Bo
Weihnachten. Der Prozess rückte immer näher, und ich stand vor den Trümmern meines Lebens. Meine Ehe, mein Zuhause, meine Kinder, meine Karriere – alles zerstört. Natürlich hatte die Presse Wind von der ganzen Sache bekommen, und dann sprach es sich auch in der Verlagswelt herum: Bo Luxton ist wegen Körperverletzung angeklagt. Sie hat eine unschuldige junge Frau verleumdet. Und sie hat ihren Mann mit einer Lesbe betrogen.
Die ganze erbärmliche Geschichte meines Privatlebens wurde an die Öffentlichkeit gezerrt, und ich konnte nichts dagegen tun.
Die letzte E-Mail meiner Agentin klang extrem kühl und förmlich.
»Liebe Bo, ich bedauere wirklich sehr, dir mitteilen zu müssen, dass der Verlag angesichts der aktuellen Entwicklung entschieden hat, das Erscheinen deines neuen Romans Stalking bis auf Weiteres zu verschieben. Ich denke, es wäre besser für dich, wenn du dir eine neue Agentin suchst. Ich wünsche dir alles Gute. Vanessa.«
Alle distanzierten sich von mir. Alle. Kein einziger Verlag wollte meinen sensationellen neuen Roman veröffentlichen. Sie ergriffen die Flucht vor mir, der Frau, die bald wegen Körperverletzung vor Gericht stehen würde.
Mir war nie bewusst gewesen, wie wichtig ein untadeliger Ruf war. Meiner war nun bis in alle Ewigkeit ruiniert, und mein Name ebenso. Ich sah buchstäblich vor mir, wie ich in die Annalen der Literaturgeschichte eingehen würde: »Bo Luxton pflegte viele Jahre lang ein sorgfältig konstruiertes Image. Sie legte größten Wert auf ihr Privatleben und blieb dem Glamour der Literaturwelt stets fern. In ihrem Leben gab es nur Platz für ihre Familie, ihre Schriftstellerei und ihre Tätigkeit als Dozentin. Sie vermittelte den Eindruck, eine großartige Mentorin zu sein, die vielversprechende Talente unter ihre Fittiche nahm. Doch hinter der engelsgleichen Maske lauerte ein wahres Biest, das vor seelischer Grausamkeit ebenso wenig zurückschreckte wie vor körperlicher Gewalt.«
Ich schloss die Augen. Bei der Vorstellung, dass die Welt von nun an nur noch schlecht von mir denken würde, wurde mir übel. Es durfte nicht sein, dass man sich so an mich erinnerte. Es durfte einfach nicht sein.
Zum ersten Mal fühlte ich mich völlig hilflos.
Die Mädchen wohnten nicht mehr bei mir. Zwei Tage nach meiner Festnahme und anschließenden Freilassung gegen Kaution setzte Gus sich in der Küche zu mir, blickte mir geradewegs in die Augen und sagte: »Ich werde das alleinige Sorgerecht beantragen.«
»Das kannst du nicht machen«, sagte ich.
»Natürlich kann ich das. Ich war immer davon überzeugt, dass du eine gute Mutter bist, Bo. Trotz allem. Auch wenn mir deine Geheimniskrämerei oft gegen den Strich ging, habe ich in dir immer die perfekte Mutter für meine Kinder gesehen. Aber jetzt …« Er sah mich kopfschüttelnd an. »Ich habe keine Ahnung, wer du eigentlich bist. Du hast eine Frau brutal zusammengeschlagen. Ich kann unmöglich zulassen, dass du dich weiter um meine Töchter kümmerst. Nicht nach allem, was passiert ist.«
»Warum tust du mir das an, Gus?«
»Es geht hier nicht um dich, Bo. Es geht um die Sicherheit der Kinder und darum, was das Beste für sie ist.«
»Du weißt genau, dass ich ihnen niemals wehtun würde, niemals!«
Gus schüttelte wieder den Kopf. »Genau das weiß ich eben nicht. Wie kann ich sicher sein?«
»Ich bin ihre Mutter. Du kannst sie mir nicht wegnehmen.«
»Das wird der Richter entscheiden.«
Ich hasste es, wenn Gus sich so aufführte. Bei wichtigen Entscheidungen war er immer die Ruhe selbst. Und wenn es zu hitzigen Auseinandersetzungen kam, wich er ihnen einfach aus.
»Ich werde nicht zulassen, dass du mir die Mädchen wegnimmst, Gus«, sagte ich. »Ich werde das Sorgerecht bekommen.«
»Bo, wenn kein Wunder geschieht, wanderst du demnächst ins Gefängnis. Ich fürchte, in dieser Sache wird der Richter wohl kaum zu deinen Gunsten entscheiden.«
Dieser selbstgefällige, arrogante Mistkerl. Aber er hatte natürlich recht. Ich wollte auf keinen Fall einen Sorgerechtsstreit vor Gericht, denn das würde nur dazu führen, dass ich mich vor der ganzen Welt blamierte und meine Töchter verlor.
Also ließ ich zu, dass er die beiden zu sich nahm.
Ich engagierte einen Topanwalt. Er sagte, ich hätte zwei Optionen: Entweder beharrte ich auf meiner Unschuld und versuchte, einen Freispruch zu erwirken, was angesichts der erdrückenden Beweislast allerdings so gut wie unmöglich schien, oder aber ich bekannte mich schuldig; dann konnte ich immerhin mit einer Strafmilderung rechnen. Ich beschloss, seinem Rat zu folgen und mich schuldig zu bekennen. Das wirkte zudem ehrenhafter. Wenn ich mich reumütig und verzweifelt gab, bestand zumindest die Chance, meinen guten Ruf wiederherzustellen.
Der Anwalt wollte mildernde Umstände geltend machen. Ich war mir bewusst, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, der mich fast meine Familie gekostet hatte. Ich war am Boden zerstört gewesen, weil ich einerseits in Alice verliebt war, andererseits aber so tun musste, als wäre ich es nicht, um meiner Familie und insbesondere meinen Kindern nicht zu schaden. Als Gus mir dann eröffnet hatte, dass er mich verlassen wollte, und mir bewusst geworden war, dass meine Familie ohnehin auseinanderbrach, wollte ich es noch einmal mit Alice versuchen und wieder an die Liebesbeziehung anknüpfen, die ich zuvor hatte opfern müssen. Doch als Alice mich zurückgewiesen hatte, war das gesamte Leid der letzten Monate aus mir herausgebrochen, und ich hatte einen Moment lang die Kontrolle über mich verloren. Und als mir dann klar geworden war, was ich getan hatte, hatte ich sofort den Notarzt gerufen.
Ich war kein böser Mensch. Ich hatte nur unter einer enormen Anspannung gestanden. Eigentlich war ich gar nicht zurechnungsfähig gewesen.
Am Wochenende vor Prozessbeginn übernachteten die Mädchen bei mir. Am Samstag spielten wir Uno und backten gemeinsam. Anschließend bereitete ich eine Thermoskanne mit heißer Schokolade zu, und dann mummelten wir uns dick ein und wanderten mit dem Schlitten durch die Berge nach Helvellyn, wo es in der Nacht zuvor geschneit hatte.
Wir blieben stundenlang dort, stapften immer wieder die schneebedeckten Hänge hoch und rodelten hinunter, umgeben von den weißen Gesichtern der Berge.
Ich sah den beiden zu und speicherte die Erinnerung in meinem Gedächtnis.
Als wir wieder aufbrachen, schneite es kräftig. Unser Heimweg war beschwerlich. Der Winter hielt allmählich Einzug, bis ins Tal hinunter. Anfang Januar würde es überall bitterkalt und dunkel sein.
Ich hielt die Mädchen an den Händen, und wir stapften beharrlich weiter.
Zu Hause kochte ich Gemüsesuppe, die wir mit selbst gebackenen Brötchen verzehrten.
Danach badete ich die beiden, und als sie fertig waren, sagte ich: »Ihr könnt heute bei mir im Bett schlafen.«
Ich las ihnen alte Märchen und Gedichte vor, bis sie müde wurden. Dann gab ich beiden einen Gutenachtkuss, lächelte zärtlich und sah sie ganz lange an, damit sie mich im Gedächtnis behielten.
Als sie eingeschlafen waren, ging ich wieder nach unten in die Küche, um Minibaguettes, Tomatensuppe, Käsegebäck und Baiser zuzubereiten. Ich füllte den Kühlschrank und die Regale mit ihren Lieblingsspeisen.
Um Mitternacht legte ich mich zu ihnen, doch ich konnte nicht schlafen. In der Frühe, als sie noch träumten, stand ich wieder auf und machte einen Spaziergang. Die Berge waren von Frost überzogen, der See lag spiegelglatt. Mir war kalt. Der Himmel bog sich unter der Last des Schnees. Es würde lange dauern, bis ich ihn das nächste Mal sah.
Als ich zurückkam, schliefen sie noch immer.
Liebe Lola und liebe Maggie,
1. Ich habe euch lieb.
2. Macht Fehler. Das ist okay.
3. Esst genug.
4. Seid freundlich. Immer.
Mum xx