Bo
Als die Polizei kam, ging ich. Besser, ich kehrte nicht zu Alice zurück. Es war ohnehin sehr nervenaufreibend gewesen, den ganzen Tag bei ihr in der Klinik zu bleiben. Ich trug noch immer ihre Turnschuhe. Sie waren mir ins Auge gefallen, als ich auf den Notarzt gewartet hatte; Alice hatte sie an ihrem Rucksack festgebunden. Sie waren mir zwar viel zu eng, aber das war egal; meine Stiefel mussten unbedingt weg, wegen der Blutspuren. Ich durchwühlte Alice’ Schubladen und fand schließlich eine Tüte, in der ich sie verstecken konnte. Während die Sanitäter damit beschäftigt waren, Alice in den Notarztwagen zu verfrachten, hatte ich mir die Tüte unauffällig unter den Arm geklemmt und sie später auf dem Klinikparkplatz in einer Mülltonne entsorgt.
Panik stieg in mir hoch, als ich zum Ausgang der Klinik eilte. Ich versuchte, mich zu beruhigen und die Lage zu analysieren.
Alice’ Verletzungen waren nicht so schlimm, wie ich vermutet hatte. Sie würde nicht sterben.
Sie würde weiterleben, und ihr Gedächtnis würde bald zurückkehren.
Wenn ich geahnt hätte, dass sie überlebt, hätte ich natürlich niemals den Notarzt gerufen. Was ich ohnehin nur getan hatte, damit die Polizei mich als Verdächtige ausschloss. Ich hatte ja gar nicht vorgehabt, dermaßen auszurasten.
Am liebsten hätte ich die Flucht ergriffen, aber ich konnte nirgendwohin. Die Mädchen mussten in Grasmere bleiben, in ihrem vertrauten Umfeld, und sie brauchten mich. Ich konnte sie schlecht woanders hinbringen mit der Begründung »Wir müssen uns verstecken, weil die Polizei hinter eurer Mummy her ist«.
Alles musste so bleiben, wie es war. Ich musste weitermachen, als wäre nichts passiert. Nur so konnte ich verhindern, dass die Welt einstürzte.
Ich nahm ein Taxi zurück nach Grasmere, stieg im Dorf aus und ging zu Fuß nach Hause. Ein schneidender Wind wehte, über den Bergen und dem See zog der Nachthimmel auf. Zwei Sterne leuchteten flackernd über mir, flirrend, wie Glühwürmchen.
Wie gern würde ich euch einfangen, dachte ich. Doch als ich weiter den Berg hochwanderte, verschwanden sie, und ich schaute in den leeren Himmel empor und weinte.
Es war schon nach neun, als ich heimkam.
»Wo zum Teufel bist du gewesen?«, fragte Gus.
Ich seufzte tief und zog mir den Mantel aus. »Unterwegs«, sagte ich.
»Du kannst aber nicht einfach zwölf Stunden lang verschwinden, ohne mir Bescheid zu geben!«
»Oh, doch. Wir sind getrennt.«
»Wir hatten aber nicht vereinbart, dass ich auf die Mädels aufpasse. Es hätte ja sein können, dass ich etwas vorhabe. Du kannst sie nicht einfach hier bei mir lassen und davonrauschen.«
»Ich bin nicht davongerauscht.«
»Ach nein?«
»Ich war in der Klinik.«
»Na, sicher.« Gus rollte die Augen.
»Ich war wirklich in der Klinik!«
»Und? Ist es tödlich?«
»Wie bitte?«
»Na, du warst doch bestimmt in der Klinik, weil du etwas Schlimmes hast.«
»Nein.«
»Wie schön für dich.«
»Eine Freundin von mir wurde zusammengeschlagen.«
»Welche Freundin?«
»Alice.«
»Herrgott noch mal, Bo. Hört das denn nie auf?«
Der Abend ging schnell vorüber. Ich sah nach den Mädchen. Sie schliefen bereits tief und fest. Dann ließ ich mir ein Bad ein, sank in das heiße Wasser, schloss die Augen und ließ die Ereignisse des Tages Revue passieren. Ich war bei Alice gewesen. Sie erklärte mir, dass sie nach Brighton zurückgehe und dass es zwischen uns aus sei. Und dann sprang plötzlich ein Schalter in mir um, und ich geriet in Rage. Eine solche Wut hatte ich noch nie zuvor erlebt.
Ich hatte nicht gewollt, dass es so weit kam. Ich hatte mir nur gewünscht, dass Alice zu mir zurückkehrte und mich wieder so liebte wie früher. Doch sie sagte Nein. Sie sagte Nein, und das brach mir das Herz. Und ehe ich michs versah, hatte ich mich auf sie gestürzt.
Ich war durchgedreht. Ich hatte die Kontrolle über mich verloren.
Am liebsten hätte ich den Tag ungeschehen gemacht und die Zeit zurückgedreht. Statt zu Alice zu gehen, wäre ich zu Hause geblieben, hätte mit den Mädchen Monopoly gespielt, ihnen etwas vorgelesen, Kuchen gebacken und wäre zum See gewandert. Ich hätte den Tag ruhig und zufrieden verbracht, so wie früher, als mein Leben noch normal gewesen war. Normal. Ich dachte: Wenn ich die Zeit wirklich zurückdrehen könnte, hätte ich mein Leben so gelebt, dass ich Alice nie begegnet wäre. Und dann ging ich immer weiter in der Zeit zurück, bis zu jenem Moment, als ich zusammen mit meinem Bruder im Zigeunerwagen meiner Eltern kauerte, damals, an dem Abend, bevor der erste Mann kam. Diesen Moment wollte ich einfrieren. Denn kurz darauf war ich gestorben, und meine innerliche Verrottung hatte ihren Anfang genommen.