Bo
Die Kleine war schon seit fünfundzwanzig Jahren tot. In all der Zeit hatte ich mir vorgestellt, wie sie heranwuchs, wie sie aussah, welche Begabungen, Stärken und Schwächen sie zeigte. Dabei hatte sie die ganze Zeit tot unter der Erde gelegen. Ihr winziger Körper war längst verwest.
Ich war wütend auf mich selbst, weil ich mir das Ganze so zu Herzen nahm. Dabei gab es doch gar keinen Grund dafür. Ich hatte die Kleine schließlich kaum gekannt, hatte nur vier Tage mit ihr verbracht und mir ständig gewünscht, jemand würde sie fortbringen. Ihr kurzes Leben hatte von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Ich hätte sie niemals aufziehen können.
Aber der Gedanke, dass sie trotz der schrecklichen Umstände ihrer Geburt ein gutes Leben führte, hatte mir Trost gespendet. In meinen Träumen war sie ein wunderschönes Kind. Manchmal verdrängte ich die traurige Wahrheit, dass ich niemals imstande gewesen wäre, mich um dieses Baby zu kümmern, und stellte mir stattdessen vor, ich hätte es behalten. Ich stellte mir vor, dass wir ein gutes, schönes Leben hatten, dass ich als Fünfzehnjährige mit dem Baby davonlief und uns irgendwo im Wald ein Nest baute. Dort lebten wir, ganz auf uns allein gestellt, und ernährten uns von dem, was die Erde uns schenkte. Es war ein einfaches, von Armut gezeichnetes Leben, aber das war egal, denn wir hatten einander lieb. Ich nannte die Kleine Willow und liebte sie so sehr, dass sie für immer bei mir blieb. Wir waren das perfekte Paar.
Aber die Realität sah anders aus. Die Kleine war tot, und ihr Verlust tat weh.
Dieser Schmerz war neu und schrecklich für mich. Vor langer Zeit war mein Herz so schwer verwundet worden, dass ich es tief in meinem Innern verschlossen hatte, um nie wieder Schmerz zu empfinden. Und dann war diese verfluchte Alice gekommen. Sie war in mein Innerstes eingedrungen und hatte mein Herz wieder geöffnet. Sie hatte mich schwach und verwundbar gemacht.
Und trotzdem verzehrte ich mich weiterhin nach ihr. Ich überlegte, zu ihr zu gehen und ihr die ganze entsetzliche Geschichte zu erzählen, damit sie mich besser verstand. Wenn ich sie unter Tränen um Verzeihung bat, würde Alice mich zurücknehmen. Wenn ich sie anflehte, konnte ich unsere einzigartige Liebe sicher wieder zum Leben erwecken. Und dann konnten wir sie in Romanen und Gedichten verewigen und die ganze Welt daran teilhaben lassen.
Es konnte ein Happy End für uns geben. Wir mussten es nur zulassen.
Und Alice würde es sicher zulassen. Einmal hatte sie mir von ihrer schrecklichen Neigung erzählt, Männern, die sie misshandelt hatten, zu verzeihen und eine zweite Chance zu gewähren. Das ergebe keinen Sinn, meinte sie. Sie sei eine intelligente, gebildete Frau, aber wenn es um das ganz normale Leben ginge, sei sie furchtbar dumm. »Das ist überhaupt nicht dumm«, hatte ich erwidert. »Leute, die schlimm verletzt wurden, glauben, dass es nur einen einzigen Menschen gibt, der dafür sorgen kann, dass es ihnen wieder besser geht – nämlich der Mensch, der sie verletzt hat. Also kehren sie immer wieder zu diesem Menschen zurück. Und zuerst sorgt dieser Mensch dann auch dafür, dass es ihnen wieder besser geht, aber dann verletzt er sie erneut, und so geht es immer weiter.« Alice hatte mich angestarrt, als hätte ich ihr soeben die Wahrheit über den Schmerz der ganzen Welt verraten.
Ich sehnte mich zutiefst danach, dass Alice den neuen, schrecklichen Schmerz, den ich nun verspürte, linderte. Alice. Die wunderbare Alice. Mein geliebtes, verlorenes Kind.
Ich verließ die M6 und fuhr weiter nach Windermere, dann durch Ambleside bis nach Grasmere. Selbst um diese Jahreszeit wimmelte es von Touristen. Diese Idioten verbrachten ihren ganzen Urlaub damit, im Tal zu bleiben und von dort aus die Schönheit der Berge zu bewundern. Dabei bot sich weiter oben ein viel schönerer Anblick. Aber dazu hätten sie sich ja anstrengen müssen.
Ich fuhr langsam an der Bäckerei vorbei, über der sich Alice’ Wohnung befand. Noch immer konnte ich kein Lebenszeichen hinter dem Fenster entdecken. Vielleicht war sie nicht da. Vielleicht hatte sie Grasmere nach der Sache mit der Polizei tatsächlich verlassen.
Ich stellte den Wagen im Dorfzentrum ab, stieg aus, ging zu ihrer Wohnung zurück und starrte zehn Minuten lang auf ihr Fenster. Nichts. Ich ließ den Blick zu der Steintreppe wandern, die zu ihrer Wohnungstür führte, und überlegte, ob ich hinaufgehen sollte. Wie würde Alice mich empfangen? Würde sie sich freuen und mich umarmen? Würde sie in Tränen ausbrechen und mich mit Vorwürfen überhäufen? Oder würde sie mir eine Ohrfeige geben und mich zum Teufel jagen?
So, wie ich Alice kannte, würde sie alles auf einmal tun.
Ich seufzte und ging zum Auto zurück. Ich war noch nicht bereit, sie zu sehen und mit all ihren anstrengenden Gefühlen konfrontiert zu werden.
Ich verließ das Dorfzentrum und fuhr die holprige Piste hoch, die mich zurück zu den Mädchen führte. Nach Hause. Ich war jedes Mal froh, wieder heimzukommen; dort war es warm, gemütlich und ruhig. Manche hätten es als langweilig bezeichnet, doch das war mir egal. Lieber Langeweile als Aufregung. Aufregung war nichts für mich.
Doch schon beim Betreten des Hauses spürte ich, dass sich etwas verändert hatte. Unheil lag in der Luft.
Mit den Mädchen war alles wie immer. Sie rannten mir entgegen, umarmten mich stürmisch, fragten, wie es Oma ginge und was ich ihnen aus London mitgebracht hätte.
Ich fischte die Kinderbücher aus der Tasche, die ich in einem Antiquariat auf der Charing Cross Road für sie gekauft hatte; Hörst du, es ist ganz nah für Lola und Erstaunliche Grace für Maggie. Sie nahmen sie und taten mir immerhin den Gefallen, sie kurz zu betrachten, bevor sie sie auf den Boden warfen und wieder davonstürmten, um weiterzuspielen. In der vorangegangenen Woche hatte Maggie mich ernst angesehen und gesagt: »Mummy, du findest Bücher und Lesen vielleicht toll – ich aber nicht.« Die Botschaft war deutlich: Auch wenn ich dein Kind bin, bin ich deswegen noch lange nicht wie du. Ich wollte es trotzdem nicht wahrhaben.
Gus ließ sich nicht blicken, um mir Hallo zu sagen. Ich schleppte die Tasche in die Küche und stellte sie dort ab. Gus saß wie üblich in seinem Schaukelstuhl, trank Tee und las dabei. Als ich hereinkam, schaute er nicht auf.
Ich füllte Wasser in die Kaffeemaschine. Er würdigte mich noch immer keines Blickes. Er hatte sich offenbar fest vorgenommen, mich zu ignorieren.
Also baute ich mich vor ihm auf und sagte: »Hallo, Gus.«
Langsam hob er den Kopf. Er lächelte nicht und sah mich nur stumm an. Sein Blick war so zornig, dass es mir die Sprache verschlug. Ich wandte mich wieder der Kaffeemaschine zu. Was war nur los mit ihm?
Da fiel mein Blick auf einen großen, dicken braunen Umschlag, der auf dem Tisch lag. Er war offen, ein Stapel Papier lugte hervor. Und obenauf lag ein Brief, als wäre er extra für mich dort drapiert worden. Er stammte von einem Privatdetektiv.
Ich nahm ihn. Und als ich ihn las, begriff ich, dass mein Leben im Begriff war, auseinanderzubrechen.
Schließlich brach Gus sein Schweigen. »Hast du eine Erklärung dafür?«, fragte er und deutete auf den Umschlag.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was das ist«, sagte ich.
Er stand auf, ging langsam zum Tisch herüber und zog die Dokumente aus dem Umschlag. »Dann helfe ich deiner Erinnerung mal auf die Sprünge«, sagte er und begann vorzulesen. »Gus fährt nächsten Dienstag für drei Tage weg. Komm zu Besuch. Bitte. Du fehlst mir.«
Er legte das Blatt beiseite und nahm sich das nächste: »Schlaf gut, Schätzchen. Stelle mir gerade vor, wie du in deinem Bett liegst, und hoffe, du träumst was Schönes. Hab dich lieb.«
Er blätterte weiter. »Aber hier kommt das Beste, Bo. Der absolute Hammer. ›Ich hätte einen Vorschlag. Ich weiß, du hast dich gerade erst in deiner neuen Wohnung eingerichtet, und es ist bestimmt zu viel verlangt, aber wie wäre es, wenn du nach Grasmere ziehst? Im Dorf gibt es viele freie Unterkünfte, und Arbeit würdest du bestimmt auch finden. Ich könnte dir finanziell unter die Arme greifen, wenn du Hilfe brauchst …‹ Den Rest spare ich mir lieber.«
Er sah mich an. »Was hat das alles zu bedeuten?«
Ich tat, was ich immer tat, wenn ich mich – was sehr selten geschah – in die Ecke gedrängt fühlte. Ich brach in Tränen aus und fing an zu jammern. »Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, warum sie das macht! Diese Nachrichten sind nicht von mir, Gus. Ich war das nicht. Sie steckt dahinter! Sie ist böse!«
»Ist sie so böse wie der junge Mann, der dich vor fünf Jahren gestalkt hat?«
»Hör auf, Gus!«, rief ich. »Ich ertrage es nicht, daran erinnert zu werden!«
»Ach, wirklich? Tja, Bo, dann musst du jetzt wirklich stark sein, denn ich werde von ihm reden!«
Ich hielt mir die Ohren zu, doch Gus’ Stimme drang unbarmherzig zu mir durch.
»Du weißt doch noch, wie er hieß, oder? Christian. Einer deiner Studenten, der sich in dich verliebte und dich nicht in Ruhe lassen wollte. Erinnerst du dich? Er hat dich so hartnäckig gestalkt, dass wir zusammen zur Polizei gingen, und einen Tag später war er tot. Weißt du noch?«
»Hör auf!«
»Nein, du hörst jetzt zu! Weißt du noch, dass er sich umbrachte, weil er dachte, er sei verrückt? Er dachte, er sei verrückt, weil du ihm eingeredet hast, dass er sich eure Affäre nur einbildet! Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, aber irgendwie hast du ihn tatsächlich dazu gebracht, an seinem Verstand zu zweifeln! Weißt du noch, Bo?«
Ich schwieg.
»Ich jedenfalls weiß es noch genau. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie du geheult und gejammert hast – dass du nicht wolltest, dass er sich umbringt, sondern nur, dass er dich in Ruhe lässt. Und alle haben dir geglaubt und dich bemitleidet. Was war damals eigentlich wirklich los, Bo? Wärest du wohl so nett, es mir zu erzählen?«
»Es war genauso, wie ich damals gesagt habe!«, schluchzte ich. »Hör auf, Gus! Wie kannst du nur so grausam sein!«
Gus starrte mich voller Verachtung an. Dann sagte er: »Du kannst gar nicht anders, oder? Du bösartiges, verlogenes Miststück.«
»Ich habe nicht gelogen!«
»Und was zum Teufel ist das hier?«, schrie er.
»Ich weiß es nicht! Das muss das Werk von Alice sein! Sie ist böse. Sie hat das alles fingiert.«
Gus hielt mir den Brief des Privatdetektivs unter die Nase. »Ach ja? Und was ist das hier?«
Ich begann, nach Luft zu ringen, als würde ich vor Schreck hyperventilieren. »Ich weiß es nicht, Gus! Ich habe keine Ahnung! Sie will mich anscheinend hereinlegen.«
»Kein Wunder, so übel, wie du ihr mitgespielt hast! Kein Wunder, dass sie Geld von dir gefordert hat.«
»Warum glaubst du mir nicht, Gus? Du bist doch mein Mann. Warum bist du nicht auf meiner Seite?«
»Weil ich es allmählich satthabe, auf deiner Seite zu sein, Bo. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass an der ganzen Sache etwas faul war. Zwei Stalker, so kurz hintereinander, das kann einfach nicht sein. Du hast das alles inszeniert, Bo. Du hast dafür gesorgt, dass Alice dir verfällt, und dann hast du sie reingelegt. Ich habe keine Ahnung, warum du das getan hast, und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen. Ich weiß nur eins: Du musst ihr das Geld, das sie deinetwegen ausgegeben hat, zurückzahlen, und du musst der Polizei die Wahrheit sagen.«
»Die Polizei kennt die Wahrheit.«
»Ich werde nicht weiter mit dir darüber diskutieren, Bo. Entweder du machst, was ich dir sage, oder ich mache es an deiner Stelle.«
»Du willst mich erpressen? Du Mistkerl.«
»Allerdings. Und außerdem verlasse ich dich.«
»Was?«
»Du bist ein Monster, Bo Luxton, und ich habe nicht die Absicht, mein Leben weiterhin mit dir zu teilen.«
»Das musst du aber.«
»Nein, das muss ich nicht. Wir haben uns schon seit Jahren nichts mehr zu sagen, und jetzt ist es vorbei. Endgültig. Ich will dich nicht mehr zur Frau haben.«
Er ging hinaus.
Ich stand in der Küche und weinte.