Bo
Samstagmorgen war ich gerade dabei, das Frühstück für die Mädchen zuzubereiten, als es endlich an der Tür klopfte. Ich lächelte den beiden zu. Sie warteten gespannt darauf, dass ich den ersten Pfannkuchen in die Luft warf und wieder auffing. Der Anblick brachte sie jedes Mal zum Staunen und Lachen. Es war so leicht, sie glücklich zu machen.
Ich rieb mir die Hände an der Schürze ab. »Wartet mal kurz«, sagte ich. »Das ist bestimmt der Postbote.«
Gus war noch im Bett. Als ich die Haustür öffnete, standen wie erwartet zwei Polizeibeamte vor mir.
Ich sah sie fragend an. »Hallo«, sagte ich. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Sind Sie Mrs Bo Luxton?«
»Ja, das ist richtig«, sagte ich.
Einer von ihnen zeigte mir seine Marke. »Mrs Luxton, wir verhaften Sie wegen schwerer Körperverletzung, begangen an Alice Dark. Sie haben das Recht, zu schweigen …«
Ich brachte ohnehin kein Wort heraus. Obwohl ich seit zwei Tagen mit meiner Festnahme gerechnet hatte, war sie dennoch ein Schock.
»Gibt es jemanden, den Sie benachrichtigen müssen?«
»Meine Töchter«, stotterte ich und ging in die Küche. »Ich muss kurz weg, Mädels«, sagte ich. »Geht hoch zu Daddy und weckt ihn, damit er euch das Frühstück macht.«
Die Mädchen verzogen das Gesicht, gehorchten mir aber.
Ich nahm die Schürze ab, hängte mir den Mantel über die Schulter und folgte den Polizeibeamten nach draußen.
Ihr Wagen stand in der Auffahrt. Einer der beiden öffnete mir die Tür, und ich stieg ein.
Als die Beamten sich anschnallten, blickte ich hoch zum Schlafzimmerfenster. Gus stand dort und schaute kopfschüttelnd zu mir herunter. Bei ihm hatte ich längst jegliche Sympathie verspielt.
Nun steckte ich im wahrsten Sinne des Wortes in der Klemme und konnte nichts dagegen tun. Aber wenn ich zu allen brav und freundlich war, würde ich sicher davonkommen, schließlich war ich berühmt und beliebt. Jemand wie ich konnte unmöglich schuldig sein, das würde man schon einsehen.
Auf dem Polizeirevier wurde mir erklärt, dass ich das Recht auf einen Anwalt hatte. Doch ich lehnte ab, denn ich war der Meinung, dass unschuldige Menschen wie ich keinen Anwalt brauchten.
Ich wurde in einen Verhörraum geführt und aufgefordert, Platz zu nehmen. Ich fragte mich, ob Alice auch in diesem Raum gewesen war, als man sie damals wegen Stalkings verwarnt hatte. Ob sie wohl auch auf diesem Stuhl gesessen hatte? Sie war bestimmt in Tränen ausgebrochen.
Ich sah die beiden Polizisten nacheinander an und bemühte mich, selbstsicher, aber zugleich respektvoll zu wirken. So war es am besten. Selbstsicher, was meine Unschuld betraf, aber dennoch höflich und kooperativ.
»Können Sie uns sagen, wo Sie am Donnerstagvormittag, den zehnten Dezember um zehn Uhr dreißig gewesen sind?«
Ich überlegte eine Weile, dann holte ich tief Luft und wiederholte die Geschichte, die ich Alice im Krankenhaus erzählt hatte.
Der Polizeibeamte nickte. Dann sagte er: »Alice Dark hat ausgesagt, dass sie von Ihnen angegriffen wurde.«
Ich schnappte nach Luft. »Das glaube ich nicht. Ich kann nicht fassen, dass sie das behauptet!«
»Wir haben die Dokumente geprüft, die sie Ihnen geschickt hat. Sie hatten ja behauptet, fünf anonyme Anrufe von Alice Dark, Ihrer angeblichen Stalkerin, erhalten zu haben. Aber die Rückverfolgung dieser Anrufe hat ergeben, dass alle auf Ihre eigene Mobilnummer zurückgehen. Können Sie das erklären?«
»Das hatte ich Alice doch schon gesagt. Ich weiß nicht, wie es zu diesen Anrufen kam. Wahrscheinlich haben meine Kinder damals mit meinem Handy gespielt und dabei versehentlich die Anrufe ausgelöst.«
»Fünf Anrufe? Mitten in der Nacht?«
»Das ist durchaus möglich.«
»Nun hören Sie mal gut zu, Mrs Luxton. Sie haben behauptet, dass Alice Dark Sie gestalkt hat. Sie haben behauptet, dass Ms Dark Sie verfolgt und Ihnen Nachrichten geschickt hat und dann nach Grasmere gezogen ist, um in Ihrer Nähe zu sein, ohne von Ihnen in irgendeiner Weise dazu ermutigt worden zu sein. Außerdem haben Sie behauptet, dass Alice Dark Sie zu Hause mit fünf anonymen Anrufen belästigt und Ihren Mann bedroht hat. Ihre Behauptungen wurden durch die damals vorliegenden Beweise unterstützt. Also holten wir Ms Dark zur Befragung aufs Revier, erteilten ihr eine Verwarnung und schickten sie wieder nach Hause. Ms Dark suchte daraufhin nach Möglichkeiten, um ihre Unschuld zu beweisen. Sie ließ ihre gelöschten E-Mails und Kurznachrichten wiederherstellen und beauftragte einen Privatdetektiv damit, die anonymen Anrufe zurückzuverfolgen. Und wie sich herausstellte, stammen die anonymen Anrufe von Ihrer Nummer, Mrs Luxton. Und aus den wiederhergestellten Nachrichten geht eindeutig hervor, dass Sie Ms Dark sehr wohl aufgefordert haben, nach Grasmere zu ziehen, damit Sie mit ihr zusammen sein können …«
»Ich …«
»Und dann hat Ms Dark das ganze Beweismaterial an Ihren Mann geschickt, weil sie wütend auf Sie war und sich an Ihnen rächen wollte. Ihr Mann stellte Sie daraufhin zur Rede. Es kam ihm seltsam vor, dass Sie vor nicht allzu langer Zeit schon einmal von jemandem gestalkt wurden, der sich schließlich das Leben nahm. Ihr Mann beschloss, sich von Ihnen zu trennen. Ihr gemeinsames Haus steht bereits zum Verkauf, und auch Ihre Töchter wissen schon Bescheid. Sie, Mrs Luxton, hatten also allen Grund, aufgebracht zu sein, zumal Ihre Versuche, Ms Dark zum Sündenbock zu machen, gescheitert waren. Sie suchten sie in ihrer Wohnung auf. Und als Ihnen klar wurde, dass Ms Dark vorhatte, Grasmere zu verlassen und ihr Leben unbescholten weiterzuführen – sie hatte ja ihre Unschuld beweisen können, obwohl Sie sich solche Mühe gegeben hatten, sie zur Stalkerin abzustempeln –, da sind Sie so wütend geworden, dass Sie die Kontrolle über sich verloren und Alice Dark angegriffen haben.«
»Nein …«
»Und danach bekamen Sie Angst. Sie befürchteten, dass Alice Dark an den Verletzungen, die Sie ihr zugefügt hatten, sterben würde, was wiederum schlimme Folgen für Sie gehabt hätte. Also beschlossen Sie, den Notarzt zu rufen, und dachten sich die Geschichte von dem jungen Mann aus, den Sie angeblich dabei beobachtet hatten, wie er in Alice Darks Wohnung ging und dann blutverschmiert wieder herauskam. Sie dachten, dass es für Sie selbst von Vorteil wäre, so zu tun, als seien Sie sehr um Alice besorgt, trotz allem, was vorher passiert war. Also fuhren Sie mit ihr ins Krankenhaus und saßen an ihrem Bett, bis die Polizei kam und Alice sich wieder daran erinnern konnte, was wirklich passiert war. Da verloren Sie schließlich die Nerven und machten sich aus dem Staub. So war es doch, oder?«
»Es tut mir leid, aber Sie irren sich.«
Der andere Polizeibeamte fischte eine Tesco-Plastiktüte unter dem Tisch hervor und stellte sie direkt vor meine Nase. Zuerst dachte ich, dass meine Stiefel, die ich auf dem Krankenhausparkplatz in den Mülleimer gestopft hatte, in der Tüte waren. Doch ich irrte mich. Alice’ Turnschuhe lagen darin.
»Was können Sie mir zu diesen Schuhen sagen?«
»Die habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Noch nie?«
»Richtig. Noch nie.«
»Was hatten diese Schuhe dann in Ihrem Kleiderschrank zu suchen, Mrs Luxton?«
»Wie bitte?«
»Wir haben diese Schuhe gefunden, als wir gestern Ihr Haus durchsuchten, Mrs Luxton. Sie waren nicht da, aber Ihr Mann war so nett, uns hereinzulassen. Und dann fanden wir diese Turnschuhe, die Alice Dark übrigens schon vermisst hat, in Ihrem Schrank.«
»Ich habe keine Ahnung, wie sie dort hingekommen sind.«
»Nun, nachdem Sie Alice Dark blutig getreten hatten, dachten Sie vielleicht, dass Sie sich besser andere Schuhe anziehen sollten, bevor die Polizei auftauchte, und griffen dann nach dem erstbesten Paar, das Sie finden konnten. War es nicht so?«
»Nein.« Ich fühlte mich immer mehr in die Ecke gedrängt. Also brach ich in Tränen aus. »Ich weiß nicht, warum Alice so etwas tut«, schluchzte ich. »Dieses Mädchen ist wirklich böse. Aber ich kann es nicht beweisen, weil sie all ihre Spuren verwischt hat. Ich kann nur die Wahrheit sagen und hoffen, dass Sie mir glauben.«
Der Polizeibeamte musterte mich unbeeindruckt. »Das können Sie sich fürs Gericht sparen, Mrs Luxton.«