Fünfter Teil

GERECHTIGKEIT

1

Alice

Sie wurde wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Bis zum Prozessbeginn konnte allerdings gut ein Jahr verstreichen; frühestens kommenden Winter wäre es so weit. Sie wurde gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt unter der Bedingung, sich von mir fernzuhalten.

Mir blieb nichts anderes übrig, als die ganze Sache zu verdrängen und mein Leben weiterzuleben. Ich zog wieder bei Jake ein und begann mein Masterstudium. Meine Gruppe bestand aus sechzehn Leuten, plus drei Tutoren und ein paar Gastdozenten. Alle waren davon überzeugt, dass mein Buch ein Erfolg werden würde. Jede Woche musste ich ein Kapitel abliefern, das dann von allen gelesen und anschließend im Seminar diskutiert wurde. Jeder gab mir Feedback und Verbesserungsvorschläge. Es entstand fast schon ein kleiner Hype um das Buch, und immer hing die unbeantwortete Frage in der Luft: »Ist das eine wahre Geschichte? Ist dir das wirklich passiert?«

Ich erzählte keinem von Bo. Ich sprach nie über sie, aber sie war trotzdem immer da, eine Wunde in meinem Herzen. Ich wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis diese Wunde heilte. Aber ich rechnete damit, dass es vielleicht mein ganzes Leben lang dauern würde, denn Bo war kein Mensch, den man einfach vergessen konnte. Ich arrangierte mich damit, dass sie Teil meiner Erinnerungen war und die Art und Weise, wie ich die Welt wahrnahm und mich in ihr bewegte, maßgeblich geprägt hatte.

Vielleicht würde es irgendwann gut sein.

Am letzten Tag des Semesters lud einer meiner jüngeren Kommilitonen mich zum Mittagessen ein. Er hieß Max und arbeitete an einem Kinderbuch. In einem anderen Leben hätte ich ihn bestimmt attraktiv gefunden, aber nicht jetzt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, jemals wieder einen anderen Menschen attraktiv zu finden. Nur bei Jake fühlte ich mich sicher. Der süße, wunderbare Jake, der mir einen Schlafplatz auf seinem Fußboden angeboten hatte und mich weiter bei sich bleiben ließ, als seine Mitbewohnerin auszog. Jake, der liebenswerte Nichtsnutz, der es wahrscheinlich nie zu etwas bringen würde, aber dafür großzügig war und ein gutes Herz hatte. Das war mir am wichtigsten.

Max ging mit mir ins Café im Erdgeschoss der Bibliothek. Dort war es immer ruhig; nur Dozenten und Studenten gingen dorthin und verbreiteten eine Atmosphäre von Gelehrtheit, bei der ich mir wie ein Eindringling vorkam. Ich war keine Akademikerin und auch nicht besonders klug. Ich war nur jemand, der gerade einen Thriller schrieb.

Max nahm gegenüber von mir Platz. »Ich finde dein Buch wirklich klasse«, sagte er.

»Danke.«

»Das Thema kostet Mut.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Es klingt irgendwie so eindringlich, als wäre es dir tatsächlich passiert«, fuhr er fort.

»Jeder wird doch beim Schreiben von Dingen beeinflusst, die ihm tatsächlich passiert sind.«

Er nickte. Dann sagte er: »Darf ich dich mal zum Abendessen einladen? Ich würde unsere Unterhaltung gern vertiefen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte ich und lächelte. »Ich bin nicht auf der Suche nach einer Beziehung.«

Er sah mich zweifelnd an. »Wirklich nicht?«

»Nein.«

»Aber irgendwann ändert sich das doch bestimmt wieder, oder?«

Ich wischte mir mit der Serviette den Mund ab. »Nein. Das wird sich nie mehr ändern.«

Niemand sollte mir je wieder zu nah kommen. Ich hatte mein Herz verbarrikadiert. Ich würde nie wieder zulassen, dass jemand mich mit Lügen, Schlägen oder angeblicher Liebe zerstörte.

* * *

Ein Jahr lang schrieb ich an meinem Roman und überarbeitete ihn immer wieder, bis ich es irgendwann satthatte und ihn mehreren Literaturagenten schickte. Natürlich bekam ich einige Absagen; unsere Dozenten hatten uns schon vorgewarnt, dass wir damit rechnen mussten. Aber mir wurde auch Interesse signalisiert, und eine Literaturagentin nahm mein Manuskript schließlich an. Sie wollte es einem Verlag anbieten.

Und es gelang ihr tatsächlich, einen Deal für mich abzuschließen.