangs war ich erleichtert gewesen, nichts mehr von ihr zu hören. Als sie mich noch täglich mit E-Mails bombardiert hatte, konnte ich sie unmöglich ignorieren; ihre ständigen Liebeserklärungen, gespickt mit Hinweisen, was sie schon alles für mich aufgegeben hatte (unter anderem ihren Kinderwunsch), und Beteuerungen, dass sie geduldig auf mich warten würde, hatten mir kaum noch Luft zum Atmen gelassen.
Gott, war das anstrengend, so geliebt zu werden.
Ich ließ den Teig aufgehen und reinigte solange die Küchenmaschine.
Eine Woche war es nun her, seit ich bei der Polizei gewesen war. Eine Woche ohne Alice. Keine E-Mails mehr im Posteingang, keine Nachrichten mehr auf Facebook, wo ich sie noch immer als enge Freundin eingestuft hatte, um keinen ihrer Beiträge zu verpassen. Jedes Mal, wenn sie ihren Status aktualisierte, wurde ich benachrichtigt und brannte regelrecht darauf, zu sehen, was sie geschrieben hatte. Weil es meinen Tag erträglicher machte. Als sie mit Jake Schluss gemacht hatte, war folgende Statusmeldung erschienen: »Meine erste männerlose Nacht als frischgebackene Singlefrau habe ich mit einer Packung Häagen-Dasz gefeiert. Herrlich, mal nichts anderes als Eis zu lutschen.« Mir selbst wäre es nie in den Sinn gekommen, so etwas zu schreiben, geschweige denn zu posten, aber Alice’ Kühnheit hatte mir dennoch imponiert.
Nun allerdings herrschte Schweigen. Natürlich bekam ich E-Mails von anderen Leuten, doch sie waren langweilig, und auf Facebook war auch nichts mehr los.
Nach meinem Gespräch mit der Polizei hatte ich mich zwei Nachmittage lang in der Nähe von Alice’ Wohnung herumgetrieben in der Hoffnung, einen Blick auf sie zu erhaschen, nur um sicherzugehen, dass sie noch lebte. Ich war überzeugt, dass sie noch dort war. Erstens hatte sie nicht genug Geld, um ihre Zelte abzubrechen, und zweitens war sie vermutlich am Boden zerstört und musste sich erst einmal erholen.
Doch es war keine Bewegung hinter dem Vorhang, kein Schatten am Fenster zu sehen. Vielleicht lag sie tot in der Wohnung.
Der Gedanke, dass Alice sich umbringen könnte, war mir bereits gekommen, als ich meine Stellungnahme für die Polizei verfasst hatte. Das arme Mädchen war ohnehin schon traumatisiert; vielleicht gab ihr das nun den Rest. Sie war zutiefst verletzt und verwirrt. So etwas konnte einen Menschen umbringen. Das hatte ich ja bei Christian erlebt.
Meinem Sohn ging es gut, bevor Sie ihn sich gekrallt haben. Er hatte nie Probleme. Er war nicht krank. Er hatte keine Depressionen, und er war auch nicht labil. Sie haben ihn manipuliert. Sie haben ihn dazu getrieben. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Und damit werden Sie nun leben müssen.
Niemand hatte Lucy Winter Glauben geschenkt. Die Polizeibeamten hatten Mitleid mit ihr gehabt. Mit mir auch. Das Ganze war eine entsetzliche Tragödie gewesen, mit der nicht nur ich, sondern meine ganze Familie nun leben musste.
Den restlichen Vormittag verbrachte ich damit, aufzuräumen und mir einige Notizen für mein nächstes Kapitel zu machen. Dann backte ich die Minibaguettes im Ofen. Als sie fertig waren, legte ich sechs davon in einen Korb, den ich mit einem roten Geschirrtuch ausgekleidet hatte, und fügte noch ein Stück Brie, Trauben und zwei Scheiben Ingwerkuchen hinzu.
Einmal, als Alice zu Besuch gewesen war, hatten wir den Abend auf der Terrasse ausklingen lassen; die Mädchen waren schon im Bett gewesen. Wir hatten den Sonnenuntergang betrachtet und dabei Baguettes mit Brie, Trauben und Ingwerkuchen gegessen. Die Luft war von Lilienduft erfüllt gewesen, und über den Bergen hatte der Himmel in Flammen gestanden. Später, als es dunkel geworden war, hatten wir uns auf der Wiese geliebt und einander gestanden, dass wir noch nie zuvor so glücklich gewesen waren und noch nie zuvor einen anderen Menschen so sehr geliebt hatten.
Ich zog meinen Dufflecoat an, nahm den Korb und ging nach draußen. Die Luft war schneidend kalt, schwere Winterwolken hingen am Himmel. Der Nachmittag lag grau wie ein Geheimnis da.
Ich ging zügig ins Dorf hinunter. Selbst um diese Jahreszeit tummelten sich dort noch immer Touristen.
Als ich bei Alice’ Wohnung ankam, stand ich etwa zehn Minuten davor und wartete. Noch immer war kein Lebenszeichen zu erkennen. Ich trug den Korb die Treppe hoch und stellte ihn behutsam vor Alice’ Tür.
Es war nicht nötig, eine Nachricht zu hinterlassen. Alice würde schon Bescheid wissen.
Dann ging ich wieder, um die Mädels von der Schule abzuholen.