Bo
Eine Krankenschwester kam herein, um Alice’ Verbände zu wechseln und ihre Wunden zu reinigen. Ich schaute ihr zu. Sie war flink und geschickt. Ein wenig Gaze, etwas Desinfektionsmittel, ein Pflaster, das war’s.
»Kommt sie wieder auf die Beine?«, fragte ich.
»Sie hat wirklich viel Glück gehabt«, sagte die Schwester. »Der Mann, der das getan hat, war nicht besonders stark. Das CT hat einige kleinere Frakturen ergeben, aber sie wird keine bleibenden Schäden davontragen.«
»Und ihr Erinnerungsvermögen?«
»Das wird zurückkehren.«
»Sie sagt, sie erinnert sich an nichts.«
»Die Polizei wird ihr sicher helfen können. Die haben Erfahrung mit so was.«
Die Schwester wandte mir den Rücken zu, um sich Notizen zu machen. Ich setzte mich wieder zu Alice ans Bett und nahm ihre Hand in meine. Ich ließ meine Finger durch ihr Haar gleiten und streichelte ihr Gesicht, dort, wo keine Pflaster waren.
Es passierte fast nie, dass ich ratlos war. Aber diesmal hatte ich keine Ahnung, wie das Ganze ausgehen würde. Ich wusste bloß, wie ich Menschen um den Finger wickeln konnte. Ich wusste, was ich zu tun hatte, damit das Krankenhauspersonal und die Polizei mich für nett, besorgt und freundlich hielten. Und ich wusste, wie entscheidend es war, dass ich jeden Tag bei Alice am Bett saß, bis zu ihrer Entlassung aus der Klinik. Es war wichtig, dass ich ihr immer wieder von dem jungen Mann erzählte, der aus ihrer Wohnung gekommen war. Mit meiner Hilfe würde sie sich erinnern.
Die Schwester verließ das Zimmer.
Alice öffnete die Augen. »Was ist passiert?«, fragte sie.
»Schatz, du wurdest gestern Vormittag überfallen. Aber mach dir keine Sorgen. Alles wird wieder gut.«
»Wer hat mich denn überfallen?«, fragte Alice.
Ich strich ihr zärtlich übers Gesicht. »Das wissen wir noch nicht, aber ich habe den Täter gesehen. Wenn die Polizei kommt, werde ich ihn beschreiben. Und wenn deine Erinnerung zurückkehrt, wirst du ihn auch beschreiben können, und dann finden sie ihn. Bestimmt.«
»Wo warst du denn, als ich überfallen wurde?«, wollte Alice wissen.
»Bist du wirklich schon bereit, dir das alles anzuhören?«, fragte ich mit sanfter Besorgnis. »Du hast so viel durchgemacht …«
»Ja, ich bin bereit. Ich will es hören.«
»Ich war kurz vorher noch bei dir gewesen. Weißt du noch? Du wolltest zurück nach Brighton, und ich wollte dich zum Bleiben überreden. Ich liebe dich, Alice. Mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Alice schwieg.
»Aber du warst fest entschlossen, nach Brighton zurückzukehren«, fuhr ich fort. »Und da ich dich nicht umstimmen konnte, bin ich wieder gegangen. Ich war dann noch kurz im Café gegenüber, weil ich mich erst etwas beruhigen wollte, bevor ich zu den Mädchen zurückfuhr. Und als ich dort im Café saß, sah ich einen jungen Mann die Straße hinunterjoggen. Vor deinem Haus blieb er stehen. Er schaute sich um, holte einen Zettel aus seiner Tasche und rannte dann die Treppe zu deiner Wohnung hoch. Ich dachte, vielleicht ist er dein neuer Freund und du wolltest mich seinetwegen nicht mehr sehen.«
Alice lächelte.
»Willst du noch mehr hören?«
»Ja.«
»Ich hatte mir einen Kaffee bestellt. Nach etwa zehn Minuten kam der junge Mann wieder aus deiner Wohnung heraus. Er wirkte sehr aufgeregt, war ganz rot im Gesicht, und mir fiel auf, dass seine Sachen zerrissen waren, als hätte er mit jemandem gekämpft. Er hatte es sehr eilig, zu verschwinden. Ich bezahlte meinen Kaffee und wollte eigentlich gehen. Aber irgendetwas an diesem jungen Mann irritierte mich. Ich wollte sichergehen, dass bei dir alles okay war. Soll ich wirklich weitererzählen, Schatz? Ich will dich nicht schockieren.«
»Ich bin schon geschockt«, flüsterte Alice.
»Also gut. Ich bin dann hoch zu deiner Wohnung. Die Tür stand weit offen. Ich ging hinein, und dort habe ich dich dann gefunden.« Ich holte tief Luft, bevor ich im Flüsterton weitersprach. »Du lagst auf dem Boden. Zuerst dachte ich … zuerst dachte ich, du wärest tot.«
»Oh, Bo …«
»Ich habe mich neben dich gekniet, um deinen Puls zu fühlen. Du hast noch geatmet, aber du warst verletzt. Dein Gesicht war ganz blutig. Also rief ich den Notarzt, brachte dich in die stabile Seitenlage und redete die ganze Zeit mit dir. Und als die Sanitäter kamen, bin ich mit dir ins Krankenhaus gefahren, damit du ein vertrautes Gesicht siehst, wenn du aufwachst.«
»Danke«, flüsterte Alice und drückte meine Hand.