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Alice

»So ein Miststück.«

Anna war am anderen Ende der Leitung und nahm wie üblich kein Blatt vor den Mund. Im Gegensatz zu mir war sie außerdem daran gewöhnt, das Schlechte im Menschen zu sehen. Immerhin war sie seit zwölf Jahren bei der Polizei. Für sie waren Menschen Abschaum, und man versuchte besser gar nicht erst, irgendetwas Gutes an ihnen zu finden, das trieb einen nur in den Wahnsinn. Wenn Bo sich wie ein Miststück benahm, dann war sie auch eins. Punkt.

»Nimm sie bloß nicht in Schutz«, sagte Anna. »Das erleben wir ständig. Das ist typisch für Frauen, die misshandelt wurden. Vergiss es. Sie scheint eine Narzisstin zu sein.«

»Eine was?«

»Eine Narzisstin. Eine Psychopathin. Das sind Menschen ohne Gewissen. Sie suchen sich ein labiles Opfer, bezirzen es, und dann machen sie es so lange fertig, bis es am Boden zerstört ist. Aber zu allen anderen sind sie normalerweise sehr nett. Deshalb glaubt niemand dem Opfer, und das Opfer wird wahnsinnig.«

»Aha«, sagte ich.

»Am besten verbannst du diese Frau so schnell wie möglich aus deinem Leben.«

»Soll das die Lösung sein?«

»Was willst du denn erreichen? Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du noch immer scharf auf sie bist.«

»Nein.«

»Was willst du dann? Rache?«

»Ja, manchmal schon«, gab ich zu. »Ich will, dass sie genauso leidet wie ich. Aber das wäre unter meiner Würde.«

»Und was ist dir wichtiger? Edelmut oder Rache?«

Ich dachte darüber nach. »Rache«, sagte ich. »Wenn ich mich auf eine Weise rächen könnte, die mir keinen Ärger einhandelt. Aber es müsste schon was Besseres sein als eine Stinkbombe in ihrem Briefkasten.«

»Hm. Hast du ihre E-Mails eigentlich noch?«

»Nein. Sie wollte, dass ich sie lösche, also hab ich sie gelöscht.«

»Hast du ihre E-Mails immer an deinem Computer gelesen?«

»Meistens auf dem iPad. Und auf dem Handy. Als sie mir vorschlug, hierherzuziehen, hat sie mir SMS geschickt.«

»Die kannst du wiederherstellen lassen. Das kostet zwar Geld, ist aber problemlos möglich.«

»Und was dann? Soll ich sie ihrem Mann schicken?«

»Genau. Und was diese Stellungnahme angeht, die sie bei der Polizei abgegeben hat: Hat sie darin irgendetwas behauptet, das auf jeden Fall gelogen war? Also nicht einfach nur eine Verdrehung der Tatsachen, sondern eine richtige Lüge?«

»Ja. Sie behauptete, ich hätte sie mit fünf anonymen Anrufen belästigt. Angeblich ging ihr Mann ans Telefon, als die kamen. So ein Bullshit. Ich hätte ihn nur zu gern dazu gebracht, der Polizei die Wahrheit zu sagen.«

»Meine Güte, Alice. Du bist wirklich naiv.«

»Wieso?«

»Glaubst du im Ernst, sie würde nur behaupten, dass es diese Anrufe gegeben hat? Natürlich hat es sie wirklich gegeben. Sie hat sie selbst fingiert. Sie denkt an alles.«

Mir wurde mulmig bei der Vorstellung, dass jemand ernsthaft imstande sein könnte, so berechnend und manipulativ vorzugehen. Und dann auch noch Bo, der ich ein solches Verhalten niemals zugetraut hatte … Aber das hatte ich schon viel zu oft gedacht.

»Was soll ich machen?«, fragte ich.

»Hast du ihre Nummer?«

»Ja.«

»Dann lass sie zurückverfolgen.«

»Und wie?«

»Du könntest die Polizei darum bitten, aber das würde wahrscheinlich nichts bringen. Du hast die Verwarnung akzeptiert, also im Grunde zugegeben, dass du das, was man dir vorgeworfen hat, tatsächlich getan hast. Die Polizei wird deshalb kaum bereit sein, Zeit und Ressourcen auf die Rückverfolgung der Telefonnummer zu verschwenden. Aber du könntest einen Privatdetektiv engagieren. Das würde dich allerdings etwas kosten.«

Wehr dich, dachte ich. Hör auf, passiv und schwach zu sein. Schlag zurück.

»Kannst du das nicht machen?«, fragte ich.

»Ich würde meinen Job verlieren, wenn es herauskäme.«

»Verstehe. Was verlangt ein Privatdetektiv denn so?«

»Das weiß ich nicht genau. Einen Anruf zurückzuverfolgen kostet wahrscheinlich ein paar Hundert Pfund.«

»Verdammt.«

»Sieh es mal so. Dieser ganze Wahnsinn hat dich schon mehrere Tausend Pfund gekostet. Da kommt es auf ein paar Hundert Pfund auch nicht mehr an, oder? Außerdem kriegst du wahrscheinlich einen Teil davon zurück, wenn du beweisen kannst, dass sie dir etwas anhängen wollte.«

»So viel Geld hab ich aber nicht.«

»Aber du hast doch eine Kreditkarte, oder?«

»Ja.«

»Na also. Hör mal, du solltest wirklich alles versuchen, um diese Verwarnung wieder loszuwerden. Eine Verwarnung ist zwar nicht so schlimm wie eine Verurteilung, aber gut ist sie nicht. Du solltest alles daransetzen, dieses Miststück zu überführen. Wenn der Privatdetektiv die Infos besorgt hat, kannst du sie mir schicken, dann werde ich mich dafür einsetzen, dass die örtliche Polizei in der Sache ermittelt.«

»Na gut. Ich versuch’s.«

»Versuch’s wirklich, hörst du? Such dir gleich nach unserem Gespräch drei Privatdetektive im Internet und frag sie per E-Mail, was sie für die Rückverfolgung einer Telefonnummer haben wollen.«

»Alles klar.«

Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, setzte ich Annas Vorschlag sofort in die Tat um.

Ich hatte sie angerufen, weil ich ihren Rat brauchte. Mitgefühl war zwar nicht ihre Stärke, aber sie kannte sich mit Gesetzen aus und wusste, wie die Polizei arbeitete. Genau das konnte mir nun helfen. Ich erzählte ihr alles: von meinem Umzug nach Grasmere, von der Polizei, der Verwarnung, dem Geschenkkorb vor meiner Tür. »So ein Miststück«, lautete Annas nüchternes, schnörkelloses Fazit. Bo war böse. Punkt. Ihr Verhalten war nicht zu entschuldigen. Ihre liebevolle, fürsorgliche Art war nur eine Maske gewesen, und diese Maske war gefallen.

»Du hättest die Verwarnung niemals akzeptieren sollen«, hatte Anna außerdem gesagt. Sie mochte recht haben, aber in dieser Situation war ich einfach überfordert gewesen. Die Polizei hatte mir gedroht, mich ansonsten festzunehmen, und ich hatte einfach nur noch meine Ruhe haben wollen.

Doch das Gespräch mit Anna hellte meine Stimmung trotzdem ein wenig auf. Bo Luxton konnte mich mal kreuzweise mit ihrem Gerede, dass es mir guttun würde, durch die Natur zu spazieren und mich selbst zu bemuttern. Nein. Rache würde mir guttun. Und das Gefühl, dass irgendwann die Gerechtigkeit siegte.

* * *

Lucas Robinson, Privatdetektiv

24b Lancaster Road, Manchester, M1

 

Liebe Alice Dark,

 

im Anschluss an unser Telefonat freue ich mich, Ihnen mitzuteilen, was sich bei der Rückverfolgung der Anrufe ergeben hat, die im Zeitraum von Samstag, 12. September, ab 20:00 Uhr bis Sonntag, 13. September, um 2:00 Uhr bei der Rufnummer 01539 472018 (Festnetzanschluss von Mrs Bo Luxton & Mr Augustus Hartley, The Riddlepit, Grasmere, Cumbria) eingegangen sind.

 

In diesem Zeitraum sind insgesamt fünf Anrufe eingegangen, und alle fünf wurden auf eine Mobilfunknummer zurückverfolgt, die auf den Namen von Mrs Bo Luxton angemeldet ist.

 

Falls Sie weitere Unterstützung benötigen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Lucas Robinson

Privatdetektiv

 

Ich schob eine Kopie des Briefes in einen großen Umschlag, zusammen mit Kopien aller wiederhergestellten E-Mails und SMS-Nachrichten von Bo. Dann klebte ich den Umschlag zu und schrieb »Mr Augustus Hartley« darauf. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Noch nie in meinem Leben hatte ich absichtlich etwas so Destruktives getan. Aber Bo hatte es verdient. Ich hatte keinerlei Gewissensbisse.

Auf die Post wollte ich mich nicht verlassen. Stattdessen wartete ich, bis Bo die Mädels zur Schule brachte, wanderte zu ihrem Haus und warf den Umschlag in ihren Briefkasten an der Auffahrt. Um zu vermeiden, dass ich Bo auf dem Rückweg begegnete, wanderte ich weiter bis Glendridding und fuhr dann mit dem Bus nach Hause.

In ein paar Tagen wollte ich zurück nach Brighton ziehen. Ich hatte Jake eine verlegene E-Mail geschickt und ihm kleinlaut berichtet, was passiert war. »Und jetzt sitze ich hier in Grasmere fest«, hatte ich am Schluss geschrieben. »Ich bin total pleite. Am liebsten würde ich sofort nach Brighton zurückkehren, mit meinem Masterstudium anfangen und so tun, als wäre das alles nie passiert. Steht dein Übernachtungsangebot noch? Wenn ja, würde ich es liebend gern annehmen und auf deinem Fußboden schlafen, bis ich mich wieder gefangen habe.«

Er hatte natürlich sofort geantwortet und Ja gesagt.

Alles war in die Wege geleitet. Ich würde ein Darlehen für die Studiengebühren aufnehmen, mir irgendwo ein billiges WG-Zimmer suchen und mein Studium mit einem veröffentlichungsreifen Roman abschließen.

Ich hatte bereits angefangen, ihn zu schreiben. Der Titel stand auch schon fest: Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht.