Leibniz war der Erste, der Peter dem Großen geraten hatte, eine wissenschaftliche Expedition in den Nordpazifik zu unternehmen. 1725, im Todesjahr des Zaren, begab sich die erste Kamtschatka-Expedition unter der Leitung des Dänen Vitus Bering schließlich auf die Reise, kehrte fünf Jahre später allerdings mit enttäuschenden Ergebnissen zurück. Eine zweite Expedition – auch Große Nordische Expedition genannt – verlief erfolgreicher. Deutsche hatten unweigerlich einen großen Anteil an ihr, denn die von Peter dem Großen gegründete Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften wurde von Deutschen dominiert. Der Deutsche Daniel Gottlieb Messerschmidt hatte bereits 1719 – 1727 eine Erschließungsexpedition nach Sibirien unternommen. Deshalb überrascht es nicht, dass der Gruppe, die 1733 zur zweiten Kamtschatka-Expedition aufbrach, der Historiker Gerhard Friedrich Müller und der Botaniker Johann Georg Gmelin angehörten. In ihrem Tross waren Schlitten voller Rheinwein, den die beiden Deutschen auf dem gesamten Weg nach Sibirien tranken. Gmelin sammelte am Baikalsee Pflanzen und veröffentlichte später das Pionierwerk Flora sibirica. Als er und Müller krank wurden und nicht weiterreisen konnten, übernahm ein anderer Deutscher, Georg Wilhelm Steller, der in Wittenberg, Leipzig, Jena und Halle unter anderem Medizin studiert hatte, an Gmelins Stelle die Aufgabe des Naturforschers der Expedition und diente ihr als Arzt. Steller erreichte die Halbinsel Kamtschatka am Pazifik und überlebte einen Schiffbruch vor der später so genannten Beringinsel, starb aber 1746 während der Rückreise in Tjumen in Sibirien. Im Lauf der folgenden dreißig Jahre erschien neben seinen Aufzeichnungen über die Feldforschung auf Kamtschatka auch ein Buch mit dem Titel De Bestiis Marinis, in dem er Meeressäugetiere wie Seekühe und den später nach ihm benannten Seelöwen beschrieb.[1]
Gmelin und Steller standen am Anfang einer langen Reihe deutscher Botaniker und Zoologen, die im 18. Jahrhundert im russischen Reich tätig waren. Sie traten in die Fußstapfen von Daniel Gottlieb Messerschmidt, der bis an den Baikalsee reiste und Europäern zuvor unbekannte sibirische Pflanzenarten sammelte.[2] (Er starb 1735, und Steller heiratete seine Witwe.) Ihnen folgte eine spätere Generation von Deutschen, unter ihnen Gmelins Neffe Samuel Georg Gmelin, der 1766 Botanikprofessor in Sankt Petersburg wurde und auf eine Expedition an den Don und die Wolga sowie ans Kaspische Meer ging, im Kaukasus als Geisel genommen wurde und 1774 mit 30 Jahren in Gefangenschaft starb. Auch seine Reiseaufzeichnungen und meeresbiologischen Studien wurden posthum veröffentlicht. Einer seiner Herausgeber, der Botaniker und Zoologe Peter Simon Pallas, war auch an der Herausgabe von Stellers Werken beteiligt. Pallas war der berühmteste deutsche Naturforscher des 18. Jahrhunderts im russischen Reich. 1767 von Katharina der Großen an die Sankt Petersburger Akademie berufen, leitete er später Expeditionen nach Westsibirien, in den Ural und an den oberen Amur sowie ans Schwarze Meer und auf die Krim.[3]
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts förderten die Herrscher der europäischen Reiche eine bemerkenswerte Anzahl ehrgeiziger Expeditionen mit dem Ziel, die Natur zu erforschen und im Tier-, Pflanzen- und Mineralreich Exemplare von Dingen zu sammeln, die sich als »nützlich« erweisen könnten.[4] Einige waren See-Expeditionen, andere verliefen über Land. Gemeinsam war ihnen, dass sie gemäß der damals vorherrschenden merkantilistischen Wirtschaftstheorie der Bestandsaufnahme von Ressourcen dienten, die möglicherweise ausgebeutet werden konnten. Deutsche spielten bei diesen Unternehmungen eine zentrale Rolle, wobei sie manchmal von einem ausländischen Reich zum nächsten wechselten. Im selben Jahr, in dem Johann Georg Gmelin in Sankt Petersburg eintraf, berief Katharina die Große auch einen anderen Deutschen nach Russland, Johann Reinhold Forster, der 1765 zusammen mit seinem Sohn Georg an die Wolga reiste, um in dem dort jüngst von deutschen Siedlern erschlossenen Gebiet Pflanzen und Tiere zu erforschen, wobei er mehrere neue Arten fand und benannte. Von der Art und Weise, wie sie in Russland behandelt wurden, enttäuscht – Johann Reinhold Forster hatte ein cholerisches Temperament –, gingen er und sein Sohn nach England, wo sie in schwierigen Verhältnissen von Lehrtätigkeiten, Übersetzungen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und einem (nie zurückgezahlten) Darlehen des kommenden Mannes der imperialen britischen Botanik, Joseph Banks, lebten, um dessen Gönnerschaft Forster senior sich eifrig bemüht hatte. Ironischerweise führte Banks’ Verzicht, der sich nach einem Streit zurückgezogen hatte, dazu, dass die Britische Akademie den Forsters anbot, als Naturforscher an James Cooks zweiter Südseereise teilzunehmen. Auf einem Gemälde von Francis Rigaud von 1780 sind beide beim Botanisieren auf Tahiti zu sehen. Georg Forster, damals noch in den Zwanzigern, wurde mit seiner Reisebeschreibung Reise um die Welt berühmt, die sowohl in der englischen Originalausgabe von 1777 als auch in der späteren deutschen Übersetzung ein Bestseller wurde.[5] Banks indessen, der 1787 sowohl Direktor des Königlichen Botanischen Gartens in Kew als auch Präsident der Royal Society war, blieb trotz seiner Erfahrungen mit Forster senior ein Bewunderer der kontinentaleuropäischen Naturwissenschaften und stets auf der Suche nach deutschen Talenten für Unternehmungen, die den botanischen Interessen des britischen Reichs dienten.[6]
Das russische und das englische Beispiel stehen nicht für sich allein. Auch die niederländische Krone beschäftigte deutsche Forschungsreisende. Das bekannteste Beispiel ist Carsten Niebuhr, der als Mathematiker und Kartograf an der dänischen Arabienexpedition der 1760er-Jahre teilnahm, von der er als einziger Überlebender zurückkehrte.[7] Weniger bekannt, aber eher mit den Forsters oder Gmelins zu vergleichen war der preußische Naturforscher Julius von Rohr, ein weiterer Beteiligter an Joseph Banks’ großem Korrespondentennetzwerk. Rohr floh während des Siebenjährigen Kriegs aus Deutschland nach Dänemark, wo er 1757 zum Landvermesser und Bauinspektor von Dänisch-Westindien ernannt wurde, mit dem Auftrag, die Naturgeschichte der Inseln zu erforschen. Er schuf in Christiansted auf St. Croix einen botanischen Garten, schickte Pflanzen von den karibischen Inseln und vom südamerikanischen Festland nach Europa und untersuchte die Bedingungen für den Baumwollanbau auf den Antillen. Er starb auf einer Reise an die westafrikanische Küste, wo er die Möglichkeit einer Plantagenlandwirtschaft erkunden wollte.[8]
Deutsche Naturforscher waren auch überall im niederländischen Weltreich anzutreffen. Zwei von ihnen erlangten bleibende Berühmtheit: Engelbert Kaempfer reiste 1690 als Arzt der Niederländischen Ostindien-Kompanie nach Nagasaki, wo er seiner Leidenschaft für die Botanik nachging. Später verfasste er eine Geschichte japanischer Pflanzen, die weit über alles hinausging, was Europäer zuvor beschrieben hatten.[9] Maria Sybilla Merian, die unabhängig denkende Tochter einer berühmten Familie, war nur wenige Jahre älter. Sie war bereits eine erfahrene Naturforscherin und Illustratorin, als sie für zwei Jahre ins niederländische Surinam ging. Anschließend veröffentlichte sie ihr Buch Metamorphosis insectorum Surinamensium, einen Meilenstein der wissenschaftlichen Insektenkunde. Für die wirtschaftliche Nützlichkeit der Natur hatte sie keinen Sinn. Die Pflanzer in Surinam, beklagte sie, seien an nichts als Zucker interessiert. Und im Unterschied zu anderen Europäern, die bei der Beschreibung ihrer Entdeckungen kein Wort über die indigene Bevölkerung verloren, zollte Merian ihren einheimischen Helfern bei der Pflanzensuche ihren Dank.[10]
Im spanischen Reich waren nichtspanische Forscher lange Zeit nicht willkommen gewesen. Doch dies änderte sich in den 1760er-Jahren, als mehrere aufeinanderfolgende spanische Könige eine ganze Reihe von Expeditionen zur Erforschung der Flora ihrer Kolonien ausschickten.[11] Das bei Weitem berühmteste Beispiel für diese Öffnung ist die Expedition, zu der Alexander von Humboldt 1799 aufbrach und über die er später in seinem mehrbändigen Werk Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents berichtete. Aber schon einer seiner Vorgänger war in spanischen Diensten tätig gewesen, wie es andere in russischen oder britischen waren. Thaddäus Haenke, der manchmal als »böhmischer Humboldt« bezeichnet wird, nahm an der Malaspina-Expedition nach Amerika und in den Pazifik teil. Dabei trug er eine 16-seitige Farbtafel mit Hunderten kleiner, mit Nummern versehener aquarellierter Felder bei sich (heute im Archiv des Real Jardín Botánico in Madrid aufbewahrt). Durch sie sollten die wegen der großen Zahl neuer Pflanzen in Zeitdruck geratenden Botaniker entlastet werden, indem sie die Funde nur zeichneten und die Farben mit Nummern am Rand vermerkten, so dass sie später ergänzt werden konnten.[12] Haenke nutzte diese Tafel beim eifrigen Botanisieren im südamerikanischen Binnenland, an der amerikanischen Westküste von Chile bis Alaska, auf Guam und auf den Philippinen. Haenke, der europäische Entdecker des Mammutbaums, ist ein klassisches Beispiel für die Arbeit eines Linné’schen Naturforschers, der einerseits der Wissenschaft diente und andererseits für seine Finanziers potenziell nützliche Spezies identifizierte.[13]
Titelseite der dritten Auflage und ersten mit französischem Text von Maria Sybilla Merians bahnbrechendem naturgeschichtlichen Werk über die Insekten von Surinam.
Die Zeichnungen, Landkarten, Tafeln, Präparate und Feldnotizen, welche die Naturforscher von Expeditionen mitbrachten, waren ein Mittel, mit dem Europäer ihre Herrschaft über die natürliche Welt behaupteten.[14] Mitteleuropäer waren auf solchen Expeditionen allgegenwärtig, da die deutschen Lande so viele hochgebildete Wissenschaftler hervorbrachten, aber über kein eigenes Weltreich verfügten.[15] Ihr Beitrag zur Erkundung und Erfassung von Welt und Natur war nur ein Aspekt der zentralen, aber weitgehend verborgenen Rolle, die Deutsche im 18. Jahrhundert in den europäischen Reichen spielten. Damals verschärfte sich sowohl geopolitisch als auch kommerziell die Konkurrenz zwischen den Reichen, die vor allem von der Rivalität zwischen Briten einerseits und Spaniern, Niederländern und insbesondere Franzosen andererseits in Europa, dem Mittelmeerraum, Amerika und Süd(ost)asien geprägt war. Der Siebenjährige Krieg (1756 – 1763), der erste wirklich globale Konflikt, war das größte einzelne Versatzstück dieses Kampfs.[16] Die imperiale Auseinandersetzung zwischen europäischen Staaten warf Fragen über ihre Fähigkeit auf, ihren Ambitionen entsprechende politische und fiskalische Systeme aufzubauen, eine Balance zwischen kriegerischer Gewalt und Soft Power herzustellen und den Umgang mit indigenen Völkern zu regeln. Ähnliche Fragen stellten sich für Russland während seines raschen Vorstoßes über den Ural und durch Sibirien an den Pazifik, wo es auf das westwärts drängende chinesische Reich stieß.[17] In den 1770er-Jahren erreichte Russland auch die Nordküste des Schwarzen Meers, wo es das Osmanische Reich herausforderte. Selbst Dänemark hatte mit seinen Besitzungen in der Karibik, an der Westküste Afrikas und in Tranquebar an der indischen Koromandelküste einen Anteil an diesen Aktivitäten.
Deutschland spielte in diesem Wettstreit der Imperien keine Rolle, obwohl es manchmal so aussah, als könnte es in ihn einsteigen. Der im Rheinland geborene Arzt und Gelehrte Johann Joachim Becher warb in den 1660er- und 1670er-Jahren an deutschen Höfen für den Erwerb von Kolonien und die Gründung von Handelskompanien. Während die Holländer den Briten Surinam abnahmen (1667) und die Dänen auf St. Thomas eine karibische Kolonie gründeten (1671), versuchte Becher die Bayern zu überreden, von der Niederländischen Westindien-Kompanie Land in Guayana zu erwerben. Als er damit scheiterte, versuchte er den Grafen von Hanau dafür zu interessieren, an der »Moskitoküste« zwischen Amazonas und Orinoco eine Kolonie zu gründen, doch das Projekt schlug fehl und führte dazu, dass der Graf gestürzt wurde. Für ähnliche Vorhaben warb Becher in den 1670er-Jahren ebenso erfolglos in Wien.[18] Ein Jahrzehnt später ließ Friedrich Wilhelm von Brandenburg an der afrikanischen Goldküste, im heutigen Ghana, den Handelsposten Großfriedrichsburg errichten und gründete die Brandenburgisch-Africanische Compagnie. Aber die Erträge waren mager. Der Wettbewerb war zu groß, es gab zu wenige Schiffe, die zudem schlecht ausgestattet waren, und die Skepsis der Hofkamarilla, die sich gegen den Kurfürsten stellte, zu stark. Sein Enkel, König Friedrich Wilhelm I., der »das afrikanische Kommerzienwesen als eine Chimäre« befand, verkaufte die Kolonie 1720 an die Niederländer.[19] Daneben gab es eine noch kurzlebigere Kolonie auf der dänischen Insel St. Thomas.
Eine neue Möglichkeit ergab sich 1750, als Friedrich Wilhelms Sohn, Friedrich der Große, die Königliche Preußische Asiatische Compagnie gründete, nachdem Preußen den Nordseehafen Emden erobert hatte. Emden, einst ein Zufluchtsort für Religionsflüchtlinge, war jetzt ein Sprungbrett für Handelsbestrebungen. In Amsterdam und London war man über den möglichen Einstieg eines neuen Konkurrenten besorgt. Aber trotz des bescheidenen wirtschaftlichen Erfolgs, der sogar die Ausschüttung einer kleinen Dividende an Investoren erlaubte, endete das Unternehmen im Siebenjährigen Krieg, als Frankreich die Stadt einnahm. Außerdem musste die Kompanie feststellen, dass ihre Schiffe regelmäßig von der britischen Marine durchsucht und beschlagnahmt wurden – so wie es auch der in den 1720er-Jahren in den österreichischen Niederlanden gegründeten Ostender Kompanie ergangen war, die unter dem Druck der Britischen und der Niederländischen Ostindien-Kompanie zusammengebrochen war.[20] Andere deutsche Handelsgesellschaften, wie die 1753 in Emden gegründete Preußisch-Bengalische Compagnie, waren nicht erfolgreicher.[21]
Friedrich der Große stand in dem Ruf, eine unverbesserliche Landratte zu sein. Als »Landlebewesen«, bemerkte er einmal, seien wir es »nicht gewöhnt […], mit Walen, Delphinen, Schollen und Schellfischen zusammen zu leben«.[22] Aber er war auf die harte Tour zu dieser Ansicht gelangt, durch Erfahrung. Angesichts der britischen, niederländischen und französischen Reaktion auf seine Bemühungen war er, als er sein zweites politisches Testament verfasste (1768), überzeugt, dass Preußen der »große Handel« verwehrt sei: Da es nicht über eine Flotte verfüge, könne der Staat Handelsschiffe nicht beschützen. Preußen sei eben eine »Kontinentalmacht«.[23] Der weit gereiste preußische Seemann Joachim Nettelbeck bemerkte in seinen Memoiren resigniert, während des Siebenjährigen Krieges sei »den preußischen Schiffen und Seeleuten, um ihrem Erwerbe nachzugehen, kaum etwas anderes übrig [geblieben], als unter der neutralen Danziger Flagge zu fahren«.[24] Im 18. Jahrhundert waren die großen europäischen Reiche amphibisch, das heißt, sie übten sowohl an Land als auch auf See Macht aus.[25] Dies traf auf Großbritannien und Frankreich ebenso zu wie auf Spanien und die Niederlande und nach Peter dem Großen in zunehmendem Maß auch auf Russland. Aber die deutschen Mächte waren landgebunden.
Dennoch waren Deutsche – und indirekt die deutschen Staaten – bedeutende Akteure in den europäischen Reichen des 18. Jahrhunderts. Dies galt in mehrfacher Hinsicht. Man darf nicht vergessen, dass viele dieser Reiche deutsche Herrscher hatten: Katharina die Große war eine deutsche Prinzessin, was ein Grund dafür war, dass sie an der Sankt Petersburger Akademie deutsche Gelehrte versammelte. Die dänischen Könige kamen aus dem norddeutschen Adelshaus Oldenburg, und diese Verbindung wurde durch die Heirat Friedrichs IV. mit einer deutschen Prinzessin erneut bekräftigt. Ferner gab es die Personalunion der Kronen von Großbritannien und Hannover, die sich in einer für sie prägenden Zeit, welche Historiker gerade erst zu erkunden begonnen haben,[26] auf die britische Identität auswirkte. Während deutsche Naturforscher und andere Wissenschaftler nach Russland strebten, wurden deutsche Kulturgrößen durch einen gastfreundlichen Hof nach Großbritannien gezogen, von dem Komponisten Georg Friedrich Händel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zu dem Maler Johann Zoffany in der zweiten Hälfte. Wo eine Verbindung durch eine gemeinsame protestantische Identität bestand, dienten Deutsche auch als Missionare in anderen Reichen. So missionierten deutsche Pietisten mit dem Segen des dänischen Königs Friedrich IV., und von der englischen Society for the Propagation of Christian Knowledge finanziert, in Tranquebar. Sie lernten Dänisch und dann aus portugiesischen Übersetzungen Tamilisch, hatten bei der Bekehrung indischer Hindus aber nur mäßigen Erfolg. Regelmäßig im Streit mit den Katholiken, denen sie begegneten, und in Handelsposten mit nichtdeutschen Protestanten konfrontiert, schrieben sie viele Bittbriefe um mehr Unterstützung nach Deutschland.[27]
Der sichtbarste Beitrag von Deutschen zu imperialen Projekten anderer Länder folgte einem Muster, das sich in der Hochzeit der portugiesischen und spanischen Reiche herausgebildet hatte. Deutsche dienten in großer Zahl als Soldaten und Seeleute – als imperiale Streitmacht, und zwar insbesondere des britischen, des niederländischen und des französischen Reichs. Das bekannteste Beispiel sind die sogenannten »hessischen Söldner«, jene 32 000 deutschen Vertragssoldaten, die im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776 bis 1783) für die Briten kämpften. Ihren geläufigen Namen erhielten sie, weil das größte Kontingent aus der Landgrafschaft Hessen-Kassel kam; aber die Truppen umfassten auch Einheiten aus fünf anderen deutschen Kleinfürstentümern.[28] Die Soldaten wurden auf dem Rhein ins niederländische Nijmegen gebracht, wo sie sich für die achtwöchige Atlantikpassage einschifften. In Amerika kämpften sie in jedem großen Gefecht des Konflikts, wobei sie regelmäßig über ein Drittel und manchmal sogar die Hälfte der britischen Truppen stellten. Dass es dazu kam, war dem Zusammentreffen zweier Bedürfnisse geschuldet: Die Briten brauchten Soldaten, konnten sich aus politischen Gründen aber nicht dazu durchringen, ein stehendes Heer zu unterhalten. Ein hessischer »Söldner« war nicht nur ein Soldat, sondern ersetzte auch einen Briten, der weiterhin einer einträglichen Tätigkeit nachgehen konnte; zudem konnte er nicht als Kämpfer gegen die Briten angeheuert werden – er war »drei Mann in einem«.[29] Auf der anderen Seite dieses Soldatenhandels besaßen viele deutsche Fürstentümer aus Prestigegründen übergroße Heere, brauchten aber gleichzeitig Geld und waren nicht bereit, den politischen Preis für Steuererhöhungen zu zahlen. Eine Lotterie zu schaffen war ein Ausweg, aber lukrativer war es, Großbritannien gegen Geld Soldaten zu überlassen. Die nach 1776 geschlossenen Verträge waren nur die neuesten in einer langen Reihe von Vorgängern. Schon im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts hatte Großbritannien mit einem Dutzend deutscher Staaten Truppenverträge geschlossen, von Trier über die Pfalz, Hessen-Kassel und Preußen bis Sachsen. Hessische Soldaten halfen bei der inneren Befriedung des britischen Reichs, als sie 1715 an der Niederschlagung der Jakobiten-Rebellion teilnahmen; sie kämpften auf britischer Seite im Spanischen und im Österreichischen Erbfolgekrieg sowie im Siebenjährigen Krieg.[30]
Die ab 1776 in Amerika dienenden deutschen Hilfstruppen wurden mit verschiedenen Mitteln rekrutiert, einige als Söldner, andere durch eine Art Wehrpflicht. Außerdem waren sie, jedenfalls in den Augen britischer Offiziere, von unterschiedlicher Qualität. Oberst Charles Rainsford, der britische Beauftragte, der sie in Holland auf die Reise schickte, bewunderte beispielsweise ein Kontingent aus Ansbach-Bayreuth – »zwei der besten Bataillone ausländischer Truppe, die ich je gesehen habe – jung, groß, gut ausgerüstet und in ausgezeichneter Verfassung« –, während ein Trupp aus Hessen-Kassel – »eine sehr ungleiche Gruppe« – ihn weniger beeindruckte.[31] Die deutschen Hilfstruppen waren überwiegend Protestanten. Sie bestanden aus einem Kern von Berufssoldaten, überwiegend aber aus jungen Männern aus der Unterschicht. Das ist nicht überraschend. Deutsche Fürsten wollten die Einheiten schnell und billig aufstellen, so dass die meisten Rekruten aus den Reihen der Entbehrlichen kamen – aus landlosen Bauernfamilien, dem städtischen Arbeitslosenheer, dem »fahrenden Volk« und anderen Randgruppen. Dies hatte für die Herrscher der »Söldnerstaaten« den weiteren Vorteil, dass sie Männer loswurden, die andernfalls möglicherweise der Armenfürsorge zur Last gefallen oder Unruhestifter geworden wären. So kamen junge Männer aus Dörfern in Hessen-Kassel und Franken nach Amerika, wo sie zu Tausenden fielen oder in Gefangenschaft gerieten. Aber Tausende siedelten sich letztlich auch in dem Land an, in das sie zum Kämpfen gebracht worden waren, fanden unter der Kolonialbevölkerung eine Braut – auch wenn sie, in manchen Fällen, zu Hause bereits eine Frau hatten – und bestätigten unwissentlich, womit ein Parlamentsmitglied in London seine Ablehnung der Entsendung deutscher Truppen nach Amerika begründet hatte: Sie würde dazu führen, »Amerika mit Deutschen zu bevölkern«.[32]
Auch ein anderes Kontingent deutscher Soldaten unterstützte das britische Reich: Offiziere und Mannschaftsdienstgrade der Hannoveraner Armee.[33] Aufgrund der Personalunion zwischen der britischen Monarchie und dem Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg (Hannover) nahmen sie eine Sonderstellung ein. Hannoveraner kämpften in jedem großen Konflikt des 18. Jahrhunderts an der Seite von Briten, häufig in größerer Zahl als diese, und waren, als die Engländer 1756 eine Invasion durch die Franzosen befürchteten, in England stationiert. Dies rief auf beiden Seiten politische Spannungen hervor. In England argwöhnte man, das Arrangement bereichere Hannover, und fürchtete sich vor einem stehenden Heer, das im Ausland beheimatet war. In Hannover glaubte man, ausgenutzt zu werden und Kolonialinteressen zu dienen, die nicht die eigenen waren. Der Hannoveraner Minister in London warnte 1724: »Hannover wird bald eine Provinz Großbritanniens sein, wie Irland es jetzt ist.«[34] Während des Siebenjährigen Kriegs verschärften sich die Spannungen, aber Hannoveraner Soldaten verteidigten weiterhin Außenposten des britischen Reichs. In den 1770er-Jahren waren sie in Gibraltar und auf Menorca stationiert, und 1782 trafen zwei Regimenter als Hilfstruppen der Britischen Ostindien-Kompanie im Zweiten Krieg zwischen Großbritannien und Mysore an der indischen Koromandelküste ein. Spätere Verstärkungen erhöhten die Zahl der Männer, die auf die siebenmonatige Reise geschickt worden waren, auf 2800; es war die größte Gruppe Deutscher, die jemals den Fuß auf den Indischen Subkontinent setzte. Da die Hannoveraner Anwerber ihr Netz über das Kurfürstentum hinaus spannten, gehörten der Truppe auch Hessen, Thüringer und viele andere an.[35]
Für die Niederländer war die Rekrutierung von Deutschen sogar noch wichtiger, und die Zahl der Betroffenen war noch größer. Die Gründe, warum so viele Deutsche als Soldaten oder Seeleute dem niederländischen Reich dienten, waren dieselben, die andere dazu brachten, für das britische Reich zu kämpfen, allerdings mit wichtigen Unterschieden. Zum einen handelte kein deutscher Staat als Vermittler – kein Hessen-Kassel oder Hannover steckte Männer für die Holländer in Uniform; zum anderen war die Zahl potenzieller Rekruten für die niederländische Seemacht aufgrund der engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nordwestdeutschland und den Niederlanden wesentlich größer. Als kleine europäische Nation mit einem weit verteilten Reich waren die Niederlande ständig in Personalnot. Zwischen 1600 und 1800 schickten sie eine Million Menschen nach Übersee – zumeist nach Asien –, zwei Drittel davon im 18. Jahrhundert. Die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC), der Motor des Aufstiegs von Amsterdam und das größte Handelsunternehmen der Welt, beschäftigte in ihrer Hochzeit 40 000 Menschen. Der Bedarf der VOC an Soldaten und Seeleuten war enorm, zumal angesichts der hohen Todesraten auf Schiffen während der siebenmonatigen Fahrt nach Batavia (Jakarta) in Niederländisch-Ostindien – die in der Regel bei einem Drittel der Besatzung lagen.[36] In den 1760er-Jahren wurden jedes Jahr 9000 neue Seeleute und Soldaten angeworben, zur Hälfte Ausländer, überwiegend Deutsche.[37] Im 18. Jahrhundert beschäftigte die VOC insgesamt 150 000 deutsche Soldaten. Aus Batavia wurde berichtet, dort bestehe die »ganze Garnison, sowol an Officieren als Soldaten, […] mehrentheils aus Deutschen«. In den schrumpfenden niederländischen Besitzungen in der Karibik war die Zahl wesentlich kleiner, die Abhängigkeit von Ausländern, insbesondere Deutschen, aber ebenso groß.[38]
Wer waren diese Deutschen und wie kamen sie dazu, sich zum Dienst zu verpflichten? Manche gingen, angezogen von den Versprechungen holländischer Anwerber, mit dieser Absicht in die Niederlande oder wurden als Berufssoldaten eingezogen. Andere kamen aus denselben Gründen in die Dienste der VOC oder der Westindien-Kompanie, die arme Hessen dazu brachte, für die Briten zu kämpfen. Sie wurden aus dem großen Pool der Deutschen, die bereits in den Niederlanden arbeiteten, gefischt. Manche der Matrosen mag es in die Vereinigten Niederlande gezogen haben, weil sie auf Walfängern anheuern wollten, nachdem der Walfang in Regionen wie Friesland im 18. Jahrhundert zurückgegangen war, aber die Bewegung war allgemeinerer Art.[39] Im 17. Jahrhundert waren bereits sechs von sieben Seeleuten in Amsterdam Ausländer, wobei Deutsche das größte Kontingent stellten. Heiratsregister zeigen, dass knapp ein Fünftel der Seeleute, die in der Stadt heirateten, Deutsche waren.[40] Sie waren Teil einer viel umfangreicheren Wanderungsbewegung armer Deutscher, die in dem weit wohlhabenderen Land Arbeit suchten, die dort zudem besser bezahlt wurde. Diese »Hollandgänger« waren Saisonarbeiter; ihre Zahl belief sich im 18. Jahrhundert auf 30 000 im Jahr. Sie kamen aus bevölkerungsreichen Regionen in Nordwestdeutschland, wo Land knapp war und die Protoindustrialisierung noch nicht eingesetzt hatte – aus Ostfriesland, aus Westfalen, Niedersachsen. Die meisten waren Landarbeiter auf Milchhöfen, Torfstecher, Kanalbauer, Werftarbeiter oder Ziegelmacher. Auch weibliche Hausangestellte und sogar Kinder aus den armen Tälern Westfalens, die als Kaminkehrer arbeiteten, schlossen sich der Wanderung in die Niederlande an.[41] Zu den Migranten aus dem Nordwesten gesellten sich im 18. Jahrhundert solche aus dem Rheinland, die derselben Route folgten wie das Holz, das für den Schiffbau in den Niederlanden den Fluss hinunter geflößt wurde. Sie alle stärkten die Infrastruktur des niederländischen Reichs; ein beträchtlicher Teil von ihnen diente ihm in der VOC und der Westindien-Kompanie direkt. Viel ist über die berüchtigten zielverkopers, Seelenverkäufer, geschrieben worden, jene skrupellosen Anwerber oder »Landhaie«, die arme junge Männer in die Arme der Kompanien lockten, indem sie ihnen Unterkunft und Verpflegung anboten und einen Vorschuss zahlten, um sie dann an die Kompanien zu verkaufen. In den großen Hafenstädten – Amsterdam, Rotterdam, Delft und Middelburg – war diese Praxis zweifellos üblich.[42] Aber es war wohl nur ein extremes Beispiel dafür, wie die materiellen Umstände – und übertriebene Hoffnungen – junge Deutsche dazu brachten, sich nach Batavia oder Surinam einzuschiffen.
Als 1780 ein weiterer britisch-niederländischer Krieg ausbrach, der vierte seit 1652, marschierten auf beiden Seiten Deutsche auf. Diese Situation war aus kolonialen Konflikten zwischen Großbritannien und Frankreich im 18. Jahrhundert bereits bekannt. Die Britische Ostindien-Kompanie stützte sich ebenso auf deutsche Truppen wie ihr französisches Pendant. Die Briten nutzten Deutsche als koloniale Garnisonstruppen, und so taten es auch die Franzosen. Diese sonderbare Symmetrie setzte sich im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fort, in dem Frankreich Truppen mit einer großen Zahl von deutschen Soldaten nach Amerika entsandte, die dort zur Unterstützung der amerikanischen Kolonisten gegen britische Truppen aufmarschierten, die ihrerseits zu einem großen Teil aus »Hessen« bestanden. Außerdem waren natürlich auch unter den aufständischen Siedlern Deutsche. Infolgedessen kam es zu Gefechten, in denen in allen drei Heeren auf dem Schlachtfeld große deutsche Kontingente kämpften – im britischen, im französischen und in George Washingtons Kontinentalarmee. Die entscheidende Schlacht bei Yorktown im Jahr 1781 wird deshalb auch »deutsche Schlacht« genannt.[43]
Deutsche Soldaten und manchmal auch Seeleute waren unentbehrliche Stützen des britischen, des niederländischen und des französischen Reichs. Sogar das spanische und das dänische Reich profitierten in bescheidenem Ausmaß von ihrer militärischen Unterstützung; die ersten Verträge über die Bereitstellung von Truppen schloss Hessen-Kassel mit diesen beiden Mächten.[44] Wo immer im 18. Jahrhundert koloniale Interessen auf dem Spiel standen, findet man Deutsche, die rekrutiert wurden, um sie zu verteidigen. Kämpfende Truppen sind die offensichtlichste Stütze von Reichen, aber nicht die einzige. Wie gesehen, dienten deutsche Naturforscher der imperialen Botanik rund um die Welt auf Expeditionen, die in der Regel militärisch organisiert waren. In einem breiteren Sinn mehrten sie das Wissen sowohl über die Natur als auch über indigene Völker, das jetzt zu einer Grundlage der Kolonialherrschaft wurde.[45] Gleiches galt für Missionare – die häufig auch eifrige Botaniker und Ethnografen waren –, obwohl ihr Verhältnis zum jeweiligen gastgebenden Reich – wie im Fall der Naturforscher – nicht immer spannungsfrei war. Diese über fremde Reiche verstreuten Deutschen trugen dazu bei, dass die deutschen Lande den Anschluss an einen immer enger verknüpften Globus nicht verloren. Pietistische Missionare übermittelten ihre Funde in für ihren Umfang berühmten Berichten an ihre Zentrale in Halle. Die Wissenschaftler hatten eigene Netzwerke, so dass die von Deutschen in Sankt Petersburg oder weiter östlich zusammengetragenen Informationen schließlich ihren Weg zurück sowohl zu den deutschen Wissenschaftszentren als auch zu den Gelehrten in London, Paris und Linnés Uppsala fanden. Zugleich wurden Niebuhr und Georg Forster zu Hause und im Ausland wegen ihrer Reisen gefeiert. In größerer Stille veröffentlichten aus Amerika oder Indien zurückgekehrte deutsche Offiziere Werke, die sich ernsthaft mit diesen Ländern beschäftigten und die deutsche Einstellung zu ihnen mit prägten.
Eine entscheidende Rolle bei der engeren Verknüpfung der Welt spielte der Handel, und deutsche Kaufleute waren jetzt in weit größerer Zahl als in früheren Jahrhunderten entlang der sich verdickenden globalen Kommunikationsarterien aktiv und trugen zu dem bei, was der Philosoph Johann Gottlieb Fichte »Belebung des allgemeinen Verkehrs« nannte.[46] Außerdem waren Kolonisten aus deutschen Landen an der Besiedlung nichteuropäischer Weltgegenden mit Europäern beteiligt. Bringt man sie alle zusammen, die Soldaten und Seeleute, Naturforscher und Missionare, Komponisten wie Händel und Maler wie Zoffany, die Kaufleute und Kolonisten, lässt das entstehende Mosaik erahnen, welche Rolle Deutsche – über Umwege, durch die Hintertür – beim transnationalen Austausch von Gütern, botanischen Präparaten, Menschen und Ideen in der Epoche der Reichsrivalität im 18. Jahrhundert gespielt haben, und zwar an Orten rund um die Welt, von der russischen Pazifik- bis zur indischen Malabarküste, von den spanischen Philippinen bis nach Niederländisch-Ostindien. Aber ihre Rolle war nirgendwo größer als in der atlantischen Welt.
Die atlantische Geschichte, jene der großen Interaktionen zwischen Europa, Afrika und Amerika, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem dynamischen Forschungsgebiet mit eigenen Programmen, Lehrbüchern, Aufsatzsammlungen und Buchpreisen entwickelt. Ihr ist vorgeworfen worden, sie würde der Reichsgeschichte alten Stils nur den Mantel eines neuen Namen überwerfen, um sie akzeptabler zu machen; außerdem fehle es ihr an Kohärenz, immerhin sei der Atlantik kein umschlossenes Binnenmeer wie das Mittelmeer, das der französische Historiker Fernand Braudel so faszinierend wie originell beschrieben habe.[47] Doch die atlantische Geschichte bildet einen nützlichen Rahmen, weil sie dazu veranlasst, Begegnungen der verschiedensten Art zu betrachten – zwischen Europäern und indigenen Völkern, zwischen Europäern verschiedener Nationen und nicht zuletzt zwischen Menschen und Naturwelten. Zu Letzteren gehören auch Krankheiten, denn der »kolumbische Austausch« brachte – neben Kartoffeln und Tomaten – die Syphilis nach Europa, während er umgekehrt Blattern, Windpocken, Masern, Keuchhusten, Scharlach, Typhus, Diphtherie, Cholera und Beulenpest in Amerika einführte, was neun Zehntel der indigenen Bevölkerung das Leben kostete.[48]
Es gab viele unterschiedliche Atlantiks. Da war der Atlantik des Stockfisch- und Walfangs, der sich von Island bis Neuengland erstreckte, aber auch der Atlantik der auf Sklaverei beruhenden Zucker- und Kaffeeplantagen.[49] Es gab einen schwarzen und einen katholischen Atlantik.[50] Die Vielzahl transnationaler Verbindungen und Interaktionen über den Atlantik hinweg ist offensichtlich genug, gleichwohl bleibt das Momentum national bestimmter Geschichte stark. Eine ausgezeichnete Aufsatzsammlung beginnt mit einem Abschnitt über »Neue atlantische Welten«, der fünf Aufsätze enthält, die sich nacheinander mit Spaniern, Portugiesen, Briten, Franzosen und Niederländern beschäftigen.[51] Dabei fehlen natürlich die Deutschen. Der augenfällige Grund ist, dass es keinen »deutschen Atlantik« im Sinne von deutscher Hoheit unterstehenden Gebieten gab. Aber die Deutschen waren dort, und zwar in großer Zahl. Sie bleiben unsichtbar, weil sie sich in Zwischenräumen der von anderen Europäern geschaffenen atlantischen Reiche aufhielten. Um sie zu finden und ihre unsichtbare Geschichte aufzudecken, muss man wissen, wo man suchen muss.
Man stelle sich einen Schnappschuss all der Menschen vor, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Mitte des 18. Jahrhunderts über den Atlantik fuhren. Man sähe auf ihm Seeleute, Soldaten, Ladungsexperten, Kaufleute, Amtspersonen, Siedler, Einwanderungsbeamte, Plantagenmanager, Missionare, Naturforscher, Bergbauingenieure, Ärzte und Kuriere.[52] In kaum einer dieser Berufskategorien waren Deutsche nicht vertreten. Doch dies ist nur ein Standbild von »Welten in Bewegung«, wie der Historiker Bernard Bailyn sie genannt hat.[53] Also setzen wir es in Bewegung und schauen, wohin es uns führt. Ein guter Ausgangspunkt sind die Niederlande, wo viele Deutsche dauerhaft oder vorübergehend lebten. Sie stachen den Torf, der die Energie für die Raffinerien lieferte, die den Zucker von den holländischen Plantagen in Übersee verarbeiteten. Er wurde von Schiffen transportiert, die aus deutschem Holz bestanden, mit deutschen Kanonen bewaffnet und mit deutschen Seeleuten bemannt waren.[54] Dank des preußischen Seemanns Joachim Nettelbeck, der die Reise in der Mitte des 18. Jahrhunderts häufig unternahm, können wir einem dieser Schiffe über den Ozean folgen. Der niederländische Atlantik, über den er segelte, war kleiner als ein Jahrhundert zuvor im goldenen Zeitalter. Neuholland an der brasilianischen Küste hatte man 1654 an die Portugiesen abgetreten und Nieuw Nederland an der Ostküste Nordamerikas zehn Jahre später an die Briten verloren. Die niederländischen Besitzungen bestanden nur noch aus einigen Handelsposten an der afrikanischen Goldküste, den Antillen in der Karibik und einer Reihe von Kolonien an der südamerikanischen Küste zwischen Amazonas und Orinoco – Essequilo, Demerara, Berbice und Surinam.[55]
Surinam war 1758 Nettelbecks Ziel. Dank günstiger Passatwinde brauchte das Schiff von dem holländischen Hafen Texel aus nur zwanzig Tage für die Überfahrt. Nettelbeck blieb acht Monate in Südamerika, lieferte europäische Waren aus, sammelte mit einem sogenannten Punt, einem Flachbodenboot mit Strohdach, Zucker und Kaffee ein und genoss die Gastlichkeit seiner Landsleute. Für ihn waren es »die vergnügtesten Tage meines Lebens«. Das erste Mal war er vier Jahre zuvor in Surinam gewesen, als er als Kanonier auf einem holländischen Schiff angeheuert hatte, mit dessen Kapitän er verwandt war. Als der Steuermann über Bord fiel, wurde Nettelbeck stellvertretender Steuermann, womit eine Karriere begann, die ihn schließlich selbst zum Kapitän eines eigenen Schiffs machte. Während dieses ersten Surinam-Aufenthalts lernte er die Hauptstadt Paramaribo und deren Umgebung kennen.[56] Danach besuchte er die niederländische Kolonie viele Male, häufig als eine Station des Dreieckshandels, der Sklaven auf die Zuckerplantagen brachte. Er war beeindruckt genug, um Friedrich den Großen in einem Brief aufzufordern, einen noch von niemandem beanspruchten Landstreifen zwischen Berbice und Surinam zur preußischen Kolonie zu erklären. Doch Friedrich reagierte nicht darauf.
Laut Nettelbeck war Surinam, bis auf den Namen, deutsch: »Eher hätte man Surinam damals eine deutsche, als eine holländische Kolonie nennen können, denn auf den Plantagen, wie in Paramaribo, traf man unter hundert Weißen immer vielleicht neunundneunzig an, die hier aus allen Gegenden von Deutschland zusammengeflossen waren.«[57] Spätere Autoren übernahmen diese Auffassung.[58] Tatsächlich gab es in Surinam einen beträchtlichen deutschen Bevölkerungsanteil, dessen Größe Nettelbeck allerdings übertrieb. Wie in Berbice, Demerara und den Niederländischen Antillen war die Kolonie ein kosmopolitischer Ort, wo Holländer zusammen mit Deutschen, Schweizern, Franzosen, Spaniern, Portugiesen sowie einer kleinen Zahl von Engländern und Skandinaviern lebten, wobei sich die europäische Bevölkerung in den 1780er-Jahren auf nicht mehr als 3400 Personen – von einer Gesamtbevölkerung von 50 000 Menschen – belief. Deutsche waren in allen Schichten vertreten, unter Handwerkern ebenso wie unter Kaufleuten. Viele Plantagenverwalter und -aufseher waren Deutsche, und ihre Zahl nahm nach 1770 zu, da immer mehr Plantagenbesitzer nicht auf ihren Ländereien lebten.[59] Auch unter den Plantagenbesitzern waren Deutsche. Nettelbeck berichtet wiederholt voller Bewunderung von deutschen Erfolgsgeschichten, wie denjenigen zweier Brüder aus Pommern und eines heimwehkranken Wieners, den er auf einer Rückreise nach Europa kennenlernte. Sie alle seien ohne einen Pfennig nach Surinam gegangen und durch »Glück, Fleiß und Rechtlichkeit« zu Reichtum gelangt.[60] Solche Beispiele machten Kolonien für jüngere Söhne, Außenseiter und Glücksritter oder für Eltern, die über ihre nichtsnutzigen Kinder verzweifelt waren, attraktiv. Der einzige Sohn des angesehenen Hamburger Kaufmanns Johann Berenberg schiffte sich 1767 nach Surinam ein; der Senat der Stadt ließ ihn sogar durch eine Wache begleiten, damit er es auch wirklich tat.[61] Ein respektableres Beispiel der Aufwärtsmobilität war der Kaffeeplantagenbesitzer Johann Heinrich Schäfer, der in Deutschland geborene Sohn eines Zimmermanns, der 1714 nach Surinam gegangen war. Der Sohn ließ sich dort in den 1740er-Jahren nieder und hollandisierte seinen Namen zu Jan Hendrik Schaap; seine Plantage, zu der viele weitere hinzukamen, nannte er Schaapstede (Schafstall). Bei seinem Tod im Jahr 1765 hinterließ er ein Millionenvermögen, um das ein sich lange hinziehender Rechtsstreit ausbrach.[62]
Aber es gab auch bekannte deutsche Kaufleute in Surinam, wie die Familie Amsinck, die nicht nur eine Zuckerplantage besaß, sondern auch Handel trieb. Die aus Holland geflohene Patrizierfamilie war im späten 16. Jahrhundert aus Holland geflohen und hatte sich in Hamburg niedergelassen, wo sie zur Kaufmannselite gehörte. Die Familie war über die atlantische Welt verteilt; ein Zweig lebte in Lissabon, wo er im Weinhandel tätig war, ein anderer in London und ging dort Tabakgeschäften nach und ein dritter in Surinam.[63] Zwei Angehörige einer anderen nach Hamburg geflohenen Familie, der hugenottischen Godeffroys, lebten ebenfalls als Kaufleute in Surinam; einer von ihnen heiratete in eine englische Plantagenbesitzerfamilie hinein. Auch die Namen anderer bekannter deutscher Handelshäuser tauchen in diesem Zusammenhang auf. Caspar Voght rühmte sich, als erster Hamburger Kaufmann Kaffee aus Mocha und Surinam, Tabak aus Baltimore und Gummi aus Afrika verschifft zu haben.[64]
Die Mischung aus altem und neuem Reichtum bei deutschen Plantagenbesitzern, Verwaltern und Kaufleuten war auch bei einer besonderen Untergruppe wiederzufinden: Deutsche Juden waren von Anfang an in Surinam anzutreffen. In den 1730er-Jahren gehörten über vier von zehn Plantagen in der Kolonie Juden. Der gegen sie erhobene Vorwurf, sie würden zu vielen Sklaven die Flucht erlauben, veranlasste jedoch viele von ihnen, ihre Plantagen zu verkaufen und sich als Kaufleute in Paramaribo niederzulassen. Deshalb stellten Juden in den späten 1780er-Jahren rund ein Drittel des kleinen weißen Bevölkerungsanteils von Surinam insgesamt, aber rund die Hälfte der weißen Einwohner der Hauptstadt. Die deutschen Juden in Surinam, überwiegend Aschkenasim, bildeten eine kleine Gemeinde, deren Mitglieder zumeist weniger wohlhabend und gebildet waren als ihre sephardischen Glaubensgenossen aus Portugal, die über Brasilien ins Land gekommen waren. Gleichwohl fand man sie unter Plantagenbesitzern, Verwaltern, Kaufleuten und dem Bürgertum von Paramaribo. Im späten 18. Jahrhundert trafen allerdings auch viele arme deutsche Juden in Surinam ein.[65]
Sie waren nicht die einzigen mittellosen Ankömmlinge. Arme Deutsche kamen während des gesamten 18. Jahrhunderts nach Surinam. Um die Vorherrschaft der Zuckerbarone zu brechen und eine Pufferzone gegen die Flucht von Sklaven zu schaffen, ermunterte Gouverneur Jan Jacob Mauricius Kleinbauern, sich in der Kolonie anzusiedeln. Eine Gruppe solcher Kolonisten kam aus dem landhungrigen Südwestdeutschland. Ein Beauftragter aus Surinam, der in Köln geborene Philipp Hack, reiste eigens nach Rotterdam, um sie zu überreden, anstatt ins eigentlich anvisierte britische Georgia in die niederländische Kolonie in Südamerika zu gehen.[66] Sie erhielten kostenlos Land, Werkzeug und Vieh, wurden aber, wie der deutsche Forschungsreisende Albert von Sack während seines ersten Surinam-Aufenthalts (1805 – 1807) schrieb, »vom Klima hingerafft«.[67] Dasselbe Schicksal ereilte deutsche Siedler in anderen Teilen des unwirtlichen niederländischen Atlantiks.[68] Als Soldaten und Matrosen trafen ebenfalls regelmäßig arme Deutsche ein. Deutsche stellten drei Viertel der Garnison.[69] In Berichten über Expeditionen zur Verfolgung entflohener Sklaven tauchen ständig Namen wie Creutzer, Dorig und Frick auf. Manche der Soldaten blieben nach dem Ende ihrer Dienstzeit in Surinam und suchten sich eine Arbeit auf den Plantagen, andere zogen weiter, wie es auch andere Siedler taten, ob nun in eine andere niederländische Kolonie, nach Barbados oder in eine der nordamerikanischen Kolonien. Kaufleute waren nicht die Einzigen, die in der atlantischen Welt in Bewegung waren.[70]
Andere Deutsche in Surinam, wie Handwerker, Kleinhändler und Ärzte, gehörten der Schicht zwischen Plantagenbesitzern und Kaufleuten einerseits und Soldaten andererseits an.[71] 1772 bestellte Gouverneur Nepveu ein Dutzend deutscher medizinischer Werke für seine Kolonie, was auf die Tatsache verweist, dass die meisten Ärzte in Paramaribo und Umgebung Deutsche waren.[72] Auch zwei andere Gruppen kamen in die Kolonie, hatten aber wenig Erfolg. Die eine bestand, was kaum überrascht, aus Bergbauingenieuren und Bergleuten, die im 18. Jahrhundert auf vier Expeditionen ins Inland die Aussichten für den Bergbau erkundeten, aber jedes Mal unverrichteter Dinge zurückkehrten.[73] Die andere Gruppe waren Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine, die ebenfalls einige Fehlstarts erlitten, die freilich tragischer waren als diejenigen der Bergleute. Die erste Herrnhuter Mission nach Surinam, die 1735 dort eintraf, bestand aus nur drei Menschen, von denen einer sofort krank wurde und die anderen beiden nach Europa zurückkehrten. 1738 traf ein weiteres Trio ein, Michael Tannenberger und das Ehepaar Georg und Rosina Berwig. Georg Berwig verdingte sich als Aufseher der Feldsklaven auf der Plantage des Holländers Jan Pieter Visser, seine Frau führte den Haushalt. Weniger als ein Jahr nach ihrer Ankunft wurde Rosina Berwig von Visser derart brutal vergewaltigt, dass sie an den Folgen starb. Als alle Anstrengungen Berwigs, den gut vernetzten Plantagenbesitzer vor Gericht zu bringen, fehlschlugen, verließen er und Tannenberg voller Abscheu die Kolonie. 1740 traf eine etwas größere Mission in Surinam ein, die fünf Jahre durchhielt, aber letzten Endes aufgrund innerer Zerwürfnisse und äußerer Anfeindungen ebenfalls abgebrochen wurde. Erst eine vierte Mission konnte sich schließlich etablieren und ihr Ziel, Konvertiten zu gewinnen, verfolgen.[74]
Bei indigenen Kariben und Arawak sowie schwarzen Sklaven und ehemaligen Sklaven, den Maroons, hatten die Herrnhuter einigen Erfolg. Aber sie konnten im 18. Jahrhundert nie mehr als 600 Anhänger gewinnen. Die Reaktionen auf ihre Tätigkeit spalteten sich an ökonomischen, politischen und nationalen Bruchlinien. Die Plantagenbesitzer standen ihnen, wie kaum anders zu erwarten, ablehnend gegenüber, ebenso die niederländische reformierte Geistlichkeit. Mehr Sympathie brachte die örtliche jüdische Gemeinde ihnen entgegen, einschließlich der jüdischen Plantagenbesitzer. Die Haltung der aufeinanderfolgenden Gouverneure wechselte. Einerseits waren sie, wie der Fall Visser zeigte, nicht geneigt, gegen mächtige Figuren vorzugehen. Solange der Konflikt mit den unabhängigen Maroon-Gemeinden, die Gebiete flussaufwärts kontrollierten, fortdauerte, misstrauten sie außerdem den Absichten der Herrnhuter. Aber nachdem Anfang der 1760er-Jahre ein Waffenstillstand mit den Maroons ausgehandelt worden war, sah man in den Herrnhutern mögliche Verbündete, die helfen konnten, ansonsten feindselig gestimmte Maroons zu bekehren. Darüber hinaus konnten sie aus Sicht der Gouverneure im Kampf gegen die Macht der Zuckerbarone nützlich sein. Die Herrnhuter lösten heftige Reaktionen aus. Albert von Sack pries ihr »gutes Werk« unter den Indianern, während der Engländer John Gabriel Stedman, der in den 1770er-Jahren als Soldat in Surinam diente und einen klassischen Bericht über die Kolonie verfasst hat, für die »heuchlerischen Herrnhuter« nur Verachtung übrighatte.[75] Stedmans Äußerung dürfte seine eigene moralische Ambivalenz widerspiegeln, denn einerseits lehnte er die Sklaverei strikt ab, ging andererseits aber in seiner – von William Blake illustrierten – Darstellung ihrer Grausamkeit über seine regelmäßigen sexuellen Kontakte mit indigenen Frauen hinweg oder verklärte sie.[76] Sacks Einstellung wiederum könnte von seiner Sympathie mit den Herrnhutern als eifrigen Botanisierern, die Pflanzen sammelten, botanische Gärten anlegten und Präparate nach Europa schickten, eingefärbt sein.[77]
In Surinam sind en miniature einige der vielen Mittel und Wege zu sehen, wie Deutsche am Aufbau der atlantischen Welt mitwirkten. Zoomt man aus dem Bild heraus, sieht man, dass sich das gleiche Muster, wenn auch mit Variationen, anderswo wiederholt. Es gab drei Gruppen von Deutschen, denen man auch außerhalb von Surinam immer wieder begegnet: Missionare, Kolonisten und Kaufleute. Andere Gruppen fehlten weitgehend in dieser kleinen, von Moskitos geplagten, kosmopolitischen, aber von rassistischer Gewalt geprägten Kolonie. Es gab weder Drucker noch Verleger oder Buchhändler, wie man sie in Städten wie Philadelphia und in kleiner Zahl im spanischen Amerika findet. Auch von der kulturellen Diaspora, der man etwa in der Metropole London begegnet, der neuen Heimat deutscher Naturwissenschaftler, Gelehrter und Künstler, ist keine Spur vorhanden. »Es ist kaum zu viel gesagt«, schrieb der englische Musikhistoriker Charles Burney 1773, »wenn man feststellt, dass die besten deutschen Musiker der Gegenwart, mit wenigen Ausnahmen, außerhalb des Landes zu finden sind.«[78] In London lebten Hunderte deutscher Musiker – Komponisten, ausübende Musiker, Musikverleger und Lehrer.[79] Der deutsche Beitrag zum »Gelehrtenatlantik« bestand in Surinam hauptsächlich aus einigen bücherliebenden Ärzten und den Herrnhutern.[80] Doch dies ist eine ungenaue Formulierung, denn die Herrnhuter waren nicht nur Missionare, sondern noch vieles mehr. Das Netzwerk, das sie aufbauten, fügte sich als ein weiterer bedeutender Informationskanal in die atlantische Welt ein.
Die in den 1720er-Jahren von Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gegründete Herrnhuter Brüdergemeine war ein spektakuläres Beispiel für die Erneuerung des Evangelikalismus im 18. Jahrhundert. Ausgangsort war Herrnhut in Sachsen, aber nach der Vertreibung im Jahr 1738 gründeten sie zwei neue Siedlungen im Bergland nördlich von Frankfurt am Main, das schon lange eine Zuflucht für radikale religiöse Flüchtlinge war. Später kehrten sie nach Herrnhut zurück; in der Lage zu sein, rasch zu packen und woanders hinzuziehen, in Bewegung zu sein, gehörte zum Herrnhuter Lebensstil. Schon vor der Vertreibung aus Herrnhut waren missionierende Brüder in die atlantische Welt ausgeschwärmt. Es entstanden Missionen in Europa, Afrika, der Karibik und Nordamerika. Das Ehepaar Johannes und Johannette Maria Kimbel Ettwein vermittelt einen Eindruck davon, was dies für die Betreffenden bedeutete. Beide hatten sich in jungen Jahren den Herrnhutern angeschlossen und waren in die Niederlande gegangen. Nachdem sie 1746 geheiratet hatten und zu Diakonen geweiht worden waren – die Herrnhuter glaubten an die spirituelle Gleichheit von Mann und Frau –, bauten sie in den nächsten zwanzig Jahren in den Niederlanden eine neue Gemeinde auf, wurden nach London geschickt und reisten mit ihrer wachsenden Familie zwischen England und Deutschland hin und her. Dann wurden sie nach Bethlehem in Pennsylvania entsandt, dem amerikanischen Hauptsitz der Herrnhuter, von wo sie in eine neue Siedlung im ländlichen North Carolina wechselten, um schließlich nach Bethlehem zurückzukehren.[81]
Die Herrnhuter standen nicht nur für den deutschen Teil der angloamerikanischen Erweckungsbewegung dieser Zeit, sie gehörten auch zu ihren Initiatoren. Der künftige Methodistenführer John Wesley lernte die Herrnhuter 1735 mitten auf dem Atlantik während seiner Überfahrt nach Amerika kennen und war so beeindruckt von ihnen, dass er Deutsch zu lernen begann. Während der scheinbar endlosen Tage an Bord unterhielt er sich manchmal stundenlang mit ihnen.[82] Er lernte sie noch besser kennen, als er, während er in Georgia predigte, ihre Lieder ins Englische übertrug. Drei Jahre später, wieder in England, gehörten er selbst, sein Bruder Charles und George Whitefield – ebenso wie die Eltern von William Blake – der von Herrnhutern in London als Gebets- und Gemeindeorganisation gegründeten Fetter Lane Society an. Peter Böhler von den Londoner Herrnhutern kann sich zumindest zum Teil das Verdienst anrechnen, Wesley zur Konversion bewogen zu haben.[83]
Die Herrnhuter brachten ihre Botschaft auch zu den indigenen Völkern Amerikas und den schwarzen Sklaven auf den Zuckerinseln und in Nordamerika, häufig – wie in Surinam – zum Ärger örtlicher Plantagenbesitzer, wenn sie Sklaven das Lesen und Schreiben beibrachten. »Mach meine Neger nicht zu Pietisten, oder du weißt, was ich tun werde«, wurde der Herrnhuter Missionar Friedrich Martin auf St. Thomas von einem Pflanzer gewarnt.[84] Infolge dieser Anstrengungen und trotz Drohungen sowohl gegen Missionare als auch gegen Sklaven gehörte die Mehrheit der schwarzen Protestanten im späten 18. Jahrhundert den Herrnhutern an. Ihre Überzeugung, dass alle Seelen gleichermaßen der Erlösung wert waren, brachte die Herrnhuter an die Schwelle eines radikal egalitären Rassenbegriffs. Doch sie unterließen den letzten, entscheidenden Schritt, da sie sich nicht von der Vorstellung einer »Heidennatur« und der angeblichen biblischen Rechtfertigung der Sklaverei zu lösen vermochten – was natürlich auch vor dem Hintergrund der regelmäßigen Mahnungen imperialer Machthaber, Grenzen nicht zu überschreiten, zu sehen ist.[85] Gleichwohl beobachteten die Herrnhuter, wie die Jesuiten vor ihnen, Erscheinungsbild, Sprache und Kultur der Nichteuropäer, die sie bekehren wollten, ebenso aufmerksam wie die Flora und Fauna der Länder, in denen sie Missionen errichteten. Sie hielten alles fest und schickten umfangreiche Berichte, Tagebücher und Briefe nach Deutschland zurück, wo sie archiviert und in den Gemein-Nachrichten, der Zeitung der Herrnhuter, Auszüge aus ihnen veröffentlicht wurden.[86]
Die Herrnhuter waren nur ein Teil der unbändigen protestantisch-evangelikalen Neubelebung, die im 18. Jahrhundert von Europa aus den Atlantik überquerte. Ein buntes Spektrum deutscher Gruppen gründete Gemeinden in Amerika: Dunkers, Mennoniten, Schwenkfelder, Pietisten. Trotz ihrer Unterschiede hätten sie alle Zinzendorf darin zugestimmt, dass ihre Religion eine des Herzens sei, hoch emotional und sehr persönlich. Dies drängte sie dazu, ihre Erlösungserfahrung in Briefen und persönlichem Zeugnis mit Gleichgesinnten zu teilen, mit der Folge, dass sie Teil eines transatlantischen Netzwerks wurden, das die amerikanischen Kolonien, insbesondere Pennsylvania, mit Deutschland und manchmal auch England und den Niederlanden verband.[87] Die evangelikale Erweckung sollte deshalb auch nicht als »Einfluss« eines europäischen Zentrums auf eine koloniale Peripherie, sondern als Ideenzirkulation in der atlantischen protestantischen Welt gesehen werden.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Korrespondenz zwischen frühen lutherischen Pietisten in Preußen und gleichgesinnten Briefpartnern in London und Boston. Der Austausch zwischen dem Pietisten August Hermann Francke, dem Neuengländer Puritaner Cotton Mather und anderen ähnelte einer »Art transatlantischer Echokammer« für Ideen und Praktiken. Mather betrachtete diese expandierende Welt der Kommunikation mit Freude: »O weiter Atlantik, du sollst nicht im Weg sein als Hindernis all dieses Verkehrs.«[88] Diese Begeisterung aus Neuengland bezeugte das bemerkenswerte Netzwerk der Pietisten, und viele Herrnhuter, einschließlich Zinzendorfs, kamen aus dieser Tradition. Den Mittelpunkt des pietistischen Netzes bildete Halle, wo die Pietisten Bildungseinrichtungen, eine Druckerei und ein Waisenhaus betrieben. Ihre Missionare bemühten sich von Sibirien über Malabar bis auf die andere Seite des Atlantiks, Konvertiten zu machen. Die Pietisten unterhielten ein umfangreiches Kuriersystem und brachten sowohl Bibeln als auch Arzneimittel in die Neue Welt. Mit den Herrnhutern teilten sie ein intensives botanisches Interesse. Die Schlüsselfigur des nordamerikanischen Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts war Henry Melchior Mühlenberg, ein Botaniker mit einem Abschluss der Universität Göttingen, der nach einem Bekehrungserlebnis zur theologischen Ausbildung nach Halle gegangen war.[89] Wie die Herrnhuter waren die Pietisten im späten 18. Jahrhundert am zunehmenden atlantischen Austausch von Büchern, Kupferplatten sowie botanischen und landwirtschaftlichen Präparaten beteiligt.[90]
Dieser Austausch schloss auch Menschen ein. 1742 erwarben die Herrnhuter ein erstes eigenes Schiff, um Brüder unter Umgehung des profanen Auswandererverkehrs über den Atlantik bringen zu können. So wurde es Gemeinden möglich, als organisierte Gruppe mit Herrnhuter Pastoren und Mannschaften zu reisen, wie gewohnt täglich an Bord einen Gottesdienst abzuhalten und den von irreligiösen Mitreisenden ausgehenden Gefahren auszuweichen. Im Lauf der Zeit wurden die Schiffe der Herrnhuter überwiegend für Handelszwecke benutzt, für einen »Handel, den der Herr weihen und segnen kann«, wie es einer von ihnen ausdrückte.[91] Ein anderes Muster entwickelte sich aus ähnlichen Anfängen bei einer eng verknüpften Gruppe von Quäkern, Mennoniten und pietistischen Kaufleuten in Großbritannien, Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden, die im späten 17. Jahrhundert zu kooperieren begannen und gemeinsam Hilfsleistungen für verfolgte Glaubensgenossen organisierten, unter anderem ihre Verschiffung an einen sicheren Ort. Zu diesem Netzwerk gehörte unter anderen Benjamin Furly, William Penns Agent in Europa. Aus diesen Anstrengungen entwickelte sich die Verschiffung von Deutschen und Schweizern über den Atlantik.[92] Eines der ersten Ergebnisse dieser Hilfstätigkeit war die Gründung der ersten rein deutschen Ortschaft in den nordamerikanischen Kolonien, Germantown in Pennsylvania, durch den Rechtsanwalt Daniel Pastorius.[93] Diese Atlantikbrücke wurde bald zu einer festen Einrichtung, wobei die Hilfestellung für Glaubensgenossen zu einem Spezialgeschäft holländischer und englischer Kaufleute in Rotterdam wurde, die Migranten durch den Rheinkorridor in die Niederlande und von dort in die Quäker-Stadt Philadelphia lotsten. Es war der »Prototyp einer transatlantischen Massenmigration«, der zwischen 1683 und 1775 rund 120 000 deutschsprachige Auswanderer nach Nordamerika brachte, mit dem Höhepunkt in den Jahren zwischen 1730 und dem Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs 1756.[94]
Das waren keine kleinen Zahlen. Der Strom von Deutschen über den Atlantik hatte die gleiche Größenordnung wie die britische und die irische Auswanderung in die amerikanischen Kolonien im 18. Jahrhundert. Es war ein neues Ziel von Menschen, die schon lange bereit waren, ihre Heimat zu verlassen, und dies seit dem späten 17. Jahrhundert bereits in großer Zahl getan hatten. Die Einwohner des Heiligen Römischen Reichs waren, entgegen ihrem Ruf, eine »statische«, vorindustrielle Gesellschaft zu sein, ausgesprochen mobil. Immerhin wechselte einer von drei Erwachsenen im Lauf seines Lebens den Wohnort.[95] Die meisten legten dabei nur kurze Entfernungen zurück, aber das galt nicht für alle. Zwischen den 1680er-Jahren und dem späten 18. Jahrhundert ließen sich rund 300 000 Menschen aus anderen Teilen des Heiligen Römischen Reichs und der Schweiz in Preußen nieder. Manche der so entstandenen Siedlungen, von denen viele in neu erschlossenen Feuchtgebieten lagen, erhielten Namen wie Florida, Saratoga oder Philadelphia – Anspielungen auf ein imaginiertes Amerika.[96] Hunderttausende andere zogen in weitere Ferne, nach Polen, Russland oder ins südungarische Banat, wohin die Habsburger Monarchie Land suchende deutsche Bauern einlud, die dort als Kolonisten ihre Südostflanke gegen das Osmanische Reich sichern sollten.[97] Zwischen 1711 und 1750 wurden im Banat 800 deutsche Dörfer gegründet. Andere Deutsche emigrierten an die europäischen Ränder der atlantischen Welt – in die Niederlande, wie gesehen, und nach Großbritannien. Von den 13 500 deutschen Flüchtlingen, die 1709 in der Hoffnung nach England kamen, nach South Carolina weiterreisen zu können, ließen sich 3000 schließlich als protestantisches Bollwerk an einer anderen Reichsflanke, in Irland, nieder. Tausende andere Auswanderer aus Südwestdeutschland siedelten sich in Spanien an, nachdem der geschäftstüchtige frühere Soldat Johann Kaspar Thürriegel König Karl III. davon überzeugt hatte, dass sie die innere Kolonisierung seines Landes voranbringen würden.[98]
Manche deutschen Kolonisten überquerten den Atlantik mit Zielen in der Karibik oder auf dem nahe gelegenen Festland. Einige von ihnen gingen, wie gesehen, erfolglos nach Surinam. Ein besonders tragischer Fall, der sich als eine der großen humanitären Katastrophen des 18. Jahrhunderts herausstellte, ereignete sich gleich an der Küste. 1763 versuchte Frankreich die Demütigung im Siebenjährigen Krieg durch eine kühne Tat wettzumachen. Es plante die Gründung einer Kolonie in Kourou in Französisch-Guayana. Dafür umwarb es insbesondere Deutsche, die als gute Kolonisten galten. Ein Prospekt wurde angefertigt, ins Deutsche übersetzt und zusammen mit einer Landkarte der künftigen Kolonie verteilt. Deutschen Interessenten wurden für sie selbst und ihre Familie Lebensmittel, Unterkunft und Kleidung für zweieinhalb Jahre versprochen; sie würden keine Steuern zahlen müssen, und im Krankheitsfall würde man sich um sie kümmern. Außerdem würde man ihnen die Reisekosten nach Rochefort an der Atlantikküste erstatten und sowohl für die Unterkunft dort als auch für die Fahrt nach Guayana aufkommen. Drei Viertel der 14 000 hoffnungsvollen Menschen, die sich in Rochefort einfanden, waren Deutsche. Sogar die Musiker, welche die Auswanderer begleiteten, waren Deutsche: ein Hornist aus Schwaben, ein Gitarrist aus Baden-Baden und ein achtjähriger Harfenist aus Koblenz. Aber das ganze Siedlungsprojekt war ein von Unterernährung und Seuchen geplagtes französisches Fantasiegespinst. Die in Deutschland angeworbenen Möchtegern-Kolonisten waren mit »illusorischen Hoffnungen« verlockt worden, wie der Außenminister Ludwigs XVI. später zugab. Über 13 000 Menschen traten schließlich die Reise nach Kourou an. Mindestens zwei Drittel von ihnen starben. In einer Siedlung am Fluss Approuague trafen im September 300 Deutsche ein, von denen im November nur noch drei lebten.[99]
Was veranlasste die prospektiven Siedler, den Rattenfängern der französischen Krone nach Kourou zu folgen oder sich der Gnade der britischen Krone auszuliefern? Weshalb waren sie bereit, all die Hindernisse zu überwinden, welche die deutschen Staaten Auswanderungswilligen in den Weg legten – die Verbote, Strafen, Gebühren, Anträge und erforderlichen Bescheinigungen?[100] Warum gingen so viele Wanderer zwischen den Welten trotz der Warnung von Bessergestellten, dass die Reise gefährlich und sie zu unternehmen unverantwortlich sei, das Risiko der anstrengenden zweimonatigen Fahrt über den Ozean ein? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Manche Auswanderung war kaum riskant, sondern stellte einen sozialen Aufstieg dar, wenn die Betreffenden nach ihren Fähigkeiten ausgewählt worden waren. Auf die Bergleute, die im Siegerland für die Ansiedlung in Virginia angeworben wurden, oder die deutschen Glasbläser, die dem Angebot ehrgeiziger deutschsprachiger Unternehmer folgten, warteten am Zielort Arbeitsplätze.[101] Aber die meisten Auswanderer waren Bauern oder Handwerker. Manche waren fraglos verzweifelt und von purer materieller Not getrieben. Aber viele ließen sich auch von vermeintlichen neuen Gelegenheiten verlocken. Ihre Entscheidung beruhte, anders ausgedrückt, ebenso auf Pull-Faktoren wie auf Push-Faktoren. Auswanderer waren in der Regel jünger und gebildeter als Nichtauswanderer aus demselben Ort.[102]
Diejenigen, die den Atlantik überquerten, kamen zu einem unverhältnismäßig großen Teil aus bestimmten Regionen des Heiligen Römischen Reichs. In Großbritannien wurden deutsche Emigranten »die armen Pfälzer« genannt, und Benjamin Franklin bezeichnete die Deutschen, die in Pennsylvania ankamen, abschätzig als »Pfälzer Bauernlümmel«. Die Bezeichnung »Pfälzer« war ein Sammelbegriff wie »Hessen«, der nicht nur die Pfalz selbst, sondern auch angrenzende Regionen im Südwesten des Reichs umfasste. Dort waren die Push-Faktoren besonders stark: Der Landbesitz war stark zerstückelt, die Steuern waren hoch, und die feudalen Pflichten wurden immer belastender. Aus dieser Region waren schon lange Menschen nach Preußen oder ins Banat ausgewandert. Amerika bildete, sobald es als Ziel vorstellbar wurde, lediglich eine Erweiterung dieses historischen Musters.
An dieser Stelle kamen die Pull-Faktoren ins Spiel. Nicht unwesentlich war, dass diese Gebiete am Rhein oder in seiner Nähe lagen. Der Fluss war ein Verkehrsweg nicht nur für Deutsche (und Schweizer), die nach Preußen reisten, sondern auch für solche, die nach Rotterdam wollten, dem Ausgangshafen für die Fahrt nach Amerika. Von dort aus hatte sich bis zu den 1720er-Jahren auf dem Wege von Versuch und Irrtum ein Transportsystem herausgebildet, das regelmäßig Deutsche in die Kolonien brachte. Gut drei Viertel von ihnen gingen nach Pennsylvania, aber Deutsche waren auch in New York, Virginia, North und South Carolina sowie Georgia anzutreffen. Ein weiterer Mechanismus, der den Zustrom erleichterte, war ein Kreditsystem, das es weniger bemittelten Migranten ermöglichte, die Überfahrt zu finanzieren. Dieses sogenannte »Redemptioner«-System war ein Tilgungs- oder Loskaufverfahren, nach dem die Auswanderer sich gegenüber den Schiffskaufleuten, die ihre Passage bezahlten, verpflichteten, nach ihrer Ankunft einen unbezahlten Dienst bei ihnen anzutreten, um ihre Schulden zu begleichen. Rund die Hälfte der deutschen Auswanderer versah für zwei bis fünf Jahre einen solchen Dienst.[103]
Amerika wurde zu einem vorstellbaren Ziel, weil sich Nachrichten über das Land verbreiteten. Im frühen 18. Jahrhundert hielten viele Deutsche Pennsylvania und Carolina noch für Inseln; nach 1730 dachten dies nicht mehr viele.[104] Literatur über die fabelhaften Chancen, die Amerika bot, gelangte bis in die Dörfer; es gab sogar örtliche Lieder über sie.[105] Natürlich handelte es sich bei diesen Schriften häufig um begeisterte Berichte, die von Agenten holländischer Schiffseigner, amerikanischer Grundbesitzer oder anderer Kolonialprojekte in Umlauf gebracht wurden. Die deutschen Staaten versuchten nachdrücklich diese Propagandisten von ihrem Territorium fernzuhalten, hatten damit aber wenig Erfolg. Von den Chancen, die Auswanderer in Amerika erwarteten, erzählten auch »Neuländer« – Bauern, Handwerker oder Händler, die bereits ausgewandert und noch einmal zurückgekehrt waren, um ihr Eigentum zu holen und ihre Angelegenheiten zu regeln. Die meisten kehrten nur ein Mal oder gelegentlich zurück, aber es gab berufliche Pendler, die als Vermittler im Dienste anderer fungierten, die Briefe überbrachten, Schulden eintrieben oder sich von Schiffsagenten eine Prämie verdienten, indem sie neue Auswanderer anwarben. In der Mitte des 18. Jahrhunderts war dies – wie die Verschiffung von Auswanderern – zu einem etablierten Geschäft geworden. Es gab Hunderte dieser Vermittler, die in Kolonialzeitungen inserierten und mit Vollmachten Dritter in deren Namen handelten. Wie die Briefe, die sie übermittelten, waren die Neuländer selbst eine erstklassige Quelle von Informationen sowohl über Amerika als auch, beispielsweise, über den richtigen Zeitpunkt für die Reise – das Frühjahr, um vor den atlantischen Winterstürmen anzukommen.[106]
Werber, Agenten und Neuländer trugen allesamt zur Kanalisierung des Stroms der Auswanderer bei, die zumeist eine materielle Verbesserung ihres Lebens anstrebten – und häufig erreichten. Aber die Auswanderung wurde manchmal auch von religiösen Netzwerken organisiert. Dies galt für die von Daniel Pastorius geleitete Ansiedlung Germantown, eine Unternehmung, die darauf ausgerichtet war, ein sündiges Babylon hinter sich zu lassen und ein »neues Kanaan« zu finden. Es traf ebenso für die von den Herrnhutern und anderen protestantischen Sekten gegründeten Siedlungen zu. Pietisten warben ganze Gemeinden für die Auswanderung an. Aber die meisten Migranten waren weder Pietisten noch sektiererische Radikale, sondern Lutheraner oder Reformierte. Die Zahl Ersterer ist auf nicht mehr als 4000 in allen amerikanischen Kolonien geschätzt worden, machte also nur einen winzigen Bruchteil der Gesamtheit deutscher Auswanderer aus.[107] Da deutsche Fürsten die Auswanderung ablehnten, verwiesen Werber gern auf die Vorteile religiöser Freiheit und machten potenzielle Migranten mit der Sprache religiöser Verfolgung bekannt.[108] Manchmal war diese indes real, wie im Fall der 20 000 Protestanten, die der Erzbischof von Salzburg 1731 auswies. Die meisten gingen nach Preußen, aber einige Hundert nahmen die Einladung eines Beauftragten von Georgia an, in diese neue amerikanische Kolonie auszuwandern, wo sie den Ort Ebenezer gründeten.[109] Materielle und religiöse Motive lassen sich kaum trennen. Herrnhuter-Schiffe kombinierten den Transport von Seelen mit dem Handel. Der in Philadelphia ansässige Kaufmann Caspar Wistar, der in New Jersey eine Glasfabrik errichtete und deutsche Arbeiter für sie nach Amerika herüberholte, war sowohl Unternehmer als auch gläubiger Quäker, der mit den Netzwerken von Quäker- und Mennoniten-Kaufleuten in der Pfalz, in Krefeld und Amsterdam sowie in den amerikanischen Kolonien eng verlinkt war.[110]
In der atlantischen Welt begegnet man Tausenden deutschen Kaufleuten wie Wistar, einschließlich verstreuter Einzelner in der Karibik, im niederländischen Surinam, im französischen Saint-Domingue und im dänischen Freihafen von St. Thomas – Letzterer eine bedeutende Zwischenstation für Schiffe auf der Fahrt von oder nach Hamburg und Bremen.[111] Vor allem aber findet man Deutsche an den großen Umschlagplätzen des atlantischen Handels, in London, Amsterdam, Lissabon, Bordeaux und Cádiz. In Bordeaux gab es 1777 rund 225 deutsche Kaufleute, in Cádiz waren es zwischen 1764 und 1791 etwas mehr.[112] Der Grund für die Existenz dieser Diasporas war, dass deutsche Kaufleute, jedenfalls legal, nicht direkt mit den Kolonien dieser Reiche handeln konnten; sie brauchten einen Fuß in der Tür der betreffenden Länder. Die englischen Schifffahrtsgesetze und ihre kontinentalen Pendants machten dies erforderlich.
Deutsche Kaufleute waren bemerkenswert mobil. Peter Hasenclever, zum Beispiel, 1716 am Niederrhein als ältester von zwölf Söhnen eines Remscheider Fabrikanten geboren, arbeitete zunächst für einen Cousin in Burscheid bei Aachen, reiste als Tuchhändler durch Europa und baute Kontakte auf. 1745 ging er mit geborgtem französischem Kapital nach Lissabon, um als Partner in die Firma seines Onkels einzusteigen. Bei seiner Ankunft musste er allerdings feststellen, dass sein Onkel verstorben war, also machte er Geschäfte mit zwei entfernten Cousins. Fünf Jahre später zog er nach Cádiz um, wo er zusammen mit zwei Partnern, von denen einer ein Londoner war, eine Handelsfirma gründete. Als die Partner ausstiegen, machte er zusammen mit zwei Deutschen gute Geschäfte mit dem Verkauf von Textilien in die spanischen Kolonien. In den späten 1750er-Jahren ließ sich Hasenclever, der in Lissabon eine Engländerin geheiratet hatte, in London nieder. Mittlerweile hatte er Geschäftsbeziehungen in alle Teile Europas. Das nächste Unternehmen war jedoch zu gewagt. Er ging 1764 nach New York, gründete ein Unternehmen, das Flachs und Hanf verarbeitete, sowie auf einem felsigen, rund 40 Quadratkilometer großen Areal im nördlichen New Jersey eine Eisenhütte, für die er durch einen weiteren Cousin deutsche Bergleute und Eisenarbeiter anwerben ließ.[113]
Doch eine Mischung aus überzogenem Ehrgeiz und unzuverlässigen Partnern ruinierte Hasenclevers Geschäfte in London und Nordamerika. Den Rest seines Lebens verbrachte er in Schlesien, wo er allerdings weiterhin als Geschäftsmann tätig war und sich – letztlich mit Erfolg – bemühte, seinen Ruf in England wiederherzustellen. Seine Aktivitäten sind in mehrfacher Hinsicht für im atlantischen Handel tätige Deutsche typisch. Zunächst einmal fällt ihre schiere Mobilität ohne Rücksicht auf Ländergrenzen auf. Ferner unterstreicht Hasenclevers Laufbahn die Bedeutung der Familie und ihrer Netzwerke – sowie ihres Kapitals. Die Eigentümer hanseatischer Handelshäuser arrangierten schon lange strategische Heiraten zwischen ihren Familien. Die Kaufmannselite erhob dies gewissermaßen zu einer Kunstform. Die Familie Amsinck aus Hamburg, der wir bereits in Surinam begegnet sind, betrieb Geschäfte in London, Lissabon und der Karibik. Viele deutsche Kaufleute, die sich im 18. Jahrhundert in London niederließen, hatten Verwandte an den bedeutenden Handelsplätzen auf dem Kontinent. Nichtdeutsche zu heiraten, wie Hasenclever es getan hatte, war ebenfalls üblich. Jeder fünfte deutsche Kaufmann in Bordeaux war mit einer Französin verheiratet.[114] Deshalb ist es auch wenig überraschend, dass William de Drusina aus Hamburg beispielsweise, der mit den Amsincks verwandt war, in London in eine aus Maryland stammende Tabakhändlerfamilie hineinheiratete.[115] Auf diese Weise wurden Netzwerke geknüpft und erhalten.
Die deutsche Beteiligung am Atlantikhandel wies ein Muster auf. Ausgeführt wurden Textilien und Fertigwaren, eingeführt »Kolonialwaren«. Die Grundlage von Hasenclevers frühem Reichtum, der Verkauf von Textilien ins spanische Reich, war typisch. Auch andere profitierten von diesem Handel. Ein sogar noch wichtigerer Markt war das britische Reich. Im 18. Jahrhundert kamen zwei Drittel der britischen Textilexporte über den Atlantik ursprünglich aus Deutschland. Dieser Handel verband das mitteleuropäische Hinterland mit der atlantischen Wirtschaft und sorgte in diesen protoindustriellen Gebieten für einen enormen Aufschwung. Schlesisches und hessisches Leinen ist ein gutes Beispiel dafür.[116] Eine Vielzahl von Waren fand ihren Weg aus Mitteleuropa über den Atlantik: Haushaltswaren, Spiegel, Uhren, Waffen. So kamen Eisenwaren aus dem Bergischen Land und Gewehre aus dem Thüringer Wald in den Atlantikhandel. Ein Klischee, das sich hartnäckig gehalten hatte und erst in den letzten Jahren ausgeräumt wurde, stellte eine dünne Schicht hanseatischer Kaufleute, die sich an der »Weltwirtschaft« beteiligten, der großen Masse deutscher Unternehmer gegenüber, die fernab dieser Welt eine »eher biedere binnenländische Existenz« fristeten.[117] Die atlantische Wirtschaft endete nicht an den europäischen Küsten. Aber der deutsche Handel verlief über Küstenhäfen, insbesondere Hamburg. Von Hamburg aus wurden Leinen oder Metallwaren zum Weitertransport nach London, Bordeaux oder Cádiz verschifft. Auf dem umgekehrten Weg gelangten Produkte der atlantischen Plantagenwirtschaft wie Kaffee, Tabak und vor allem Zucker nach Deutschland. 1791 trafen 30 000 Tonnen Zucker in Hamburg ein, die überwiegend via Bordeaux aus den französischen Besitzungen Saint-Domingue, Martinique und Guadeloupe kamen.[118]
Dies verweist auf ein weiteres Hauptelement dieser Atlantikwirtschaft: die Verschiffung versklavter Afrikaner nach Amerika, wo sie auf den Plantagen arbeiten mussten. Dies war die dritte Seite des berüchtigten Dreieckshandels zwischen Europa, Afrika und Amerika. Mehr als sechs Millionen Afrikaner wurden im 18. Jahrhundert nach Amerika gebracht. Drei Viertel der Menschen, die in dieser Zeit den Atlantik überquerten, waren Sklaven, was die Neue Welt demografisch eher zu einer Erweiterung Afrikas als zu einer Erweiterung Europas machte.[119] Deutsche waren direkt oder indirekt an jedem Aspekt des Sklavenhandels beteiligt, was erst heute anerkannt wird. Die Brandenburgisch-Africanische Compagnie handelte mit Sklaven, die sie von Westafrika über Arguin, eine Insel vor der Küste von Mauretanien, in die Karibik transportierte. »Allermaßen«, ließ Friedrich Wilhelm I. von Preußen verlauten, seien »S[einer] C[hurfürstlichen] D[urch]l[aucht] Intention dahin gerichtet, […] der African[ischen] Compag[nie] ohne den Esclaven-Handel auff Amerika nicht emergieren kann, deß man auff der Insel St. Thomas Scklaven […] Handel sollen establieren«.[120] Die meisten Sklaven wurden von dort in französische Besitzungen gebracht, andere wurden auf britische Zuckerinseln oder an holländische Kaufleute auf Curaçao und Sint Eustatius verkauft. Während ihrer relativ kurzen Existenz verschiffte die Brandenburgisch-Africanische Compagnie 20 000 bis 30 000 versklavte Afrikaner nach Amerika.
Die direkte deutsche Beteiligung am Sklavenhandel setzte sich auch nach der Auflösung der Compagnie fort. Deutsche Kaufleute besaßen und rüsteten Schiffe aus, deutsche Bankiers versicherten sie. Andere besaßen Plantagen in der Karibik. Manche waren an mehreren Fronten tätig. Die deutsche Firma Romberg, Bapst & Cie. mit Sitz in Bordeaux stattete zwischen 1783 und 1791 vierzehn Schiffe für den Sklavenhandel aus. Bei diesen Unternehmungen wurden über 4000 versklavte Afrikaner über den Atlantik gebracht. Ein anderer Firmenzweig spezialisierte sich in Gent auf den Sklavenhandel mit Kuba und Saint-Domingue. Ein weiteres Standbein der Firma war die Versicherung von Sklavenschiffen. Als in den 1780er-Jahren der Preis von Sklaven stieg und derjenige von Kolonialwaren sank, ergriff die Firma zudem die Gelegenheit, in finanzielle Bedrängnis geratene Plantagen aufzukaufen.[121]
Gewöhnliche Deutsche nahmen am Sklavenhandel teil, indem sie auf Sklavenschiffen als Matrosen anheuerten, wie Männer von der Insel Föhr, die niederländische Schiffe bemannten.[122] Man weiß von Seeleuten aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, die auf Sklavenschiffen dienten.[123] Insgesamt muss es Tausende solcher Seeleute gegeben haben. Über zwei von ihnen weiß man Genaueres, weil sie Memoiren geschrieben haben. Der aus Franken stammende Schiffsarzt Johann Peter Oettinger befuhr in den Jahren, als die Brandenburgisch-Africanische Compagnie noch im Geschäft war, den Atlantik von Emden aus zur Goldküste und von dort nach Curaçao und St. Thomas. Wie er berichtet, hatten er selbst und andere Mannschaftsmitglieder einen kleinen persönlichen Anteil am Sklavenhandel – Zucker, Tabak, Baumwolle und Arzneimittel, die für sie in St. Thomas in Kisten verpackt wurden. Er beschreibt auch – ohne jeden moralischen Skrupel – die alltäglichen Grausamkeiten des Sklavenhandels, wie die physische Untersuchung der versklavten Afrikaner, an der er persönlich beteiligt war, und ihre Brandmarkung mit dem Zeichen der Compagnie. Dies wog in seinen Augen weniger als etwa ein Diebstahl seines Eigentums.[124]
Der pommersche Seemann Joachim Nettelbeck befand sich in einer anderen Lage. Sieben Jahrzehnte nach Oettinger geboren, lebte er lange genug, um mitzuerleben, wie sich die europäische Einstellung zum Sklavenhandel veränderte. 1771 war er Steuermann eines holländischen Schiffs, das von Amsterdam an die Küste von Guinea fuhr, von dort Sklaven nach Surinam brachte und mit Zucker beladen in die Niederlande zurückkehrte. Einige Jahre später wurde er auf einem englischen Schiff angeheuert, mit dem der gleiche Handel betrieben wurde. Im Alter schrieb Nettelbeck einen sehr defensiven Bericht über seine Beteiligung. »Wie?«, stellt er sich 1820 die erstaunte Reaktion eines Lesers vor, »Nettelbeck ein Sklavenhändler? Wie kommt ein so verrufenes Handwerk mit seinem ehrlichen pommerschen Herzen zusammen?« Er antwortet seinem hypothetischen Leser mit dem Hinweis, dass die Einstellung sich verändert habe: »Aber vor fünfzig Jahren galt dieser böse Menschenhandel als ein Gewerbe, wie andere, ohne daß man viel über seine Recht- oder Unrechtmäßigkeit grübelte.« Nettelbeck bekundet seine »herzliche Freude« über sein Ende oder wenigstens darüber, dass er nur noch »mit heilsamer Einschränkung betrieben« wurde. Sich langsam vom düsteren Kern des Sklavenhandels abwendend, betont er noch, »[b]arbarische Grausamkeiten« gegenüber der »eingekauften Menschenladung« seien »nur in einzelnen Fällen« vorgekommen. Er selbst habe sich nie an ihnen beteiligt. Er beendet seinen moralischen Exkurs mit der beruhigenden Plattitüde, Brutalität und Grausamkeit seien im Leben von Seeleuten allgegenwärtig.[125]
Tritt man einen Schritt zurück, um das ganze Bild zu betrachten, spielten Deutsche eine zentrale Rolle im Sklavereisystem, die über die Beteiligung von Einzelnen hinausging, seien sie nun Seeleute, Schiffseigner, Kaufleute oder Plantagenbesitzer gewesen. Mitteleuropa lieferte viele der Handelsgüter, die in Afrika gegen Sklaven eingetauscht wurden. Da die Nachfrage nach asiatischer Baumwolle in Europa und den europäischen Reichen das Angebot überstieg, ersetzte man es durch deutsches Leinen. Französische Schiffe trafen mit ganzen Ladungen aus »Hamburger Leinen« an der Küste von Guinea ein. Tuche waren nicht das einzige deutsche Handelsgut, das nach Afrika gelangte. Im 19. Jahrhundert fand der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth im Innern des heutigen Nigeria deutsche Rasiermesser, Nähnadeln und Spiegel vor.[126] Von der anderen Seite des Atlantiks berichtete der englische Schriftsteller William Beckford, in Jamaika würden »alle Neger und armen Weißen« deutsches Leinen – »Osnabrughs« – tragen. Ähnliches wurde von Barbados und Saint-Domingue vermeldet.[127] Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Adam Smith in Der Wohlstand der Nationen (1776) Mitteleuropa erwähnt, geht es zumeist um »Leinen aus […] Deutschland« oder »Leinen und andere Waren« aus »einigen deutschen Provinzen«.[128] Diese beiläufigen Erwähnungen erscheinen jetzt in einem weniger harmlosen Licht.
Dies war eine Seite des Sklavenhandels, der Warenhandel. Auf der anderen Seite, der Verschiffung und Verarbeitung der Produkte der Sklavenplantagen, war der deutsche Beitrag nicht geringer. Im 18. Jahrhundert kamen Zucker, Kaffee und Tabak in wachsenden Mengen nach Deutschland, zumeist über Bordeaux oder London nach Hamburg. Die Verbindung London – Hamburg war ein Haupthandelsweg für Tabak aus den Kolonien, wodurch die Stadt und ihr Hinterland zu einem Zentrum der Tabakverarbeitung wurden. Gleiches galt im späten 18. Jahrhundert in zunehmendem Maß auch für Bremen. Die Rückexporte aus der französischen Karibik wurden überwiegend über Bordeaux nach Hamburg weitergeleitet. Der Wert des französischen Außenhandels nahm im Lauf des Jahrhunderts deutlich zu. In den 1770er-Jahren gingen drei Viertel der über Bordeaux abgewickelten Exporte in den »Nordhandel«, was Frankreich zum Hauptlieferanten der Hansestädte machte. Dieser Handel betraf zur Hälfte Zucker und zu einem Fünftel Kaffee.[129] Infolgedessen wurde Hamburg auch zu einem Zentrum der Zuckerraffination und löste Amsterdam auf dem Spitzenplatz in dieser Branche ab. 1727 gab es bereits 200 Raffinerien in der Stadt, in der Mitte des Jahrhunderts waren es 300 – mehr als doppelt so viele wie in Amsterdam und Rotterdam zusammengenommen – und am Ende des Jahrhunderts 400.[130] Hauptkonkurrent war London, wo Deutsche indes einen großen Anteil daran hatten, dass die Stadt zu einem Zentrum der Zuckerherstellung wurde. Manche Zeitgenossen klagten darüber, dass Deutsche das Geschäft beherrschten. Tatsächlich gab es in London viele deutsche Kaufleute, die Raffinerien betrieben oder Anteile an welchen besaßen, und Hamburger Familien standen dabei an vorderster Front. Die aus Deutschland für die körperliche Arbeit herübergeholten »Zuckerkocher« und Arbeiter kamen ebenfalls überwiegend aus dem Elbe-Weser-Dreieck rund um Hamburg und Bremen. Aber nicht alle – manche kamen auch aus dem deutschen Hinterland, insbesondere aus Hannover und Hessen. Es hatte eine gewisse Symmetrie, dass die einen Hessen in Nordamerika für das britische Reich kämpften, während andere dabei mithalfen, die Naschkatzen in dessen Hauptstadt zu befriedigen.[131]
Der Verkauf der sogenannten Hessen war ein Sicherheitsventil für deren Herrscher, ein Mittel, mit dem sie die ländliche Armut exportieren konnten. Auswanderung hatte denselben Effekt, obwohl die meisten deutschen Fürsten sie einzudämmen versuchten. Gleichwohl herrschte in der Pfalz, in Württemberg und anderen Regionen am Oberrhein akute Landknappheit, und Missernten wie diejenigen, die in den 1770er-Jahren Sachsen, Böhmen und Süddeutschland heimsuchten, führten weithin zu Hungersnöten. Nicht mehr als jedes vierte Kind überlebte das erste Lebensjahr, und die Hälfte der davon überlebenden Kinder starb vor dem zehnten Lebensjahr. Wenn Epidemien ausbrachen, waren die Zahlen noch schlimmer. Während in Hamburg Rekordmengen von Zucker und Kaffee – und französischem Wein – aus Bordeaux gelöscht wurden, verglich der schwedische Botaniker Carl von Linné die Stadt mit einer offenen Jauchegrube. Und in Bremen überstieg die Zahl der Toten, während der Handel mit Gütern wie Tabak blühte, in jedem Jahrzehnt zwischen 1740 und 1799 diejenige der Geburten.[132]
Gleichwohl nahm im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa unbestreitbar eine neue Welt des Konsums und der Konsumgüter Gestalt an. Ihre offensichtlichsten Kennzeichen waren die neuen Stimulanzien, aber es waren nicht nur sie. Bücher, Möbel, Teppiche, Uhren, Porzellan, Musikinstrumente, Kinderspielzeuge: All dies gab es jetzt in größerer Zahl, und der Besitz dieser Dinge war in vielen Fällen am Ende des Jahrhunderts breiter gestreut als an dessen Anfang. Am augenfälligsten waren sie an Fürstenhöfen und bei Staatsbeamten, der Kaufmannselite, Selbstständigen und Gebildeten, aber sie begannen auch beim Mittelstand aufzutauchen.[133] Diese Welt des Eliten- und Bürgerkonsums umfasste ganze Bereiche von Kleidung, häuslichem Lebensstil und Freizeit, die Einzelnen und Familien Mittel an die Hand gaben, ihre Identität auszudrücken. Der Konsum wurde ein Gegenstand der Mode, als die Mode selbst sich als starker kultureller Reflex herausbildete. Er war eine Form der Selbstdarstellung am Hof, in Klubs, an jüngst populär gewordenen Treffpunkten wie Theatern, Kurorten und Kaffeehäusern. Als Friedrich Justin Bertuch 1786 eine neue Zeitschrift mit dem Titel Journal der Moden gründete – ab dem zweiten Jahrgang: Journal des Luxus und der Moden –, wandte er sich an dieses Publikum. In der ersten Ausgabe hob er hervor, wie wichtig »Genuss und Glück des Lebens« seien.[134] Die Zeitschrift hatte nicht mehr als 1500 Abonnenten, und wahrscheinlich nahmen viele Deutsche Luxus und Mode nur indirekt auf, indem sie in Zeitschriften und Romanen darüber lasen oder auf der Bühne Beispiele sahen.[135] Aber auch Nachahmung und Ehrgeiz waren Triebkräfte des Konsums.
Viele Konsumgüter kamen aus anderen Teilen Deutschlands oder Europas. Über die deutsche Abhängigkeit von französischer Mode wurde schon lange gespottet.[136] Im 18. Jahrhundert nahmen jedoch sowohl die Abhängigkeit als auch der Spott zu. Andere Konsumgüter – nicht nur Zucker, Kaffee und Tabak – kamen von weiter her, denn im 18. Jahrhundert wurde nicht nur die atlantische Welt zu einer Zone des Austausches, sondern die ganze Welt. Deshalb sprechen Historiker von einem ökonomischen »Weltsystem« oder in jüngerer Zeit von einem Zeitalter »archaischer« oder Proto-Globalisierung.[137] Die Moden der »Kattune«, porzellanenen Chinoiserien, silbernen mexikanischen Teekannen, »Orientteppiche« und der Keramik enthielten ein erhebliches Maß an Exotismus.[138] Die Welle »exotischer« Erwerbungen umfasste, wie schon seit dem 16. Jahrhundert, auch Produkte der Natur. Diese Welt war jetzt für Europäer, deren Kenntnis über sie durch Cooks Reisen und ihre Beschreibung durch Georg Forster bis in den Südpazifik reichte, wahrhaft global. 1777 legte der Mathematiker und Astronom Johann Bernoulli auf seiner Reise von Berlin nach Sankt Petersburg, um dort an der Akademie der Wissenschaften zu arbeiten, einen Zwischenstopp auf dem Gut seines Freundes Graf Otto Christoph von Podewils im Oderbruch ein. Er bewunderte zunächst Podewils’ Bibliothek und seine Sammlung wissenschaftlicher Instrumente, bevor er sich die naturhistorische Sammlung seiner Frau ansah. Sie enthielt Gesteinsproben, Mineralien, Samen, eingelegte Tiere sowie als herausragende Bestandteile die größte deutsche Schmetterlingssammlung unter Glas und einige Muscheln, darunter eben erst in London erworbene aus der Südsee.[139] Seltene »exotische« Muscheln waren bei Sammlern besonders beliebt.[140]
Auch exotische Menschen waren Gegenstände des Konsums, zur Betrachtung ausgestellte Dinge. Manchmal geschah dies in Form von Bühnendarstellungen. Die in Pumphosen gekleideten Paschas aus Opern des 18. Jahrhunderts sind ein Beispiel dafür, obwohl man nicht vorschnell darauf schließen darf, dass es sich dabei immer um negative Vorurteile handelte. Türkische Figuren wurden auf eine Weise gezeichnet, die auf eine gemischte Gefühlslage bei den Komponisten und Librettisten schließen lässt, zu der auch Neugier, Sympathie und sogar Identifikation gehörten. Der »großherzige Türke« war ein gängiges Motiv, mit Mozarts Entführung aus dem Serail als berühmtestem Beispiel.[141] Auch Janitscharenmusik wurde in deutschen Landen ernst genommen. Ihre Spuren fanden sich in Opern und ihre Instrumente in Militärkapellen. Obwohl die »Türkenmode« des 18. Jahrhunderts nicht immer herablassend und verächtlich war, bedeutete sie doch zumindest teilweise die Aneignung einer rivalisierenden Kultur, nachdem die osmanische Herausforderung des Heiligen Römischen Reichs erfolgreich abgeschlagen worden war. Die Faszination von allem Türkischen hatte gelegentlich auch trivialisierende, exotisierende Züge, wie die von verschiedenen deutschen Fürsten angelegten »türkischen« Gärten und die Festlichkeiten mit »türkischem« Thema zeigen, die als Unterhaltungsprogramm einer Fürstenhochzeit am sächsischen Hof in Dresden veranstaltet wurden.[142]
Der exotische Osmane spielt auch bei einer anderen Art des Zeitvertreibs im 18. Jahrhundert eine Rolle: Automaten. Apparate wie der mechanische Flötenspieler und die mechanische Ente brachten ihrem Schöpfer, Jacques Vaucanson, eine Einladung an den Hof Friedrichs des Großen ein. Unter den in dieser Zeit gebauten Automaten waren auch Figuren wie ein Wasserpfeife rauchender Türke. Sinnlichkeit und Genusssucht im Harem oder an der Wasserpfeife waren zentrale Bestandteile des Stereotyps von der osmanischen Kultur. Der wohl berühmteste Automat des 18. Jahrhunderts war der sogenannte »Schachtürke« – der sich als Fälschung herausstellte, da er von einem in dem Apparat versteckten Schachspieler bedient wurde –, zugegebenermaßen eine eher geistige Herausforderung, auch wenn er einen Turban trug, der den orientalischen Exotismus vermitteln sollte.[143] Auch Porzellanfiguren, eines der typischen Luxusgüter des 18. Jahrhunderts, verkörperten Türken. Wiederum ist Vorsicht geboten. Die meisten Porzellanfiguren zeigten Götter und Göttinnen, Putti, Tiere sowie ein breites Spektrum von häufig stark stilisierten Europäern, wie den »stolzen Husaren« oder den »russischen Bauern«. Türken und andere »Exoten« waren vergleichsweise selten.[144] Gleichwohl gehörten zu den in der Mitte des Jahrhunderts von dem begabten und überaus produktiven Meißener Modelleur Johann Joachim Kändler geschaffenen Figurinen ein türkischer Knabe, ein türkischer Pferdedompteur, eine türkische Frau und ein Türke mit einer über die Schulter gehängten Mandoline. Daneben gab es viele andere exotische Figurinen – eine Frau aus Malabar, einen chinesischen Mandarin, eine japanische Dame mit Sonnenschirm.
Eine von Kändlers Figurinen war eine »Dame mit Mohr« von 1745. Im 18. Jahrhundert sind in Deutschland Hunderte Darstellungen schwarzer Afrikaner entstanden, als Porzellanfigurinen, auf Uhren und Gemälden, in Romanen, Theaterstücken und als Silhouetten auf Wappen.[145] Dies alles ähnelte der exotisierten Darstellung von Asiaten. Im Unterschied zu diesen waren Afrikaner im Zeitalter der Sklaverei indes auch Eigentum, Dinge, die gekauft und verkauft wurden.[146] Manche ehemalige Sklaven wurden von Herrnhuter Missionaren nach Deutschland gebracht, wo sie eine europäische Bildung erhielten, andere von Kaufleuten, die ihnen ein Handwerk beibringen wollten. Die meisten von ihnen waren Hausdiener in fürstlichen, sonstigen adligen, militärischen oder wohlhabenden bürgerlichen Haushalten. Wenn sie noch keine Christen waren, wurden sie getauft, wobei ihre Förderer als Paten auftraten. Ein großer Teil von ihnen wanderte zwischen verschiedenen Fürstenhöfen und Adelshäusern hin und her; manche heirateten eine deutsche Frau – was im Gegensatz zu Eheschließungen über gesellschaftliche Klassen hinweg auf keinerlei Widerstand gestoßen zu sein scheint. Die Afrikaner standen – als »edle Mohren« – in hohem Ansehen und wurden freundlich behandelt. Gleichwohl wurden sie, in betont »orientalische« Kleidung gesteckt – insbesondere mit einem Turban auf dem Kopf –, auch als Zeichen des Reichtums und Geschmacks ihrer Herren vorgeführt. Unentrinnbar exotisch lebten sie als bloße Maskottchen unter Umständen, die man als »privilegierte Abhängigkeit« bezeichnen kann.[147]
Besonders an deutschen Fürstenhöfen schätzte man die exotische Ausstrahlung von Schwarzen. Die meisten wurden Diener, Musiker oder Soldaten (für gewöhnlich in Militärkapellen) – und dafür unweigerlich in aufwendige, bunte Uniformen gekleidet. Beispiele dafür sind von den Höfen in Württemberg, Bayreuth und Aurich bekannt.[148] Besonders zahlreich waren sie in zwei Fürstentümern mit engen Verbindungen nach Amerika, weil sie Soldaten dorthin verkauften: Braunschweig-Wolfenbüttel und Hessen-Kassel.[149] Zwei Fälle aus diesen beiden Territorien sind besonders bekannt. Bis auf das unglückliche Ende ihres Aufenthalts in Europa waren sie sehr unterschiedlich. Der frühere Fall war der eines Jungen von der Goldküste, den die Niederländische Westindien-Kompanie nach Amsterdam brachte und dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel zum »Geschenk« machte. Nach seiner Taufe, bei der er zu Ehren des Herzogs und seines Sohnes den Namen Anton Wilhelm Amo erhielt, wurde er freigelassen und Diener des Herzogs – »Kammermohr« – und studierte an den Universitäten von Halle und Wittenberg, wo er 1734 promoviert wurde. Anschließend lehrte er in Halle und später in Jena. Dort schlug ihm jedoch Feindseligkeit entgegen, und er war Gegenstand öffentlicher Schmähungen in einem Theater. 1746 kehrte er nach Westafrika zurück, wo er im folgenden Jahr eintraf (und nach 1753 starb).[150]
Bedrückender waren die Erfahrungen, die eine Gruppe von Afrikanern machte, die Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel nach Deutschland holte und für die er im Park seines Schlosses ein Dorf namens Mou-lang errichten ließ. Die Gebäude dieser »Mohrenkolonie« waren in pseudochinesischem Stil gehalten, und von den Afrikanern erwartete man, dass sie den Boden bestellten; sie wurden gewissermaßen Gegenstand eines doppelten Rassismus. Wegen der exotischen Häuser und der Hautfarbe ihrer Bewohner zog das Dorf Schaulustige aus Kassel an. Wie kaum anders zu erwarten, florierte es nicht. Die Afrikaner waren das örtliche Klima nicht gewohnt und für Krankheiten anfällig, außerdem wurden sie hart behandelt. Einige begingen Selbstmord. Manche der Toten wurden im Namen der Wissenschaft obduziert.[151]
In einem dritten Fall mischten sich Anklänge an Amos Erfahrungen mit solchen an das Schicksal der Bewohner von Mou-lang. Der Westafrikaner Angelo Soliman war zunächst Soldat in Österreich, diente dann mehreren Fürsten in Wien als Kammerdiener und wurde schließlich Prinzenerzieher im Haushalt Franz Josephs von Liechtenstein. Soliman war mit Wiener Adligen und Gelehrten befreundet und gehörte derselben Freimaurerloge an wie Mozart. Anders als Amo ging er nie nach Afrika zurück, sondern starb in Wien. Dort wurde jedoch nach seinem Tod im Jahr 1796 sein – mit Federn ausgestopfter – Körper noch zehn Jahre im Kaiserlichen Naturalienkabinett ausgestellt. Es spricht zwar manches dafür, dass er seinen Körper für diesen Zweck vermacht hatte, doch dies macht die Vorstellung nicht weniger verstörend.[152]
Die meisten Afrikaner in Deutschland waren schön ausstaffierte Ausstellungsstücke an Fürstenhöfen und anderen Eliteeinrichtungen. Die Beschäftigung schwarzer Diener war auf diesen kleinen Kreis beschränkt. Das Gleiche galt für andere Luxusstatussymbole wie Möbel, Glaswaren und Kleidung. Von solchen Dingen wurden allerdings preiswertere Versionen für ein breiteres bürgerliches Publikum hergestellt. Diese Nachahmung war der Grund, weshalb deutsche Fürsten im 18. Jahrhundert sich die Mühe machten, Kleiderordnungen zu erlassen, die festlegten, welche Kleidung für welche soziale Stellung angemessen war; so sollte verhindert werden, dass ein Dienstmädchen mit ihrer Herrin verwechselt werden konnte. Diese Bemühungen prallten aber auf eine Realität, in der Vorschriften und Verbote dieser Art immer schwerer durchzusetzen waren. Andererseits unterschieden sich die materiellen Verhältnisse der »Stände« in Deutschland gewaltig, und sie zeigten sich darin, welche Kleider die Menschen trugen, wo sie sich aufhielten oder was sie sich anschauten, was sie aßen und tranken und von welchen Tellern und aus welchen Tassen und Gläsern sie es taten.
Johann Joachim Becher warb nicht nur für deutsche Kolonien in der Karibik, sondern hatte auch zu diesem Thema etwas zu sagen. In seinem Politischen Discurs von 1668 beschrieb er die positive gesellschaftliche Wechselwirkung von Produktion und Konsumtion: »[D]ie Consumption erhält diese drey Ständ [Bauer, Handwerker und Kaufleute], die Consumption ist ihre Seel, die Consumption ist der eintzige Bindschlüssel welcher diese Stände aneinander bindet und hefftet […].«[153] Neue Konsummuster waren ein Kennzeichen der Warenwelt des 18. Jahrhunderts, und die meisten deutschen Fürsten waren über ihre Folgen weit weniger begeistert als Becher. Es lohnt sich, einen Blick auf die berühmten neuen Waren zu werfen, die damals auftauchten – Tabak, Zucker, Kaffee –, und danach zu fragen, wie diese Produkte des globalen Austauschs konsumiert wurden. Wer nutzte sie wann, wie und mit welchen Folgen?
Nehmen wir zuerst den Tabak. 1627 berichtete der Pfälzer Gesandte in den Niederlanden von einer »aus Amerika nach unserem Europa eingeführten Mode«, die er so beschrieb: »Wüste Menschen pflegen nämlich den Rauch von einer Pflanze, die sie Nicotiana oder Tabak nennen, mit unglaublicher Begierde und unauslöschlichem Eifer zu trinken und einzuschlürfen.«[154] Er schilderte offenbar etwas völlig Neues, und das ist auch keine Überraschung. Die erste Tabakimportfirma wurde erst 1642 in Bremen von dem bekannten Kaufmann und späteren Senator Johannes Lange gegründet.[155] Bis Tabak in diesem Jahrhundert in größerem Umfang importiert wurde, so dass Seeleute als Nebengeschäft mit ihm handelten, dauerte es jedoch noch einige Zeit. Johann Peter Oettinger musste 1693 auf der Rückreise voller Wut miterleben, wie französische Freibeuter die Tabakkisten raubten, die er für den Verkauf in Emden aus St. Thomas mitgebracht hatte.[156] In manchen deutschen Regionen befand sich der Tabakhandel anfangs in den Händen von Minderheiten – von Juden und Hugenotten. Aber als die Einfuhr im 18. Jahrhundert wuchs, stiegen bekannte Hansekaufleute in London in den Handel ein; manche heirateten auch in reiche amerikanische Tabakpflanzerfamilien ein. In dieser Zeit wurden 85 Prozent des nach England importierten Tabaks nach Kontinentaleuropa weitergeleitet, wo Deutschland als Abnehmer nur von Frankreich übertroffen wurde.[157]
Das soziale Leben des Tabaks folgte in Deutschland nicht genau dem Drehbuch für ein Genussmittel aus der Neuen Welt – dass es als Luxusgut auftauchte und dann zu einem Artikel des Massenkonsums wurde. Die ersten Deutschen, die Geschmack am Tabak fanden, waren Seeleute, die ihn kauten. Auch Soldaten genossen ihn und schufen eine enge Verbindung zwischen Soldatentum und Rauchen, die bis weit ins 20. Jahrhundert bestand.[158] Im Wallraf-Richartz-Museum in Köln ist ein Gemälde von Gerard ter Borch d. J. von 1652 ausgestellt – Der schlafende Soldat –, auf dem ein Soldat einem schlafenden Kameraden Tabakrauch ins Gesicht bläst, um ihn aufzuwecken. Im Dreißigjährigen Krieg verbreiteten Soldaten den Tabakkonsum unter der Zivilbevölkerung. Gleichwohl hatte der Tabak auch seine »Elitezeit«, die durch die ungewöhnliche Mode des Tabakschnupfens in der Oberschicht des 18. Jahrhunderts gekennzeichnet war. Wie Schokolade stammte das Schnupfen aus Amerika, kam über Spanien nach Europa, sprang an den französischen Hof über und verbreitete sich von dort auf die vornehme Gesellschaft auf dem gesamten Kontinent, einschließlich der deutschen Höfe und Aristokraten.[159] Das Schnupfen eignete sich gut für zeremonielle Rituale. Noch wichtiger war jedoch, dass es einer Schnupftabakdose bedurfte. Nur wenige Gegenstände waren bessere Symbole für Geltungskonsum. Der ebenso einflussreiche wie modebewusste sächsische Minister und Diplomat Heinrich von Brühl hinterließ bei seinem Tod im Jahr 1763 nicht nur ein von Johann Joachim Kändler eigens für ihn geschaffenes »Schwanenservice«, sondern neben der weltgrößten Sammlung von Meißner Porzellan und einer großen Zahl von Perücken und Hüten auch 600 Anzüge mitsamt 600 passenden Schnupftabakdosen.[160]
Ihren Höhepunkt erreichte die Schnupfmode in den 1750er-Jahren, aber sie hielt sich auch danach noch lange Zeit. Tabak entwickelte sich zu einem Artikel des Massenkonsums. Im 18. Jahrhundert genossen Deutsche, von Bürgern und Studenten bis zu Handwerkern und Bauern, Tabak überwiegend in Pfeifen. Man sieht ihre Tonpfeifen auf zeitgenössischen Kunstwerken, wobei die Raucher zumeist in entspannter Stimmung dargestellt sind. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam jedoch eine neue Möglichkeit des Tabakgenusses auf: die Zigarre. Im spanischen Mexiko wurden Fabriken gegründet, die Tabak sowohl zu Schnupftabak als auch zu Zigarren verarbeiteten. Die größte von ihnen beschäftigte 3000 Menschen. Solche industrialisierten Produktionsstätten für Tabakwaren entstanden auch in Spanien, die erste 1717 in Sevilla. Im Lauf des Jahrhunderts folgten Zigarrenfabriken anderswo, entlang derselben Route, auf der sich Schokolade und Schnupftabak verbreitet hatten – über die Pyrenäen nach Frankreich und Nordwesteuropa. Obwohl London und Amsterdam im 18. Jahrhundert bedeutende Zentren der Tabakverarbeitung waren, besaßen deutsche Lande bald eine eigene Tabakindustrie. Einen Höhepunkt erreichten die deutschen Tabakeinfuhren nach der amerikanischen Unabhängigkeit, aber der Tabak wurde jetzt von Baltimore direkt nach Bremen geliefert, das zum wichtigsten Umschlagplatz für Tabak wurde, und der dort verarbeitete Tabak wurde in zunehmendem Maß zu Zigarren gerollt.[161] Ob nun in der Pfeife oder als Zigarre: Tabak ließ, wenn er von deutschen Bürgern und Unterschichtangehörigen genossen wurde, in ähnlicher Weise neue gesellschaftliche Rituale entstehen, wie er es als Schnupftabak in der Oberschicht getan hatte.
Tabakfabriken entstanden nach den Zuckerraffinerien, aber beide dienten ähnlichen Bedürfnissen. Beide verarbeiteten Produkte der Plantagenwirtschaft. Tabak und Zucker hatten vieles gemein. Sie waren Produkte globalen Austauschs. Beide kamen aus Amerika, wurden nach Europa verschifft und schließlich zu universalen Genussmitteln. Zucker war zuerst in Indien kultiviert worden und hatte sich von dort nach China, Japan und in den Nahen Osten ausgebreitet, bevor er zu Europäern gelangte, die ihn in der atlantischen Welt anbauten. Zucker war eine asiatische Pflanze, die von afrikanischen Arbeitern auf amerikanischem Boden mit europäischem Kapital angebaut wurde.[162] Sowohl Tabak als auch Zucker wurden lange Zeit heilende Kräfte zugeschrieben. Nach der Theorie der vier Körpersäfte entfernte Tabak überschüssige Flüssigkeit aus dem Körper; angeblich wirkte er gegen Verschleimung.[163] Zucker wurde von Europäern der Frühmoderne als Superdroge benutzt, die zum Grundangebot jeder Apotheke gehörte. Angeblich reinigte er das Blut, stärkte Körper und Geist und war nicht nur für die Reinigung von Brust und Lunge gut, sondern auch für Harnblase, Bauch und Augen; er diente als Mittel gegen Erkältung, Husten und Fieber, sogar Wunden sollte er heilen.[164] Für Johann Joachim Becher in seiner Eigenschaft als Arzt war Zucker »der edelste und sueßeste Saft der Erden«.[165] Becher wusste allerdings ebenso, dass Zucker von der Oberschicht auch als Distinktionsmerkmal benutzt wurde – in Form riesiger Zuckerskulpturen oder an Höfen und in Adelshäusern gereichter, aufwendig gestalteter Süßwaren.[166] Auch in dieser Hinsicht glich der Zucker dem Tabak, und wie die Schnupfmode dem Massenkonsum von Tabak in anderer Form wich, entwickelte sich der Zucker von einem Produkt, das eine privilegierte Stellung anzeigte und herausgehobenen Anlässen vorbehalten war, zu einem in enormen Mengen verbrauchten alltäglichen Konsumartikel. Dies ist mit der »Verbreitung des Zuckers nach unten und in die Breite« gemeint.[167]
Die Zehntausende Tonnen Zucker, die im späten 18. Jahrhundert jedes Jahr in Hamburg eintrafen, gingen in die Raffinerien und von dort ins übrige Heilige Römische Reich. Hamburg war das »Kaufhaus ganz Deutschlands«.[168] Die Nebenflüsse der Elbe und die Kanäle, die sie verbanden, ermöglichten den Transport von Gütern in ein Hinterland, das sich von Brandenburg über Sachsen und Thüringen bis nach Böhmen erstreckte.[169] Zucker gehörte zu den »Kolonialwaren«, die jetzt – zumindest in größeren Städten – in neuen, speziellen Geschäften, die ihr Angebot im Namen trugen, verkauft wurden. Wegen seiner kalorischen Energie war er besonders wichtig. Es ist zu Recht hervorgehoben worden, wie bedeutsam kolonialer Zucker für die Ernährung der englischen Arbeiterklasse während der industriellen Revolution war. Er war in der Tat »König Zucker«.[170] Auch in Deutschland trug Zucker zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung bei und stärkte die Protoindustrialisierung in ländlichen Gebieten, wo die Textilherstellung zunahm.[171] Aber es war nicht nur der Zucker. Ein seltener besungenes Produkt amerikanischen Ursprungs, die Kartoffel, verbreitete sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts von westlichen Regionen wie dem Elsass und der Pfalz aus ins übrige Reich. Von Fürsten und Geistlichen beworben, aber von Bauern häufig abgelehnt, erlebte die Kartoffel nach den Hungersnöten der 1770er-Jahre ihren Durchbruch.[172] Der durchschnittliche Kalorienwert der Kartoffel war zweieinhalbmal so groß wie derjenige von Getreide.[173] Aber Zucker, importierter Rohrzucker jedenfalls, bedeutete, dass niemand wählen musste. Zucker aus der Karibik wurde mit deutschen Handelsgütern wie Leinwand bezahlt; der Zucker seinerseits lieferte billige – wenn auch leere – Kalorien für Landarbeiter in protoindustrialisierten Regionen.
Zucker war natürlich nicht nur ein Kalorienlieferant, so wie der Tabak nicht nur ein Nikotinlieferant war. Zucker wurde zu einem Teil des Alltagslebens, um den herum Rituale entstanden. Er war außerordentlich vielseitig. Er konnte kristallin, aber auch flüssig sein; man konnte ihn formen, gießen, färben, löffeln und zerstäuben; er war ein Konservierungsmittel und ein Zusatz in allem Möglichen, von Blutwurst bis zu Kohlgerichten. Zucker wurde für Süßspeisen wie Lebkuchen und Stollen verwendet, die selbst in den bescheidensten Haushalten bei festlichen Anlässen gegessen wurden. Sie enthielten häufig außerdem Gewürze wie Kardamom, Zimt und Nelken, was eine Art umgekehrten Exotismus darstellte, durch den man sich einst seltene Gewürze aneignete, so dass sie schließlich als übliche Zutaten regionaltypischer Speisen angesehen wurden, wie »Dresdner« oder »Aachener« Süßwaren.[174] Der Anstieg des Zuckerverbrauchs ging mit der Verbreitung neuer Küchenutensilien, wie des Stieltopfs, und neuer Tischgegenstände, wie der Zuckerdose und von Teelöffeln, einher. Die Zuckerdosen konnten aus Silber oder feinstem Porzellan bestehen, aber auch aus einfacher Keramik. Auch die Löffel waren höchst unterschiedlich, aber sie hatten alle den Zweck, Zucker als Süßungsmittel in alle möglichen Getränke zu geben, einschließlich Kaffee.
Kaffee war das letzte Genussmittel in dem Trio und wurde oft zusammen mit den anderen beiden genossen. Ursprünglich auf der Arabischen Halbinsel, im Jemen, angebaut, hatte sich der Kaffee im Osmanischen Reich verbreitet. Der Augsburger Arzt Leonhard Rauwulf berichtete in seiner Aigentlichen beschreibung der Raisz, so er vor diser zeit gegen Auffgang inn die Morgenländer […] selbs volbracht (1582), Türken und Araber hätten »ein gutes Getränk, welches sie hochhalten tun. ›Chaube‹ wird es von ihnen genannt.« Auch Kaffee galt anfangs als Arzneimittel. Rauwulf teilte seinen Lesern mit, dass es »gar nahe wie Tinte so schwarz und in Gebresten sonderlich des Magens gar dienstlich« sei.[175] Außerdem glaubte man, dass er das Blut reinigte und bei Wassersucht, Gicht, Koliken und entzündeten Augen half. Mit dieser Wirkungsvielfalt war Kaffee ein ernst zu nehmender Rivale der Lieblingsmedizin der Apotheker, Zucker. Aber auch mit Tabak war Kaffee vergleichbar, denn der Körpersaftlehre zufolge trocknete er übermäßige Verschleimung aus.
Kaffeebohnen kamen auf verschiedenen Routen nach Westeuropa. Venezianische Kaufleute brachten sie wie so viele andere Waren aus dem Osten mit. Der Jemen war auch ein Zwischenstopp der Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC). Die Osmanen hatten bei ihrem Vormarsch ins Habsburgerreich im 17. Jahrhundert Kaffee bei sich und ließen ihn säckeweise zurück, als sie sich nach der gescheiterten Belagerung Wiens im Jahr 1683 zurückzogen. Außerdem pflanzten Europäer Kaffee an, Holländer auf Java in Surinam und Franzosen auf den Antillen. Saint-Domingue war zwar vor allem als Zuckerinsel bekannt, produzierte 1789 aber auch 30 000 Kilogramm Kaffee. Der Kaffee wurde nach Bordeaux verschifft und von dort nach Amsterdam oder Hamburg exportiert. Im 18. Jahrhundert wurde der Kaffeegenuss in deutschen Landen weithin üblich, wenn auch nicht in Form des starken, »türkischen« Kaffees der Osmanen, sondern als leichteres Getränk ohne Kaffeemehl, zu dem manchmal sowohl Milch als auch Zucker hinzugegeben wurde.[176]
Nachlassakten geben Hinweise darauf, wer Kaffee trank. 1775 umfasste das Haushaltsinventar von Margaretha Barbara Tanner, einer Frankfurter Arztwitwe, einen schweren silbernen Kaffeekessel, zwei Kaffeekannen, ein Sahnekännchen, zwei Zuckerdosen und silberne Teelöffel sowie mehrere aus Porzellan gefertigte Kaffeekannen, Zuckerdosen und Kaffeetassen mit Blumenmuster. Außerdem besaß sie diverse Gegenstände für die Zubereitung und den Genuss von Tee und heißer Schokolade. Sie lebte in einem Haus mit 13 Zimmern am Pferdemarkt und war ungewöhnlich reich, aber die Inventare von Kaufleuten, Rechtsanwälten, Beamten und Professoren aus dem 18. Jahrhundert deuten ebenfalls auf regelmäßigen Kaffeegenuss hin. Der Frankfurter Schmied Augustin Geißemer besaß zwar weder eine Silberkanne, um Kaffee einzuschenken, noch teure Porzellantassen, aus denen er ihn hätte trinken können, aber einen Messingkessel, Zinn- und Kupferkannen und einige Tassen.[177] Es gibt Hinweise darauf, dass der Kaffeegenuss in Regionen wie Westfalen und Sachsen im späten 18. Jahrhundert selbst bei Bauernknechten alltäglich geworden war. Es ist kein Zufall, dass dies auch die Regionen waren, in denen damals die Protoindustrialisierung einsetzte. Gleiches gilt für Vorarlberg in Österreich, wo Baumwollweber in den 1780er-Jahren Kaffee getrunken haben sollen. Der Kaffee scheint in dieser Zeit tief in die Konsummuster des Bürgertums und sogar der Unterschicht der kontinentaleuropäischen Gesellschaften vorgedrungen zu sein. Wie in England und Amerika und den Niederlanden stellte die Verbreitung von Kaffee, Zucker, Tabak und einer Vielzahl von Haushaltsgegenständen auch dort die Konsumdividende der sogenannten »Fleißrevolution« dar.[178] Indirekt wird die weite Verbreitung des Kaffeegenusses durch die Anstrengungen deutscher Fürsten belegt, ihn einzudämmen, da der Kaffee wie Zucker und Tabak importiert werden musste und daher aus merkantilistischer Sicht den Abfluss heimischer Mittel bedeutete. Friedrich der Große verurteilte in einem Edikt von 1768 »das zu weit gehende Thee- und Coffee-Trinken der gemeinen Bürger, Handwerker, Tagelöhner und Tagelöhnerinnen, Gesinde, auch Bauern, Cossäthen, Einlieger, Müller und dergleichen«.[179] Überall in Nord- und Westdeutschland, wo der Kaffeekonsum besonders ausgeprägt war, wurden Verordnungen erlassen und Kaffeeimporte mit Steuern belegt. Diese Maßnahmen mögen die Zunahme des Kaffeekonsums verlangsamt haben, aufgehalten haben sie sie nicht, und schon gar nicht umgekehrt.
Die Verbindung der jüdischen Minderheit mit diesem neuen Konsumartikel ist komplex. Der Kaffeegenuss löste einiges rabbinisches Kopfzerbrechen aus, da man keine vergleichbaren Erfahrungen hatte. Manche Rabbis suchten Rat bei ihren Pendants in islamischen Ländern, wo der Kaffee eine längere Geschichte hatte, oder befragten Kaufleute. Im Allgemeinen kamen sie zu dem Ergebnis, dass das Kaffeetrinken erlaubt war, und zwar auch am Sabbat, und bis zur Mitte des Jahrhunderts wurden Kaffee und Kuchen zu einem wichtigen Teil des jüdischen Hochzeitsrituals. Was die jüdische Verbindung zum Kaffee besonders machte, war die Rolle von Armen und Witwen im Kaffeehandel, denn beide gingen mit Kaffee hausieren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In dieser Hinsicht gab es Parallelen zu jüdischen Kleinhändlern von Tabak. Der Kaffee wurde sowohl an jüdische Glaubensgenossen als auch an Christen verkauft, insbesondere auf dem Lande, dessen Bewohner andernfalls kaum welchen hätten kaufen können. Sowohl in Frankfurt am Main als auch in Preußen bemühten andere Händler alte Vorurteile über unehrliche jüdische Geschäftspraktiken, um die Obrigkeit dazu zu bewegen, Juden vom Kaffeehandel auszuschließen.[180] Hier war der Streit über den Kaffee Ausdruck des tiefergehenden Antagonismus zwischen Christen und Juden.
Ähnliches galt für die Kluft zwischen Männern und Frauen. Beide konsumierten in ihrem Zuhause gemeinsam Kaffee, aber nicht in der Öffentlichkeit. Doch was war, wenn Frauen Gelegenheiten für rein weibliche Zusammenkünfte am Kaffeetisch schufen? Im 18. Jahrhundert entstand die »Institution« des wöchentlichen oder sogar täglichen Kaffeekränzchens, die umgehend im Theater verspottet wurde. Zu den Stückeschreibern, die sie auf die Bühne brachten, gehörten solch bedeutende Figuren wie Gotthold Ephraim Lessing und Christian Friedrich Henrici, der unter dem Pseudonym Picander veröffentlichte.[181] Letzterer war nicht nur der Librettist von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, sondern auch von dessen weltlicher Kantate Schweigt stille, plaudert nicht, der sogenannten Kaffeekantate von 1734/35. Dieses Werk ist in Wirklichkeit ein kleines Drama um einen familiären Streit zwischen Herrn Schlendrian und seiner Tochter Liesgen, einer passionierten Kaffeetrinkerin:
»Ei! wie schmeckt der Coffee süße,
Lieblicher als tausend Küsse,
Milder als Muskatenwein.
Coffee, Coffee muss ich haben,
Und wenn jemand mich will laben,
Ach, so schenkt mir Coffee ein!«
In den Augen ihres Vaters ist Liesgens Verlangen nach Kaffee unziemliche Genusssucht und ihre offensichtliche Weigerung, ihm zu gehorchen, nichts als Widerspenstigkeit. Liesgen gibt schließlich nach, als ihr Vater sie davor warnt, dass sie nie werde heiraten können, wenn sie nicht vom Kaffee lasse. Doch die Tochter ist diejenige, die zuletzt lacht, denn sie sorgt insgeheim dafür, dass kein Bewerber über ihre Schwelle kommt, der ihr nicht in einem Heiratsvertrag vorher zusichern würde, Kaffee zu brauen, wann immer sie will.[182]
Das Zimmermann’sche Kaffeehaus im Jahr 1732. In dem in der schicken Leipziger Katharinenstraße gelegenen Kaffeehaus gab das mit Johann Sebastian Bach verbundene Collegium musicum ein- bis zweimal pro Woche Kammermusikkonzerte.
Johann Sebastian Bach war zwei Jahrzehnte lang ein regelmäßiger Besucher des Zimmermann’schen Kaffeehauses in Leipzig, für das er auch die Kaffeekantate komponierte. Musik gehörte, wie das Kartenspielen und Billard, zum Unterhaltungsangebot des Kaffeehauses. Es war eine männliche Bastion. Dort versammelten sich ehrenwerte Geschäftsleute, um Kaffee zu trinken – manchmal auch Tee oder Schokolade, obwohl beides teurer war –, Pfeife zu rauchen, Geschäfte zu machen, Neuigkeiten auszutauschen und über den Zustand der Welt zu diskutieren. Die Institution des Kaffeehauses war im späten 17. Jahrhundert durch den osmanischen Einfluss nach Wien gelangt; in Norddeutschland hatte man das holländische und englische Vorbild nachgeahmt. In kleineren deutschen Städten und in Residenzstädten gab es häufig, wie etwa in Braunschweig, ein einziges, zentral gelegenes Kaffeehaus. In großen Handelsstädten gab es mehrere, aber bei Weitem nicht so viele wie in Amsterdam oder London. 1737 gab es in Wien 37 Kaffeehäuser, in London 550. Hamburg und Leipzig ragten mit ihrer lebendigen Kaffeehauskultur heraus, und doch gab es in Hamburg am Anfang des 18. Jahrhunderts gerade einmal sechs und an dessen Ende nur 32 Kaffeehäuser.[183] Deutsche Kaffeehäuser waren »häuslicher« eingerichtet als ihre Pendants in den Niederlanden und England, was ein Historiker als Zeichen einer zurückgebliebenen Provinzialität gedeutet hat, die auf die deutsche »Nichtteilnahme an der Weltgeschichte bzw. Weltökonomie« zurückzuführen sei.[184]
Diese Annahme ist ebenso falsch wie das auf ihr beruhende Urteil über die deutschen Kaffeehäuser. Es gab zwar weniger von ihnen, aber sie waren alles andere als weltabgewandt beschaulich. Wie anderswo auch war der Strom von Gütern, der deutsches Leinen über den Atlantik schickte und Zucker, Tabak und Kaffee zurückbrachte, Teil einer umfassenderen Expansion des kommunikativen und geistigen Universums. Das Kaffeehaus gehörte neben Freimaurerloge, Lesegesellschaft, Theater und Salon zu den Institutionen, in denen die »Öffentlichkeit« sich zu formieren begann.[185] Es war ein Versammlungsort, der den gesellschaftlichen und politischen Diskurs selbst dadurch beflügelte, dass das Hauptgetränk das Hirn anregte. Dies war ein weiterer Grund, weshalb deutschen Fürsten in den 1770er- und 1780er-Jahren das Kaffeehaus verdächtig war – wie in England Karl II. im vorangegangenen Jahrhundert und muslimischen Herrschern Jahrhunderte vorher Kaffeehäuser in Kairo oder Damaskus. In einer Zeit, in der von der Fürstenherrschaft bis zur Sklaverei alles infrage gestellt und eine neue Welt geboren wurde, hatte das Kaffeehaus zumindest subversives Potenzial – sogar in Deutschland.[186]