Bo
Als ich am nächsten Morgen nach Woodstock fuhr, spielte ich den Vorschlag meiner Agentin im Kopf durch. Die Idee war wirklich genial: Ich würde einen sensationellen Thriller über eine berühmte Frau schreiben, die von einer jungen Stalkerin verfolgt wurde; einer jungen Frau, die ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Sexualität und zu ihrer Mutter hatte. Allerdings sorgte ich mich ein wenig, was aus den schriftstellerischen Ambitionen von Alice geworden war. Möglicherweise hatte ich ihr unbeabsichtigt den idealen Stoff geliefert, um sich als Autorin weiterzuentwickeln und ein brillantes Debüt abzuliefern: einen sensationellen Racheroman. Wenn ich diejenige sein wollte, die den Stoff zuerst verwertete, musste ich schnell sein. Aber immerhin hatte ich Vorteile, von denen Alice nur träumen konnte: Ich war berühmt, hatte eine Agentin und eine treue Fangemeinde. Alice dagegen würde Jahre brauchen, um sich als Schriftstellerin einen Namen zu machen.
Ich erreichte Woodstock und parkte an der Dorfkirche. Von dort aus musste ich noch eine Meile zu Fuß gehen, um zum Wohnwagen meiner Mutter zu gelangen. Doch ich genoss den Spaziergang. Es war ein außergewöhnlich milder Novembertag, selbst für diese Gegend. Wildrosen blühten in den Auen am Fluss, und die Sonne sorgte für frühlingshafte Temperaturen. Die Nachrichten machten El Niño dafür verantwortlich, aber Gus beharrte darauf, dass es am Klimawandel lag und wir am Anfang einer weltweiten Katastrophe standen.
Nach etwa einer halben Meile ging der Fußweg am Fluss in einen schmalen Pfad über, der durch einen Buchenwald führte. Eine Brise wirbelte das tote Laub am Boden auf, und es raschelte laut, viel lauter als die Blätter, die noch an den Zweigen hingen. Ich ging weiter, bis ich eine morsche Brücke erreichte, die über ein Rinnsal zu einer Lichtung führte. Dort stand der Wohnwagen meiner Mutter, neben zwei baufälligen Holzhütten. Alles wirkte alt und marode, aber die Kulisse war sehr idyllisch. Am Rande der Lichtung, neben einem Birkenwäldchen, lag ein Fuchs und gähnte. Schade, dass ich meine Kamera nicht dabeihatte.
Meine Mutter hauste schon seit über zwei Jahren dort. So lange hatte sie es noch nirgendwo ausgehalten.
Ich stieg das Treppchen hoch und klopfte an die Tür ihres Wohnwagens. Während ich wartete, strich ich mir durchs Haar. Ich wusste, dass ich gut aussah. Ich trug teure Jeans, einen türkisfarbenen Kaschmirpulli und einen eleganten Mantel. Allein durch dieses Outfit konnte ich meiner Mutter signalisieren, dass ich sie weit hinter mir gelassen hatte. Das war eine viel wirkungsvollere Rache, als sie einfach aus meinem Leben zu verbannen. Nein, meine Strategie bestand darin, meiner Mutter immer wieder gegenüberzutreten und ihr durch die Blume zu sagen: »Schau, was aus mir geworden ist. Schau, wie klug, talentiert und reich ich bin. Und dann schau dich selbst an. Und glaub bloß nicht, dass ich dir jemals helfen werde, egal, wie hungrig du bist, wie kalt dir ist, wie sehr du auch bettelst. Von mir wirst du nie auch nur einen Penny bekommen.«
Das verschaffte mir ein Gefühl tiefer Genugtuung.
Die Wohnwagentür öffnete sich, und meine Mutter stand da. Sie wirkte mager, fast schon unterernährt. Ihr Gesicht sah alt und verhärmt aus.
Wir umarmten uns nicht und küssten einander auch nicht zur Begrüßung. Meine Mutter öffnete die Tür noch ein Stück weiter und trat zurück. Mehr hatte ich als Willkommensgeste nicht zu erwarten.
Drinnen war es eng, obwohl es nur zwei Bänke und einen kleinen Tisch gab.
Meine Mutter fischte eine Bierdose aus einem Wassereimer und bot sie mir an. Ich schüttelte den Kopf.
»Hab nichts anderes«, sagte meine Mutter.
»Schon gut. Ich bleibe sowieso nicht lang. Darf ich mich setzen?«
»Wenn du willst.«
Ich setzte mich.
Meine Mutter nahm gegenüber Platz und öffnete eine Bierdose. »Was führt dich denn hierher?«
»Ich hatte in London zu tun. Ein Termin mit meiner Agentin wegen meines nächsten Romans.«
»Aha. Und was erwartet uns diesmal? Wieder ein Haufen intellektueller Scheiße, die niemand kapiert, so wie letztes Mal?«
»Ich wusste gar nicht, dass du mein letztes Buch gelesen hast.«
»Hab ich auch nicht. Nur die ersten fünfzig Seiten, weiter bin ich nicht gekommen. Niemand will so was lesen, Bo. Gedichte schreibende Geschwister, die in den Bergen rumklettern und sich ineinander verlieben. Das ist grauenhaft. Schreib doch mal was Romantisches, Herrgott. Was zum Schmökern, vorm Schlafengehen.«
»Mein nächster Roman wird ein Thriller über meine Stalking-Erfahrungen.«
»Willst du etwa über diesen armen jungen Kerl schreiben?«
»Nein. Über eine Frau.«
»Was? Du wirst von einer Frau gestalkt?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wie kommt es nur, dass du ständig gestalkt wirst?«
»Ich bin eben berühmt.«
»Du bist doch bloß Schriftstellerin. Kein Popsternchen oder Hollywoodstar.«
»Für manche Leute aber schon.«
»Und was wollen diese Stalker von dir? Geld?«
»Sie wollen, dass ich sie liebe.«
»Was für Idioten.«
»Aber ich bin aus einem anderen Grund hier.«
»Ja. Ich weiß. Wegen dem Baby.«
»Genau.«
»Ich hab schon seit Jahren nichts mehr von denen gehört.«
»Wann war denn das letzte Mal?«
»Das muss fünfzehn oder zwanzig Jahre her sein.«
Enttäuschung stieg in mir hoch. »Kannst du dich noch daran erinnern, wie sie hießen?«
»Ja. Die Mutter nannte sich Rosa Ferris, und der Vater hieß Will.«
»Ich könnte ihnen also einen Besuch abstatten?«
»Ja, das könntest du, aber warum in aller Welt willst du diese alte Geschichte wieder aufwärmen. Das Mädchen ist tot, Bo. Erinnerst du dich nicht mehr?«
»Was?«
»Ich hab es dir doch damals schon erzählt. Die Kleine war krank, als sie sie mitgenommen haben. Du hast sie ja nie gefüttert, weißt du nicht mehr? Sie haben alles versucht, aber das arme Ding war so unterernährt, dass es nicht einmal an der Flasche saugen konnte. Sie hätten sofort mit ihr zum Arzt gehen sollen, aber sie hatten Angst, dass das Sozialamt sie ihnen wegnimmt. Und als sie es dann doch taten, war es zu spät.«
Da waren sie wieder. Die Schläge meiner Mutter. Sie drosch so auf mich ein, dass mir die Luft wegblieb.
Nach einer Weile sagte ich: »Das hast du mir nie erzählt. Daran hätte ich mich erinnert.«
Meine Mutter wischte den Vorwurf einfach weg. »Vielleicht hab ich’s dir tatsächlich nicht erzählt. Das ist schon so lange her, Bo. Das Kind kam zur Welt. Dann ist es gestorben. Du hast doch jetzt zwei andere Kinder. Was spielt es da noch für eine Rolle, was mit dem ersten passiert ist?«
Ich atmete ein paarmal tief durch, um mich zu beruhigen. Dann stand ich auf. »Du hast recht, Mum. Danke. Danke, dass du es mir noch mal gesagt hast. Ich muss es wohl vergessen haben. Es spielt wirklich keine Rolle. Ich wollte das Kind schließlich nie haben. Ich war ja noch nicht einmal … Du weißt schon. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre es nie gezeugt worden.«
»Jetzt fang nicht schon wieder damit an. Wir waren pleite. Wir brauchten Geld. Und das war eben der einfachste Weg, an Geld zu kommen. Du wärst sonst auf der Straße gelandet.«
»Ja, das sagtest du.«
»Viele Mädchen verkaufen sich für Geld.«
»Ja, sicher.«
»Ich hätt’s auch getan, wenn ich hübsch genug gewesen wäre. Würd’s auch jetzt noch tun. Ich bin bettelarm, Bo. Wenn ich auch nur die geringste Chance hätte, ’nen Zehner zu verdienen, indem ich die Beine für ’nen Kerl breit mache, ich würd’s auf der Stelle tun.«
Ich verpasste meiner Mutter eine schallende Ohrfeige.
Dann ging ich.