Folgen

92. Was wurde auf der Potsdamer Konferenz beschlossen? Zu ihrer letzten Kriegskonferenz nach Teheran und Jalta, dem dritten Treffen der Antihitlerkoalition, fanden sich die «Großen Drei», die Regierungschefs der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, in der zweiten Julihälfte 1945 in Potsdam ein. Die Konferenz hätte in der Hauptstadt des besiegten Deutschland stattfinden sollen, aber Berlin war fast völlig zerstört. So trafen sich vom 17. Juli bis 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof in Potsdam die Regierungs- bzw. Staatschefs der drei Großmächte USA (Harry S.Truman), UdSSR (Josef W. Stalin) und Großbritannien (Winston S. Churchill bis 26.7., nach dessen Wahlniederlage Clement R. Attlee). Zur Debatte standen die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze der alliierten Kontrolle Deutschlands, die Ausübung der obersten Regierungsgewalt in Deutschland durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der vier Besatzungsmächte im Alliierten Kontrollrat. Nahziele waren die Auflösung der NSDAP und aller nationalsozialistischen Organisationen und der Wehrmacht, die Entmilitarisierung Deutschlands, die Entnazifizierung und die Demokratisierung, die Entflechtung und Dezentralisierung der Wirtschaft, der Abbau von Industriekapazitäten, d.h. insbesondere der Rüstungswirtschaft, sowie territoriale und Reparationsprobleme. Zur Vorbereitung von Friedensregelungen mit den Verbündeten Deutschlands und schließlich mit Deutschland selber wurde ein Rat der Außenminister eingesetzt, der auch die deutsche Frage beraten sollte.

Strittig war in Potsdam u.a. die Verfügung über die deutsche Flotte. Beherrschende Probleme der Potsdamer Konferenz waren jedoch die Reparationen und die polnische Westgrenze. Die Westmächte stimmten als Kompromiss gegenüber der Sowjetunion vorbehaltlich einer endgültigen Lösung in einem Friedensvertrag der Abtretung deutscher Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie an Polen zu, ebenso der Annexion Königsbergs und des nördlichen Ostpreußen durch die Sowjetunion. Darüber hinaus wurde nach langem Dissens vereinbart, dass die Sowjetunion ihre und Polens Reparationsansprüche aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands befriedigen, die Westmächte und alle anderen Gläubiger Deutschlands durch Entnahmen aus den Westzonen entschädigt werden sollten. Damit war die Teilung Deutschlands, die in den beiden Staatsgründungen 1949 auf vier Jahrzehnte verfestigt wurde, beschlossen, ohne dass das die Konferenzteilnehmer beabsichtigt hätten. Aber da sie sich über die deutschen Reparationen nicht einigen konnten und daher das Prinzip der Selbstbedienung der Besatzungsmächte aus ihrer Zone festlegten, beförderten sie über den wirtschaftlichen Einfluss die Teilung Deutschlands. Stalin hatte eine feste Reparationssumme gefordert, was die Westmächte nicht konzidierten, aus dem Kompromiss der Selbstbedienung der jeweiligen Besatzungsmacht aus ihrer Besatzungszone entwickelte sich rasch der Gegensatz der einzelnen Zonen und die Konfrontation im Alliierten Kontrollrat.

Zu den folgenreichsten Beschlüssen gehörte die «ordnungsmäßige Überführung» der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn in das verkleinerte Deutschland. Die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mittel-Europa, als «ethnische Säuberung» (den Begriff gab es noch nicht) und als dauerhaft friedenstiftende Maßnahme gedacht, war das schlimmste Ergebnis der Potsdamer Konferenz. Mit den Geflohenen waren es schließlich fünfzehn Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren. Dass sie unter der Ideologie «Gewinnung von Lebensraum» als Minderheiten instrumentalisiert worden waren, dass die meisten Vertriebenen als Individuen unschuldig waren, änderte nichts an ihrem kollektiven Schicksal, und in den von nationalsozialistischer deutscher Herrschaft befreiten Ländern hatte kaum jemand Mitleid mit den Deutschen, die das Sudetenland, Schlesien, Pommern und Ostpreußen sowie die deutschen Siedlungsgebiete in Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und der Tschechoslowakei verlassen mussten, und die bei der Austreibung misshandelt, gedemütigt und beraubt wurden.

Die Potsdamer Konferenz der Sieger der Antihitlerkoalition war ein Kongress der Ratlosigkeit und der Uneinigkeit. Beschlossen im völkerrechtlichen Sinne wurde nichts, aber die Verabredungen und Kompromisse hatten, obwohl das «Potsdamer Abkommen» nur ein Konferenzkommuniqué war, erhebliche und nachhaltige Wirkungen.

93. Welche Ziele wurden mit dem Morgenthau-Plan verfolgt? Unter dem Eindruck, die amerikanische und die britische Politik verfolge mit ihren Kriegszielen gegenüber NS-Deutschland eine zu wenig konsequente Linie, gab der US-Finanzminister Henry Morgenthau jr. einen Plan zur Behandlung Deutschlands nach der Niederlage in Auftrag. Das war im August 1944. In der Denkschrift, die Morgenthau Anfang September 1944 vorlegte, wurde die Zerstückelung Deutschlands propagiert. Nach umfangreichen Gebietsabtretungen sollten drei deutsche Staaten gebildet und die Wirtschaftsregionen an Rhein und Ruhr sowie die Nordseeküste internationalisiert werden. Außer der völligen Entwaffnung und Abrüstung Deutschlands und großen Reparationsleistungen (auch durch Zwangsarbeit) sollten nach dem Morgenthau-Plan die Industriebetriebe völlig demontiert, die Bergwerke stillgelegt und zerstört werden. Bei Kontrolle der ganzen Wirtschaft auf 20 Jahre würde Deutschland ein Agrarstaat sein, der keine Möglichkeit zu aggressiver Politik mehr haben würde.

Der Plan enthielt, in der jeweils radikalsten Form, alle Vorschläge und Maßnahmen, die in der Kriegszieldebatte der Alliierten bis dahin schon einmal aufgetaucht waren. Morgenthaus Vorschläge sollten die gemäßigten Deutschlandpläne des alliierten Oberkommandos unter Eisenhower, der interalliierten European Advisory Commission und der Fachressorts in Washington und London korrigieren.

Morgenthau, mit dem US-Präsidenten Roosevelt befreundet, schien Erfolg zu haben, als bei der britisch-amerikanischen Konferenz in Quebec am 15. September 1944 Premierminister Churchill und Präsident Roosevelt eine (schon abgemilderte) Version des Morgenthau-Plans paraphierten. Cordell Hull, der amerikanische Außenminister, protestierte jedoch ebenso wie sein britischer Kollege Anthony Eden schon am folgenden Tag gegen den Plan, der amerikanische Kriegsminister Stimson nannte das Programm gar «ein Verbrechen gegen die Zivilisation». Als der Morgenthau-Plan durch eine gezielte Indiskretion am 21. September 1944 in die Öffentlichkeit kam, war die Reaktion so negativ, dass auch Präsident Roosevelt sich distanzierte. Der Morgenthau-Plan verschwand bereits Ende September 1944 in der Versenkung, ohne von den zuständigen Gremien jemals formell diskutiert worden zu sein.

Für die spätere Besatzungs- und Deutschlandpolitik blieb der Morgenthau-Plan ohne Bedeutung. Aber Goebbels und Hitler hatten den «jüdischen Mordplan» zur «Versklavung Deutschlands» mit so großem Erfolg für ihre Durchhaltepropaganda benutzt, dass bei vielen der Glaube entstand, das Programm sei 1945 realisiert worden. In der rechtsextremen Publizistik spielt der Morgenthau-Plan diese Rolle bis zum heutigen Tag.

94. Was beabsichtigte die Umerziehung der Deutschen? Wenige Anstrengungen der westlichen Besatzungsmächte haben so negative Emotionen ausgelöst wie die Maßnahmen, die als «re-education» oder «re-orientation» Bestandteil der Demokratisierung waren. Es ging zunächst darum, den Deutschen nach zwölf Jahren der Diktatur und Indoktrination wieder Anschluss an das internationale Kulturleben zu verschaffen und sie zu demokratischem Denken und Verhalten anzuleiten. Theater, Kinos, Bibliotheken, Konzertsäle waren die ersten Orte, an denen amerikanische, britische und französische Kulturoffiziere mit Bildungsangeboten wetteiferten. Entgegen nachträglicher Vermutung mancher Deutscher wurde keinerlei Zwang bei der «Umerziehung» ausgeübt (die ersten spontanen Reaktionen, als alliierte Offiziere nach der Befreiung von Konzentrationslagern die Bevölkerung zwangen, das Grauen in Augenschein zu nehmen, gehörten nicht zum Demokratisierungsprogramm). Zum Angebot der USA gehörten Austauschprogramme für Schüler, Studenten und Lehrer, die Förderung von Schülerzeitungen und Bürgerforen als Orte der öffentlichen Diskussion.

Ein anderer Aspekt der Umerziehungspolitik war die Veränderung traditioneller oder während der NS-Herrschaft entstandener undemokratischer Strukturen in Deutschland. Am nachhaltigsten gelang dies in den Westzonen auf dem Gebiet der Massenkommunikation: Die Lizenzierung der Zeitungen diente nicht nur deren Überwachung, sondern vor allem der Einübung von demokratischem Journalismus durch politische Pluralität in Verlag und Redaktion, Trennung von Nachricht und Meinung, objektive Berichterstattung anstelle des Verlautbarungs- und Propagandajournalismus der NS-Zeit. Von nachhaltigem Einfluss war auch die Rundfunkpolitik der Alliierten. Das System der staatsunabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik wurde nach britischem Vorbild (BBC) eingeführt, es bedurfte langer Überzeugungsarbeit («Umerziehung»), die deutschen Politiker von ihren Vorstellungen eines staatlichen Rundfunks abzubringen.

Weniger erfolgreich waren die Alliierten bei ihren Versuchen zur Schul- und Hochschulreform, hier blieb es, ebenso wie im öffentlichen Dienst, bei den traditionellen Strukturen. Einige der alliierten Anregungen zur Verbreiterung und Demokratisierung des Bildungsangebots wurden durchgesetzt (Schulgeldfreiheit, Erweiterung der Schulpflicht und der Lehrpläne durch gemeinschaftskundliche Fächer), andere wurden erst im Zuge der Bildungsreform in den 70er Jahren (Gesamtschule) wieder verfolgt.

Hindernisse für die Umerziehung bildeten nicht nur die mangelnde Bereitschaft auf deutscher Seite, den guten Rat französischer, britischer und amerikanischer Experten anzunehmen (aus Trotz oder im Gefühl der eigenen kulturellen Überlegenheit), sondern auch die Uneinigkeit der vier Besatzungsmächte. Sie hatten zwar gemeinsam beschlossen, eine «endgültige Umgestaltung des politischen Lebens auf demokratischer Grundlage» herbeizuführen, um «die friedliche Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben» vorzubereiten, in der Praxis wurde die alliierte Politik, auch die der «Umerziehung», in den vier Besatzungszonen ganz unterschiedlich vollzogen. Entsprechend den divergierenden Demokratievorstellungen entwickelten sich dann die Ostzone und die drei Westzonen auch kulturell auseinander.

Vom Scheitern der «Umerziehung» zu sprechen wäre aber ebenso falsch wie überheblich angesichts der dauerhaften Erfolge der Demokratisierungspolitik, die sich in Institutionen der Bundesrepublik (Presse, Rundfunk, Bildungswesen) bis heute zeigen.

95. Gibt es eine Kollektivschuld? Die Behauptung, die Alliierten hätten die These einer Kollektivschuld aller Deutschen an den Verbrechen des Hitler-Regimes propagiert und darauf gestützt die Bestrafung und Umerziehung der Deutschen sowie die Maßnahmen im Zuge der Entmilitarisierung, der Demontage von Industriebetrieben und weitere wirtschaftliche Sanktionen (Reparationen) betrieben, gehört seit langem zur Argumentation in der rechten Publizistik, oft wird auch behauptet, an den Folgen der Kollektivschuldthese leide das deutsche Volk heute noch. Die Politik der Alliierten hat aber niemals eine Kollektivschuld der Deutschen behauptet oder zur Begründung ihrer Politik nach 1945 benützt.

In der öffentlichen Meinung der angelsächsischen Länder spielte allerdings während des Zweiten Weltkriegs der Gedanke einer deutschen Kollektivschuld eine Rolle. In den Medien wurden, gegründet auf die Nachrichten über die Judendeportationen, die Konzentrationslager, die deutsche Kriegführung, die Besatzungspolitik, Betrachtungen über den barbarischen «deutschen Nationalcharakter» angestellt, Gräueltaten wurden als «typisch deutsch» angeprangert und Verbindungslinien aus der deutschen Geschichte (Friedrich der Große, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche als Kronzeugen für Eroberungslust, Machtbesessenheit, Herrenmenschentum) zum Nationalsozialismus gezogen. Solcher Argumentation traten jedoch ebenso früh wie energisch deutsche Emigranten in den USA und Großbritannien entgegen, die vor Hitler ins Exil geflohen waren. In der sowjetischen Kriegspropaganda spielte die Idee einer Kollektivschuld überhaupt keine Rolle.

In den Nürnberger Prozessen wurden die Angeklagten als Protagonisten des NS-Regimes mit dem Nachweis ihrer individuellen Schuld verurteilt. Im Verfahren gegen die IG Farben wurde im Urteil eindeutig klargestellt: «Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt.»

Prominente Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Bundespräsident Theodor Heuß, der Theologe Karl Barth und der Philosoph Karl Jaspers bekannten sich zur kollektiven Verantwortung des deutschen Volkes als einer moralischen Forderung. In diesem Sinne wurde das Problem in den ersten Nachkriegsjahren auch öffentlich diskutiert. In der «Stuttgarter Erklärung» der Evangelischen Kirche Deutschlands sprachen die Bischöfe am 19. Oktober 1945 von einer «Solidarität der Schuld», in der man sich in Übereinstimmung mit dem ganzen deutschen Volk wisse. Als moralisches und theologisches Postulat (auch in der Version als «kollektive Scham») ist das Problem der Mitverantwortlichkeit für das, was in deutschem Namen geschah, immer noch aktuell, auch über den Kreis derer hinaus, die damals Hitlers Politik billigten und seine Erfolge bejubelten. Als politisches und juristisches Problem hat die Kollektivschuldthese dagegen nie real existiert.

96. Warum wurden die Deutschen aus dem Osten vertrieben? Mit dem Zweiten Weltkrieg begann im Herbst 1939 in Europa eine der größten Umsiedlungs-, Emigrations- und Vertreibungswellen, die die Geschichte kennt. Ausgelöst wurde die Völkerwanderung durch nationalsozialistische Ideologie und Politik. Es waren die Folgen jener Schlagworte, an die zu viele in Deutschland zu lange glaubten – die Phrasen vom «Volk ohne Raum», vom Recht des Stärkeren, das die Unterwerfung, Beherrschung, ja Vernichtung «minderwertiger» Völker naturgesetzlich erlaube. Die erste Phase der riesigen Bevölkerungsbewegung erfasste über neun Millionen Menschen, die in einem Raum, der von Finnland im Norden, der Ukraine im Osten, Griechenland im Süden und Frankreich im Westen begrenzt war, rückgesiedelt, umgesiedelt, vertrieben, «eingedeutscht», «umgevolkt» oder verschleppt wurden.

Vorübergehende Nutznießer der nationalsozialistischen Volkstumspolitik waren die «Volksdeutschen»: Menschen deutscher Abstammung, die außerhalb der Grenzen des «Altreichs» (1937) lebten. Das signifikanteste Beispiel bietet die nationalsozialistische Unterwanderung der sudetendeutschen «Volksgruppe» in der Tschechoslowakei, mit der das Münchner Abkommen von 1938 vorbereitet und die Zerschlagung der Tschechoslowakei als Staat eingeleitet wurde.

Auf Seiten der Alliierten stand lange vor Kriegsende fest, dass Polen in der Nachkriegszeit auf deutsche Kosten entschädigt werden sollte; und zwar nicht nur für die Gebietsverluste, die es im Osten zugunsten der Sowjetunion hinnehmen musste. Darüber hinaus sollte nach dem Willen der Alliierten das deutsch-polnische Problem durch die Vertreibung aller Deutschen aus Polen – auch aus dem künftigen polnischen Territorium – radikal gelöst werden. Lange vor der Potsdamer Konferenz vom Sommer 1945 war auch beschlossen, dass das Sudetenland wieder Bestandteil der Tschechoslowakei sein würde. Vom Gebiet des «Altreichs» sollten Ostpreußen, dessen nördliche Hälfte die Sowjets beanspruchten, und die östlich der Oder-Neiße-Linie liegenden Teile von Pommern, der Mark Brandenburg und Schlesiens abgetrennt werden und unter polnischer Verwaltung bleiben, unter die sie die Sowjets bereits am 21. April 1945 gestellt hatten. Die Ausweisung der Deutschen aus ihrem Staatsgebiet betrieben dann aber nicht nur Polen, sondern auch die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien. Die Gesamtbilanz nennt über 16 Millionen Menschen, die nach dem Ende der NS-Herrschaft das Schicksal von Flucht und Vertreibung traf und die in der Bundesrepublik sowie in der DDR eine neue Heimat finden mussten.

Die Vertreibung der Deutschen sollte, so hatten es die Alliierten auf ihren Kriegskonferenzen in Teheran (1943) und Jalta (1945) erörtert und in Potsdam besiegelt, innerhalb der neuen Grenzen Frieden stiften und die Minderheitenprobleme ein für allemal bereinigen, wie Churchill im britischen Unterhaus am 15. Dezember 1944 erklärte: «Denn die Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen, wie zum Beispiel im Fall Elsaß-Lothringen. Reiner Tisch wird gemacht werden». Für die Tschechoslowakei hatte Staatspräsident Benesch dasselbe, die restlose Austreibung der Minderheit von 3,5 Millionen Sudetendeutschen, bereits 1941 im Londoner Exil gefordert.

Viele Deutsche verloren bei Flucht und Vertreibung ihr Leben. Dazu gehörten auch die Opfer von Rache- und Mordaktionen, an denen Tschechen ebenso beteiligt waren wie Rotarmisten, polnische Milizionäre und jugoslawische Partisanen. Die genaue Zahl dieser Opfer ist nicht zu bestimmen, sie liegt zwischen 100.000 und 250.000.

Zu Mitleid mit den Millionen betroffener Deutscher neigte kaum jemand. Zu groß waren bei den östlichen Nachbarn Deutschlands die Leiden, die ihnen nationalsozialistischer Germanisierungswahn und deutsche Besatzungspolitik in den Jahren des Zweiten Weltkriegs zugefügt hatten. Andererseits – das galt vor allem für die Westmächte – hielt man es aber auch für möglich, den gigantischen Bevölkerungstransfer in einigermaßen humaner Form durchzuführen. Das war, wie die Leiden und Verluste der Flüchtlinge und Vertriebenen bewiesen, aus vielen Gründen eine irrige Annahme.

Die erste Nachkriegsvolkszählung vom 29. Oktober 1946 erfasste in den vier Besatzungszonen über 9,6 Millionen aus ihrer Heimat vertriebene Deutsche, davon in der sowjetischen Zone 3,6 Millionen, in der britischen 3,1 Millionen, in der amerikanischen 2,7 Millionen, in Berlin 100.000 und in der französischen Besatzungszone 60.000. Bis zur nächsten Volkszählung vom 1. September 1950 hatte sich diese Zahl allein für das Bundesgebiet (und ohne die innerdeutschen Flüchtlinge aus der DDR) noch einmal um über zwei Millionen auf einen Anteil von 16,4 % (1946: 13,5 %) der Gesamtbevölkerung erhöht.

97. Was ist Beutekunst? Der Begriff ist im Konversationslexikon nicht zu finden; aus dem Internet erfährt man den amtlichen Sprachgebrauch «Rückführung von Kulturgut (sog. Beutekunst)» und dass darunter die Rückgabe von mehreren 100.000 Kunstwerken, Büchern und Archivalien zu verstehen ist, die von der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg in Deutschland erbeutet wurden. Die mittelalterlichen Glasfenster der Marienkirche in Frankfurt/Oder gehören zu den Kulturschätzen, die inzwischen zurückgegeben wurden. Andere werden beansprucht, die Behandlung des Problems hat zu politischen Konflikten geführt, aus denen Auswege schwer erkennbar sind.

Darüber wird aber zu leicht vergessen, dass Kunst und Kulturschätze auch den Nationalsozialisten willkommene Beute waren: Alfred Rosenberg, der Chefideologe der NSDAP, war an der Spitze der Behörde «Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg» auf monströse Weise effektiv: Seit Oktober 1940 leitete er den organisierten Kunstraub, mit dem in allen besetzten Ländern Gemälde und Skulpturen, Bibliotheken und Archive, wissenschaftliches Gerät und Kulturschätze zusammengestohlen wurden – bis Oktober 1944 waren es 427.000 Bruttoregistertonnen Raubgut, darunter das Bernsteinzimmer aus St. Petersburg. Die Beute wurde in 1,5 Millionen Eisenbahnwaggons nach Deutschland transportiert, soweit sie nicht unterwegs zugrunde ging. Mit dem «Sonderauftrag Linz» waren andere Kunsträuber im Auftrag Hitlers unterwegs, um Kostbarkeiten für ein Museumsprojekt in der «Führerstadt» Linz an der Donau zusammenzutragen. Und Reichsmarschall Hermann Göring ließ durch ein ihm unterstehendes «Devisenschutzkommando» für seine Privatsammlungen alles stehlen, was zu fassen war. Nicht zuletzt jüdischer Besitz (etwa der der Familie Rothschild in Frankreich) wurde geplündert und unter den interessierten Machthabern aufgeteilt. Kunstraub war also zunächst und zuerst ein Delikt der Nationalsozialisten und des Dritten Reiches.

98. Wann wurde die Teilung Deutschlands beschlossen? Eine Teilung Deutschlands ist nie beschlossen worden. Die Alliierten der Antihitler-Koalition planten seit Ende 1943 lediglich, Deutschland nach dem Sieg für Besatzungszwecke vorübergehend in drei Zonen unter der Hoheit der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens einzuteilen. Auf der Krim-Konferenz im Februar 1945 verständigten sich die drei Großmächte darauf, auch Frankreich zu beteiligen und eine vierte Besatzungszone einzurichten. Die Verwaltung Deutschlands sollte jedoch gemeinsam durch ein Gremium der vier Mächte (Alliierter Kontrollrat in Berlin) erfolgen. Auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 wurde die Absicht bekräftigt, Deutschland auch als wirtschaftliche Einheit zu behandeln.

Die Uneinigkeit der Sieger im Kalten Krieg, zunächst über die zu leistenden Reparationen, führte dann schrittweise zur Teilung Deutschlands: die Fusion der amerikanischen mit der britischen Zone 1947, Marshall-Plan und Währungsreform in den Westzonen (1948) als Folge des Beschlusses, auf dem Gebiet der drei Westzonen den provisorischen Staat Bundesrepublik zu errichten (Londoner Sechs-Mächte-Konferenz 1947), führten zu Reaktionen der Sowjetunion wie der Blockade Berlins 1948/1949 und der Gründung der DDR im Oktober 1949 im Gegenzug zur Gründung des Weststaats im September 1949. Die Teilung Deutschlands war damit vollzogen, sie war Folge der Interessengegensätze der Großmächte im Kalten Krieg, nicht Ergebnis von Aufteilungs- und Zerstückelungsplänen, wie sie während des Zweiten Weltkriegs zwar gelegentlich artikuliert, aber nicht verfolgt worden waren.

99. Waren die Nürnberger Prozesse Siegerjustiz? Lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Alliierten einig, dass die Verantwortlichen für die nationalsozialistische Herrschaft vor einem internationalen Gerichtshof im Namen der 1945 in Nachfolge des Völkerbundes entstandenen Vereinten Nationen zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Die Bestrafung der «Hauptkriegsverbrecher» war im November 1943 angekündigt worden. Das Gerichtsstatut wurde im August 1945 veröffentlicht, die Tatbestände lauteten «Verschwörung gegen den Frieden», «Verbrechen gegen den Frieden», «Kriegsverbrechen», «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Gemeint waren damit Morde und Misshandlungen, Deportation zur Sklavenarbeit, Verfolgung und Vernichtung von Menschenleben. Der Anklagepunkt «Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs» jedoch war neu in der Geschichte des Rechts, und nährte den Verdacht, dass das juristische Fundament des ganzen Hauptkriegsverbrecherprozesses auf schwankendem Grund erbaut sei.

Dass die Sieger über die Verlierer zu Gericht saßen, um Hitlers Angriffskrieg als Völkerrechtsbruch zu ahnden, erschien manchen auf der Verliererseite eher als Akt von «Sieger- oder Rachejustiz» denn als Anstrengung zur Fortentwicklung des internationalen Rechts. Über der Diskussion, ob der Internationale Gerichtshof nicht den Grundsatz «keine Strafe für eine Tat, die zur Zeit der Ausführung noch nicht unter Strafe stand» verletzte, konnte allerdings zu leicht vergessen werden, dass zur Verurteilung der Männer auf der Anklagebank die herkömmlichen deutschen Strafgesetze völlig ausreichten und dass kein einziger nur wegen des neuen Straftatbestandes «Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges» verurteilt wurde.

Der Internationale Gerichtshof trat am 18. Oktober 1945 in Berlin zur Eröffnungssitzung zusammen, die Verhandlungen begannen am 20. November 1945 in Nürnberg. Richter wie Ankläger waren erstklassige Juristen aus vier Nationen. Angeklagt waren 24 Personen und sechs Kollektive, die im Sinne der Anklage als «verbrecherische Organisationen» definiert waren: Reichsregierung, NSDAP, SS, Geheime Staatspolizei, SA, Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht. Für diese Organisationen saßen die Angeklagten auch stellvertretend auf der Anklagebank. Es waren aber statt der 24 Angeklagten nur 21 Männer, die an 218 Prozesstagen bis zum Urteilsspruch am 1. Oktober 1946 im Nürnberger Gerichtssaal zur Verantwortung gezogen werden konnten. Der Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der «Deutschen Arbeitsfront», Robert Ley, hatte sich durch Selbstmord dem Gericht entzogen, gegen einen anderen, den Leiter der Partei-Kanzlei Martin Bormann, wurde in Abwesenheit verhandelt, ein dritter, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, war verhandlungsunfähig.

Angeklagt war die Führungselite des NS-Regimes – soweit noch greifbar – im «Hauptkriegsverbrecherprozess», darunter der ehemalige «Reichsmarschall» Hermann Göring, Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, Außenminister Joachim von Ribbentrop, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der Herausgeber des antisemitischen Hetzblatts «Der Stürmer» Julius Streicher, der Großadmiral und Hitlernachfolger Karl Dönitz, Reichsinnenminister Wilhelm Frick, Rüstungsminister Albert Speer, Generaloberst Alfred Jodl und weniger bedeutende wie der Abteilungsleiter im Reichspropagandaministerium Hans Fritzsche, Hitlers «Steigbügelhalter» Franz von Papen, Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht. Die drei Letztgenannten wurden freigesprochen, was heftige Kritik in der Öffentlichkeit erregte.

Verhältnismäßig glimpflich davon kamen unter anderem Dönitz (10 Jahre Gefängnis), der «Reichsjugendführer» Baldur von Schirach und Hitlers Leibarchitekt und Rüstungsminister Speer (20 Jahre Gefängnis). Rudolf Heß musste seine lebenslange Haft als Einziger ganz verbüßen. Alle anderen Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil wurde im Morgengrauen des 16. Oktober 1946 vollstreckt. Hermann Göring jedoch hatte sich auf ungeklärte Weise Gift verschafft und am Vorabend seiner Hinrichtung Selbstmord begangen.

Die Absicht, dem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg weitere Prozesse unter gemeinsamer Gerichtshoheit der Alliierten folgen zu lassen, ließ sich im beginnenden Kalten Krieg nicht mehr realisieren. In allen vier Besatzungszonen (und in den von deutscher Okkupation befreiten Nationen wie Polen, den Niederlanden, Italien) fanden deshalb in der Folgezeit einzelne Prozesse statt, bei denen nationalsozialistische Verbrechen von Militärgerichtshöfen der Besatzungsmächte untersucht und abgeurteilt wurden.

Am meisten Aufsehen erregten die zwölf Verfahren, die die Amerikaner in Nürnberg unmittelbar im Anschluss an das Hauptkriegsverbrecher-Tribunal führten. Diese zwölf «Nachfolge-Prozesse» dauerten bis Mitte 1949. Sie boten einen Querschnitt durch zwölf Jahre nationalsozialistischer Politik, Diplomatie und Wirtschaft: Im Ärzteprozess ging es um «Euthanasie» und Menschenversuche, im Milch-Prozess (benannt nach dem Generalinspekteur der Luftwaffe Erhard Milch) um die Kriegsrüstung, im Flick-Prozess (nach Friedrich Flick, einem der prominentesten Großunternehmer im NS-Staat) um Zwangsarbeit und Raub ausländischen Eigentums, im Südost-Generäle-Prozess standen Geiselerschießungen auf dem Balkan zur Debatte, im Fall 8 waren Mitarbeiter des «Rasse- und Siedlungshauptamts der SS» wegen der Ermordung von Juden und Polen angeklagt, im Wilhelmstraßenprozess standen Diplomaten und andere Funktionäre vor Gericht, im Einsatzgruppen-Prozess waren die Mordaktionen an Juden in den besetzten Ostgebieten Gegenstand der Anklage.

100. Wie lange muss Deutschland noch Wiedergutmachung leisten? An die Opfer nationalsozialistischen Unrechts leistet die Bundesrepublik Entschädigungszahlungen. Anspruch auf Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (1956 verabschiedet, mehrfach novelliert) haben Personen, die aus politischen, rassistischen, religiösen und weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und Schaden an Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und Fortkommen erlitten. Die Frist zur Anmeldung entsprechender Ansprüche lief am 1. April 1958 ab. Die Leistungen erfolgen als Rentenzahlungen. 40–50 Milliarden EURO sind bis zur Gegenwart auf dieser Rechtsgrundlage gezahlt worden.

Nach dem Bundesrückerstattungsgesetz vom 19. Juli 1957 werden Vermögensverluste entschädigt. Neben diesen individuellen Wiedergutmachungsleistungen, die mit dem Tod der Anspruchsberechtigten enden, sind globale Leistungen an Staaten und internationale Organisationen erfolgt. Nach dem deutsch-israelischen Wiedergutmachungsabkommen von 1952 sind einmalig drei Milliarden DM als Aufbauhilfe an Israel sowie 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference (eine Organisation, die Ansprüche der nicht in Israel lebenden Juden vertritt) gezahlt worden. Regelmäßige globale Zahlungen, etwa an Israel, gibt es entgegen landläufiger Vermutung nicht.

101. Wen betraf die Entnazifizierung? Etwa 8,5 Millionen Deutsche waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Sie bildeten den Kern von Hitlers Parteigängern und mussten, so hatten es die Alliierten noch während des Krieges beschlossen und in Potsdam 1945 bekräftigt, der politischen Säuberung in Gestalt der «Entnazifizierung» unterworfen werden.

Der Alliierte Kontrollrat in Berlin erließ im Januar 1946 eine erste Entnazifizierungsdirektive, und im Oktober 1946 wurden Richtlinien veröffentlicht, wie aktive Nationalsozialisten, Helfer und Nutznießer des NS-Regimes behandelt werden sollten. Zur Durchführung der Potsdamer Grundsätze wurden nach dieser Direktive zwecks «gerechter Beurteilung der Verantwortlichkeit» und zur «Heranziehung zu Sühnemaßnahmen» fünf Gruppen gebildet: «1. Hauptschuldige, 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer» und «5. Entlastete (Personen der vorstehenden Gruppen, welche vor einer Spruchkammer nachweisen können, dass sie nicht schuldig sind)».

Die Entnazifizierungsprozedur, die der Kontrollrat damit in gleichförmige Bahnen lenken wollte, war freilich längst im Gang, und zwar in den einzelnen Besatzungszonen auf unterschiedliche Weise. Durch ihren moralischen und zugleich bürokratischen Rigorismus taten sich die Amerikaner hervor, in der britischen Zone wurde die Säuberung weniger streng gehandhabt, in der französischen Zone gab es regionale Unterschiede und diverse Kurswechsel der Besatzungsmacht. In den beiden letztgenannten Zonen wurde der Säuberungsprozess mehr als pragmatische Angelegenheit betrachtet, bei der das Schwergewicht darauf lag, die Eliten auszuwechseln. In der britischen und der französischen Zone neigte man bei der anzuwendenden Methode mehr politischen und administrativen als justizförmigen Prozeduren zu, passte sich aber dann den amerikanischen Vorstellungen an, die auch in der Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom Oktober 1946 dominierten.

In der sowjetischen Besatzungszone wurde die Entnazifizierung am konsequentesten durchgeführt und am schnellsten abgeschlossen. Die Entnazifizierung erfolgte hier im Zusammenhang mit der «antifaschistisch-demokratischen Umwälzung». Die Entfernung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder aus allen wichtigen Stellungen war Bestandteil dieser politischen und sozialen Neustrukturierung, die unter dem Schlagwort «Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und der Monopolbourgeoisie» die SED als bestimmende Kraft durchsetzen sollte.

Ende Oktober 1946 standen in der sowjetischen Zone eigene «Richtlinien für die Bestrafung der Naziverbrecher und die Sühnemaßnahmen gegen die aktivistischen Nazis» zur Verfügung. Sie waren von einem gemeinsamen Ausschuss der im «Demokratischen Block» unter Dominanz der SED zusammengefassten Parteien verfasst worden. Der Katalog der Sühnemaßnahmen beinhaltete: «1. Entlassung aus öffentlichen Verwaltungsämtern und Ausschluss von Tätigkeiten, die öffentliches Vertrauen erfordern; 2. zusätzliche Arbeits-, Sach- und Geldleistungen; 3. Kürzung der Versorgungsbezüge und Einschränkung bei der allgemeinen Versorgung, solange Mangel besteht; 4. Nichtgewährung der politischen Rechte einschließlich des Rechts auf Mitgliedschaft in Gewerkschafts- oder anderen Berufsvertretungen und in den antifaschistisch-demokratischen Parteien.»

Aber wie in den Westzonen wurde auch in der Ostzone bei der Entnazifizierung Rücksicht genommen auf Fachleute wie Techniker, Spezialisten und Experten, die für das Funktionieren bestimmter Einrichtungen oder für den Wiederaufbau unentbehrlich waren. Ende 1946 waren in der sowjetischen Besatzungszone trotzdem insgesamt 390.478 ehemalige NSDAP-Mitglieder entlassen bzw. nicht wieder eingestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Säuberungsverfahren neu organisiert.

Unter direkter Regie des sowjetischen Geheimdienstes waren in der sowjetischen Besatzungszone Internierungslager eingerichtet worden, in denen – wie in den Westzonen – ehemalige Nazis arretiert waren, um sie zur Rechenschaft ziehen zu können. Die Speziallager unterschieden sich freilich in einem Punkt grundlegend von den Internierungslagern der Westzonen: Sie dienten neben der Inhaftierung von Nationalsozialisten auch dazu, Gegner der gesellschaftlichen Umwälzung (Sozialdemokraten, Liberale und Konservative) aus dem Verkehr zu ziehen und mundtot zu machen. Schlechte Behandlung war ebenso charakteristisch wie die Willkür, mit der inhaftiert wurde. Etwa 50.000 Menschen waren im Laufe der fünf Jahre in diesen Lagern, für die auch ehemalige Konzentrationslager wie Buchenwald und Sachsenhausen genutzt wurden, inhaftiert, etwa 12.000 sind ums Leben gekommen und wurden in Massengräbern beerdigt. Die Vorgänge waren bis zum Ende der DDR tabuisiert.

Vertreter der Parteien, der Gewerkschaften, der Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes, der Frauen- und Jugendausschüsse sowie der Industrie- und Handelskammern gehörten den Entnazifizierungskommissionen an.

Ab Februar 1947 wurde stärker zwischen nominellen NSDAP-Mitgliedern und Aktivisten unterschieden. Die erste Gruppe sollte so schnell wie möglich integriert werden, weil man sie zum Wiederaufbau brauchte. Die letzte Phase der Entnazifizierung wurde im August 1947 durch den Befehl Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration eingeleitet. Der SMAD-Befehl gab den Mitläufern das Wahlrecht ganz und die übrigen bürgerlichen Rechte weitgehend zurück. Den deutschen Gerichten wurde gleichzeitig mit der Auflösung der meisten Entnazifizierungskommissionen die Aburteilung der NS- und Kriegsverbrecher übertragen. Bis zum März 1948 waren seit Beginn der Entnazifizierung in der Sowjetzone insgesamt 520.734 Personen aus ihren Ämtern und Funktionen entlassen bzw. nicht wieder eingestellt worden. Das war die rechnerische Schlussbilanz der politischen Säuberung in der sowjetischen Besatzungszone, als sie durch Befehl der Militärregierung im Frühjahr 1948 abgeschlossen wurde.

Zur Entnazifizierungspraxis in der amerikanischen Zone gab es Parallelen in Gestalt der gemeinsamen Intentionen bei der Säuberungs- bzw. Rehabilitierungsprozedur. Es gab aber auch einen ganz erheblichen Qualitätsunterschied. In der Ostzone lag nicht nur das Schwergewicht auf der Räumung von Positionen im öffentlichen Dienst (und selbstverständlich bei Schlüsselpositionen in Industrie und Wirtschaft), sondern in zwei Bereichen waren die Entlassungen definitiv und irreversibel, nämlich in der Inneren Verwaltung und in der Justiz.

Die Amerikaner hatten das Problem der politischen Säuberung in ihrer Zone mit denkbar größtem Elan angepackt, um alle ehemaligen Nazis aus dem öffentlichen Leben und der Wirtschaft zu entfernen. Zur Ermittlung dieses Personenkreises diente der berühmt gewordene Fragebogen. Auf 131 Fragen wurde wahrheitsgetreue Antworten verlangt. Auslassung und Unvollständigkeit waren als Delikt gegen die Militärregierung mit Strafe bedroht.

Die Durchführung der Entnazifizierung lag in der US-Zone bis zum Frühjahr 1946 in der Zuständigkeit der Militärregierung. Dann wurde für die Länder der US-Zone ein «Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus» verabschiedet. Es bildete fortan die Rechtsgrundlage der Säuberung, die damit in deutsche Hände gelegt war. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich in der amerikanischen Zone im Laufe der Entnazifizierung ergab, war groß. Dreizehn Millionen Menschen vom vollendeten 18. Lebensjahr an hatten ihre Fragebogen ausgefüllt, knapp ein Drittel der Bevölkerung war vom Befreiungsgesetz betroffen. Etwa zehn Prozent wurden dann schließlich verurteilt. Und tatsächliche Strafen oder Nachteile von Dauer erlitt weniger als ein Prozent der zu Entnazifizierenden überhaupt. Die Prozedur der Entnazifizierung in der amerikanischen Zone, die mit einer gewissen Zeitverzögerung auch in den beiden anderen Westzonen angewendet wurde, erfolgte vor Spruchkammern.

Die Spruchkammern, deren es insgesamt über 545 in der US-Zone gab, waren Laiengerichte mit öffentlichen Klägern. Oberste deutsche Instanz waren die Befreiungsministerien der Länder Bayern, Württemberg-Baden, Hessen und Bremen, beaufsichtigt wurde die Entnazifizierung von der amerikanischen Militärregierung. Jeder Fall war individuell zu würdigen. Ein wenig Entlastung brachte die Jugendamnestie vom August 1946, die ab Jahrgang 1919 galt, und die Weihnachtsamnestie von 1946, die Kriegsbeschädigte und sozial Schwache begünstigte. Für die Spruchkammern blieben 930.000 Einzelfälle übrig.

Der Elan, die Reste des Nationalsozialismus zu beseitigen, die politische Säuberung zu vollziehen, war spätestens ab Frühjahr 1948 verschwunden. Die Besatzungsmacht lockerte die Kontrollen, und um die Sache abzuschließen, wurden sogar Schnellverfahren eingerichtet. Im Zeichen des Kalten Krieges hatte sich der Straf- und Diskriminierungsgedanke verflüchtigt. Und davon profitierten nicht wenige Belastete, die glimpflicher davonkamen als die minder schweren Fälle, die zu Beginn der Entnazifizierung behandelt worden waren. Ein anderer Vorwurf richtete sich gegen das grassierende Denunziantentum und gegen Korruption, Scheinheiligkeit und die Jagd nach «Persilscheinen» (das waren Bestätigungen von Unbelasteten, mit denen ehemalige NSDAP-Mitglieder ihre Harmlosigkeit dokumentieren wollten). Schließlich war die Spruchkammer als Instanz zur Gesinnungsprüfung – vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus gesehen – ein zweifelhaftes Instrument. Trotz der Unzulänglichkeiten in der Durchführung war die Entnazifizierung notwendig und bis zu einem gewissen Grad sogar erfolgreich.